Marionetten 1990
Die Liebe zu Schaufensterpuppen
Hörspiel nach Motiven einer Erzählung von E.T.A. Hoffman
(Fragment)
Klara am Klavier
KLARA (singt) Es war ein König in Thule / Gar treu bis an das Grab / Dem sterbend seine Buhle /
Einen goldenen Becher gab. // Es ging ihm nichts darüber / Er leert‘ ihn jeden Schmaus / Die Augen singen ihm …
Tun Sie das Ding weg, Nathanael. Was, ist das für eine Art: Sein Weib betrachten durch ein Perspektiv. Sitz ich Ihnen nicht nah genug
KREISLER: Manchmal glaube ich; daß Sie mir nah, sind, Klara. Dann wieder scheinen Sie entfernt, so daß ich ein solches Gerät benötige, um mich zu vergewissern, daß Sie sind.
KLARA: Acht, Nathaniel, Ihre wechselnden Launen. Gestern erklärten Sie, daß Ihr Fernrohr – Sie erklärten dies mit einer bestimmten Einrichtung des Brennpunktes – in die Distanz zu bringen, was dem‘ Betrachter nah sein. Man sähe die Zukunft.
KREISLER: Sie sehen: Ich drehe es, wie ich es brauche.
KLARA: Dies steht Ihnen zu, denn Sie sind ein Genie. – Es ging ihm nichts darüber / Er leert ihn jeden Schmaus / Die Augen gingen ihm …
KREISLER: Ich bin Werbefachmann: Wieder das Ding! Also: Was sehen Sie?
KREISLER. Am Klavier meine Frau. Am Fenster neben meinem Fenster meine Braut.
KLARA: Und? Was ist mit ihrer Frau?
KREISLER: Meine Frau spielt vom Blatt. Und zwar von dem Blatt, auf dem die Bewegungen, die sie am Klavier vollführt und die Worte, die sie zu mir spricht, vorgezeichnet sind.
KLARA: Daß es das Blatt gibt, auf dem unser Leben vorgezeichnet ist, will ich glauben. Überschätzen Sie sich nicht, wenn sie meinen, es lösen zu können?
KREISLER: Wer vier oder fünf Jahre abends zwischen sechs und sieben hier Ihrem Klavierspiel zugeschaut, Ihrer Stimme gelauscht und gewartet hat, daß die Kinder – was sie tatsächlich jedesmal tun – Gute Nacht sagen kommen, der sieht dieses Blatt, auf dem unsere Wiederholungen vorgezeichnet, der sieht die Hand, in der die Fäden, an denen wir hängen, zusammenlaufen.
KLARA: daß Sie alles einseitig sehen müssen. Natürlich gibt es ein Grundmuster, nach dem sich unsere Tage richten, es ist gleichsam das Rückgrat, es gibt den inneren Halt, auf dem alles andere, die Abwechslungen, aufbauen. Ich sehe es so – was mein Recht ist – mit Blick auf die Kinder.
KREISLER: Gottes Wort in Ihrem Mund: Die Kinder. – Da haben wirs.
Die Kinder
DER JUNGE: Was für ein Schwermütiges Lied Sie sangen, Mamá.
KLARA: Von einem Mann, der einer ist, liebes Kind.
DER JUNGE: Ist dieser Mann Papá?
KLARA: Oh. Dieser Mann ist ein König. Sagst du Papá das Gedicht, daß dir eingefallen ist?
DER JUNGE: Die soll es sagen.
KLARA: Gemeinsam sprecht es, Kinder.
DAS MÄDCHEN UND DER JUNGE: Morgens wenn ich aufsteh / Sitzt Papá im weißen Hemd / Vor dem großen Zahlenbuch / Abends wenn ich niederlieg // Steht Papa im weißen Hemd / Alt und fern den großen Zahlenbuch / Unterm weißen Sehnsuchtsmond
KREISLER: Das ist dir ganz allein eingefallen?
KLARA: Sie meint das Foto in meinem Büro
Das kleine Mädchen: Von mir ist, dass du schon alt bist Papá
Das große Mädchen: Was hast du da?
KREISLER: Da schau durch. Was siehst du? –
Das große Mädchen: Den Sehnsuchtsmond, Papá. Er ist weiß und es ist ganz still.
KLARA: Gib deinem Papá das Instrument wieder, Marie. Und sagt gute Nacht.
Die Kinder: Gute Nacht, Papá. Gute Nacht, Mamá.
klara: Es war ein König in Thule / Gar treu .. – Bleiben Sie doch, Kreisler. Heute einmal. – Was tun Sie denn in ihrem Kabinett. Schreiben Sie einen Roman? Komponieren Sie eine Sinfonie?? Ach, sie sind Alchimist? Machen Gold? Was ist es Kreisler? Sie antworten nicht? Nein! Ja, dann: Gute Nacht, Nathanael. – bis an das Grab / Dem sterbend seine Buhle / Einen goldenen Becher gab. – Wo sind sie, wenn sie … –
KREISLER: Hinter dem Milchglas meines Todes bei uns. Bei dir und mir — Hier stehe ich, im Salon, Klara neben mir, Ehefrau und Mann, seit Jahrhunderten schweigend. Hinter dem Milchglas unseres verlängerten Todes ein Klopfen. Zu ihr schaue ich, reglos, lebt sie, eine Puppe. – Ich bin im Kabinett. Es klopft, ich gehe aufmachen, und ich trete ein. Wirklich, ich bin es: der Gott: Grün schimmernde Anzug, weißes Chemisett, schmale Lippen über spitzem Kinn, hervorstechender Nase. Etwas an mir wundert mich: ein Doppelgähnen, wo ein Mensch Augen hat. Stimme besitze ich, ich bitte um Einlass, gewähre Ihnen stotternd mir. Erinnere mich an ein Namenloses, daß mich begleitet seit meiner Jugend. Und sehe, mit dem Gähnen im Kopf, mich um. Unbekannt, sage ich, kann ich mir ja nicht sein. Weshalb ich gekommen? Ich hätte nicht geglaubt, daß ich: Nicht Mensch, aber was?, zu mir kommen würde. Ich weiß es besser, schüttele das merkwürdige Haupt: Ich habe mich gerufen. Wozu? Eben wollte ich, das war es, mit meinem Heroldstab zwischen den Fingern zu Gott. Nun, da bin ich also, schaue ich Gott, mir, ins Gesicht: Schaue ich Gott, mir, ins Gesicht: Nackt wie ich bin vor mir selbst, meine Blöße nicht bedeckend, mich nicht empfindend, kämpfend gegen die Scham. Ich sehe im Hintergrund von meines, des Gottes, Kopfes, Höhlen, wo Augen sind sonst des Menschen, dies Blau des Himmels. Es ist Leinwand oder Glas, oder doch Äther selbst, davor Gewölk. Klara höre ich unten auf und ab gehen, das kleinere Mädchen singt im Bett, nebenan stellen sie den Aufwasch weg in die Schränke. Dies hörend, und sehend und in meinem, des Gottes, Kopf, der Himmel, verhungere ich zwischen ihnen und mir; ein Esel, dass nicht ich mich teile. Deshalb, sage ich, Gott, der ich sein will, mir. Vor meinem Auge der Schleier: Leiden der Kreatur. Ich will aber nicht leiden. Es wird mir zu schwer, ich wäre am liebsten es los: diese Treue, die Angst ist, zu dieser Frau. Dies sage ich ihm, reglos hier im Salon neben mir; schaue zu ihr, reglos auch sie, eine Puppe. Nicht fallen wir hier aus den Bildern des ordnenden Geistes. Der Horizont mit dem Doppelgähnen, wo ein Mensch Augen hat. Dahinter aber glänzt mir, Kreisler, doch noch das Kinderauge, dass ich, mitnehme. Dies ist der Gedanke, der da war mit dem Bewußtsein: Ich, ein Gott, will endlich mich: Sehen wie ein Mensch.
Großstadt Geräusche. Akustisches Signal eines Polizeiwagen. Kreisler mit Perspektiv in der Großstadt. Vor einem Schaufenster. Leben verliert sich an Kunst.
Klara. Die Kinder.
KLARA: Sitz gerade, Hans. Halt die Füße still, Dorothee. Träum nicht, Marie. Die fällt das Eigelb vom Löffel.
DAS KLEINE MÄDCHEN: Ich träum nicht, Mama. Schauen Sie, der Papa. Er steht unter der Tür.
KLARA: Siehst Du, Du träumst, und mit offenen Augen. Ein Mädchen, das träumt, kriegt keinen Mann. Oder den falschen. Der Papa ist im Büro.
DER JUNGE: Und doch ist er da, Mama. Unter der Tür steht er, und guckt. Drehen Sie sich um, Mama.
KLARA: Fängst du auch an. Ein Junge, der träumt, leistet nichts. Er lebt allein in einem Haus und macht dumme Sachen und untergräbt seine Gesundheit. Sitz gerade.
DER JUNGE: Wenn er aber wieder unter der Tür steht.
KLARA: Soll ich euch erzählen.
DAS GROSSE MÄDCHEN: Von Dornröschen.
KLARA: Natürlich, das wollt ihr hören. Also: Nachdem sich Dornröschen an der Spindel gestochen hatte, schlief der ganze Hof. Der König und die Königin schliefen, und der ganze Hof mit ihnen. Es schliefen die Pferde im Stall, die Hunde im Hof, die Tauben auf dem Dach, die Fliegen an der Wand, das Feuer, das auf dem Herd geflackert hatte, schlief, und der Braten schlief, und der Koch, der den Küchenjungen an den Haaren ziehen wollte. Und Dornröschen schlief, länger als hundert Jahre. Einmal aber steckte ein Prinz seinen Kopf durch die Hecke und küßte es. Der Prinz, kam aber nicht herein, sondern blieb unter der Tür stehen, ein Leben unter der Tür, weshalb Dornröschen nicht aufwachte und weiterschlief, und weshalb die Hecke blieb und sich nicht verwandelte in einen blühenden Rosenbusch, und auch der Hofstaat, und die Königin, und so weiter, wachten nicht auf, sondern schliefen.
KREISLER: Singen Sie das Lied des Gretchen, das ich schlafen kann.
KLARA: Wie sie auf uns herschauen, wie in einem Panoptikum.
KREISLER: Panoptikum, das ist ein Stichwort. Hans, sitz gerade. Dorothee, blick auf den Teller. Marie, Löffel in die Schokolade Und Klara, Blick, liebevoll; jawohl auf den Platz, auf dem der Gatte sitzt. So, stillgehalten. Hört ihr die Uhr? Seht ihr, wie der Staub steht im Licht, welches einfällt durch den Wintergarten? Die Tage sind wie einer. Tun wir ab, den einzigen Tag, mit diesem Bild, dem wir unsre Körper leihn, und schwingen uns auf die Freiheit! Freiheit auf dem Grund von Ordnung und Tod! Freiheit, endgültig, unwiderruflich!
DASS KLEINE MÄDCHEN: Ich bin es, Papa. Marie.
KREISLER: Marie, so. Nimm den Löffel aus der Schokolade, Marie. – Am Horizont der Gott: ein Doppelgähnen, wo ein Mensch Augen hat. Vor dem Background der Salon mit Puppen: ich und die Frau. – Zeit ist, sagt der Gott, und Zeit auch hat hingearbeitet auf diesen Tag. Hier ist mein Reich: Der Himmel, er trägt Bücher, Gesprochenes krümmt sich unter der Zeit, vorm Himmelsfenster. Sie sieht hoch, Ziel meines Lebens: Abraum ziehend gen Himmel. Hier, Herr übe alles, ich. Regungslos. Hier will ich, sage ich, Gott, der ich bin, mich sehen mit meinen Augen! Ich, Kreisler, aber schüttele das arbeitsmüde Haupt, weise den Gott, mich ab. Der, blickloses Ich, bäumt sich auf. Nicht sehen wollte ich, was ich sehe. Was sehe ich denn. Mein Krematorium vorm Fenster läßt meiner Arbeit Abraum ziehen gen Himmel, Geschriebenes stapelt sich und krümmt sich unter der Zeit, die Wände hier tragen Bücher. Schließlich ist am Ende alles. Hier raffe ich, Kreisler, mich auf. Wer wäre ich, sollte ich mit meines Kopfes Augen endlich mich sehen? Ich, blicklos, zeige mir die Himmelsgegend: Gereinigt vom Irdischen, schwerelos wie vor dem Fenster der Rauch, in der Kunst. Da erst lebte ich! Auf den Leib säh ich mit Nachsicht: Der ginge ins Kontor, vor die Bücher, zur Frau. Ich aber will – antworte ich, der ich doch kein Gott bin, mir – ohne Nachsicht alles. Das Leben. Da lach ich: Gott ins Angesicht. Mir. Das wären Worte. Leben. – Puppen vorm Horizont – Eine Hilfe, schaffend Distanz. Hindurchschauend sollte ich, sage ich, Gott, mir, noch lieben, was ich sähe, ohne Nachsicht. Nun lasse ich von mir, und ich hör mich noch lachen. Allein, das Gerät vor Augen, seh ich durchs Fenster: gegenüber am Tisch eine Frau, blickend auf immer die eine Stelle meines reglosen Leibes. Ich erschrecke oder bebe vor Lust; kein Zweifel, sie kämpft einen Kampf mit dem Holz. Je mehr sie ihren Willen konzentriert, den Tisch zu besiegen, desto mehr gewinnt der Gewalt über sie. Mein Sieg liefert sie aus mir, mich aber, die Lust hält es am Schaufenster der stille stehenden Welt.
KREISLER (singt) Es liegt ein Schloß in Österreich, / Das ist ganz wohl gebauet, / von Silber und von rotem Gold, / Mit Marmorstein gemauert, // Darinnen liegt ein junger Knab / Auf seinen Hals gefangen, / Vierzig Klafter unter der Erd, / Bei Ottern und bei Schlangen. – Was bleiben Sie unter der Tür stehen, Klara?
KLARA: Ich höre.
KREISLER: Was hören Sie?
KLARA: Ihre schwierige Lage.
KREISLER: Oje. So mitfühlend.
KLARA: Gestern sahen Sie aus ihrem Perspektiv auf mich. Schimpften mich einen leblosen Automaten. Puppe nannten Sie mich.
KREISLER: So? Tat ich das? Hatte ich vielleicht recht?
KLARA: Sie sollten es zurücknehmen, Kreisler, und sich entschuldigen.
KREISLER: Klara ….
KLARA: Kommen Sie mir nicht zu nah!
KREISLER: Lebloser Automat hab ich gesagt? Puppe hab ich gesagt? Da muß was dran sein, Klara, nicht? Klaras kalter Glanz wie vorgeschoben! Wenn Ihres Gottes Handlungsmotiv Sie in Ihre Kulissen führt nach allen Regeln künstlerischer Rationalität! Klara, da bin ich, ruhig ….
KLARA: Gehen Sie!
KREISLER: Da bin ich aber. Fühlen Sie, fassen Sie mich an, ich bin kein Automat. Was von Ihnen nicht erwiesen ist, Klara, hören Sie, das müssen wir prüfen Püppchen, gib den Geist auf, los, das prüfen wir, ob das Holz ist, oder sonst ein Stoff, oder Fleisch, wie ….
KLARA: Nein Kreisler, lassen Sie das. Nicht.
KREISLER: So nicht. Dann so, oder so, oder hier .. Ich will, daß du den Geist aufgibst, Klara, den scharfen, kühlen Geist. Den liebenden auch, den liebenden, denn du liebst mich, das weiß ich. Du bist zu groß für mich, Klara; ich seh dir manchmal nach, und da werd ich scharf, auf den Leib nicht, aber auf deinen Verstand, der sich schweigen läßt, wo ich mich entblöde, entblöße, nicht auf diesen weißen Schenkel, der mich zittern macht, aber auf diesen Kuß, die Verzahnung deines Geistes ins Leben, auf deine praktische Vernunft, die selbst leben ist, heißes, berstendes Leben – nichts Puppe, nichts da, ich aber muß dich zur Puppe machen, begreifst du das, ja, dann gib ihn auf, diesen Geist, ich will kriechen in deine unvernünftige Lust.
KLARA: Was ist mit Ihrem Perspektiv? Müssen Sie zu jeder Gelegenheit damit spielen?
KREISLER: Ich begutachte Sie, Klara, um ihnen endgültig zu bestätigen, daß Sie höchst lebendig sind, und höchst anziehend. KLARA: Ich danke Ihnen, Verehrtester, für ihren jetzt ungetrübten Blick. Aber nun nehmen Sie es weg, ja.
KREISLER: Aber wieso denn. Ich sagte Ihnen doch, daß Sie höchst anziehend .. Und wenn ich jede Stelle …
KLARA: Schluß, ja! Her das Ding!
KREISLER: Hier hier hier und hier.
KLARA: Kreisler, komm her. Jetzt werd ich Dir zeigen, was Liebe ist, Nathanael. Sag nichts.
KREISLER: Doch. Ich will, daß Du den Geist aufgibst. Ich will die Milch hinter der Milch meines Todes mit Dir, wo wir Puppen sind, aufbewahren für die Ewigkeit. (singt) Es liegt ein Schloß in Österreich, / Das ist ganz wohl gebauet / von Silber und von rotem Gold, / Mit Marmorstein gemauert. / Darinnen liegt ein junger Knab …. – Er wehrt sich gegen das Gefangensein durch einen lebendigen Menschen: Sein Inneres produzierte Liebe, als Klara ihm fern war: es war nicht gestört durch konkrete Handlungen, die das unermeßliche HandlungrenH
Terrain seines Liebe produzierenden Geistes einschränken. – Liebe ist so (war jetzt eben) etwas, in das sie ihn hineinzieht, ein Jungbrunnen zweifelsohne: aber wo bleibt das Umfeld seines Selbst: das Selbst, das sie nicht kennt, nie kennen wird?
KLARA: Was redest Du, Nobody.
Beerdigung – Glockengeläut.
KREISLER: Riechen Sie die Luft, Nobody Kreisler, hören Sie die Vögel, sehen Sie das neu hervorgekrochene Grün! Zum höchsten Genuß, zum allerhöchsten Daseinsgefühl erst wird der Sonntag, wenn Ordnung ist unter der Woche. Hierin Kreisler, haben Sie eine Anschauung von der Welt: Hartes Wochenwerk in Fabrik und Kontor, dies ist: Fundament, schließlich Freiheit! Der Mensch aber, Kreisler, was ist denn der Mensch .. – Ordnung, sage ich, wahren muß er: An sich, in seinen Verhältnissen und in dem Innern. In ihm herrschen muß Klarheit. Durchsichtig soll er sein, hellklingend wie ein Gebirgsbächlein, dahinspringen ungetrübt am Sonntag. Ihr Metier, Kreisler, ist die Buchführung. Will sagen: Der Mensch muß sein wie ein Kontokorrent. Abrufbar zu jeder Zeit jeder Posten von dem Schöpfer, der die Fabriken treibt, in dessen Hand die Geschäfte einlaufen, die ineinandergreifen, hindurchgehen durch uns, und uns die Gesten vollführen lassen, an denen wir uns erkennen. Nun aber das Volk, Kreisler, was ist es? Das Volk? Schauen Sie, da der Coppelius, ein alter Freund: Obrist. Jede seiner Bewegungen nach der Notwendigkeit, kein Schnörkel, nichts, das der Herrgott ihn noch ausführen ließe, das nicht berechnet wäre nach seinem Platz im Weltgetriebe. Wie Soldaten, Kreisler, soll das Volk sein, die Notdurft selbst verrichten nach Regeln der Überschaubarkeit … – Wenn das Volk, Kreisler, schmecken wird die klare Luft der Rückhaltlosigkeit, hören die Vögel der Lauterkeit, sehen jetzt das Grün der Unschuld, mit dem es dereinst vor die Instanz tritt, die Rechenschaft fordert von ihm an dem Tag, den es noch nicht kennt – dann, Kreisler, ist da kein Falsch mehr, nichts Heimliches, dann ist, wie nur soll ich es Ihnen vor die Augen bringen, das Ziel existent, die Kunst. Hier ist, sage ich, die klassische Epoche der Geschichte erreicht und ihr Ende. Solange aber, Kreisler, solange sind Heroen wie Coppelius reiner Ausdruck einer Zeit, welche auch Ihr Werk triebt, welche durch Ihr Werk auch führt den Wald in die musterhafte Endgültigkeit deutscher Wohnzimmer, so nämlich, Kreisler, streben wir denn der Vollendung schließlich zu, und schließlich Kunst auch, Kreisler, tritt in was Leben war! Ihren Hut, Kreisler, nehmen Sie den Hut von Ihrem Haupte, denn hier sind wir am Ziele, treten ein mit allem Volk, und gehen vor den Herrn!
Klara auf der Terrasse
KREISLER: Wie? Ich verstehe Sie nicht!
KLARA: Ich sagte: Wie friedvoll der Abend! Im Gegensatz ganz zu Ihnen! Sie pendeln durchs Haus, seit sie zurück sind aus der Kirche: Vom Salon in ihr Kabinett, vom Kabinett in den Salon. Seit Wochen vernachlässigen Sie mich! Nehmen Sie mich überhaupt noch wahr?
KREISLER: Schon wieder verstehe ich Sie nicht!
KLARA: Ich sagte: Wie, wenn Sie mich betrügten!
KREISLER: Was für ein Geschrei hin und her! Kommen Sie rein!
KLARA: Sie wissen nicht, weshalb ich draußen stehe? Im Salon neben Ihnen komme ich mir vor wie das Gretchen im Kerker! Ich erfriere!
KREISLER: Hahahahah! Ich bin nicht der Faust!
KLARA: Eine Helena, wie! Ein Bein hier, eines da, sie hieß …..
Nobodies (im Jenseits)
Schaufensterpuppen: Im Dunkel wir unserer Seelen, unsere Finger weisen auf Sie. Was Sie uns mitteilen wollen, wissen wir. Ihre Beweisführung kennen wir. Wahrheit eventuell billigen wir zu. Hören aber wollen wir nicht. Den Blick auf sie gerichtet, sagen wir: Ihre Redseligkeit wird uns herausführen aus unserem Tag. Schicken hinter den Horizont unseres Nachbarn, in dem wir uns erkennen. Gestünden wir Wirklichkeit zu dem Sinn Ihres Hierseins, Ihrer Rede, wahnsinnig wären wir. Wir bitten um Schweigen.
REDSELIGER: Eure Bewegung, Reden oder Schweigen, hat nicht Ursache in euch. Die große Bewegerin regiert sie, rückt sie hierin, dorthin: Ihr fallt ins Schweigen nach ihrem Willen; beginnt zu reden.
Schaufensterpuppen: Herr nicht der Bewegung sind wir.
REDSELIGER: Und steht nicht über euch. Was aber ist, wo ihr fehlt? Kunst: Durch deren Hand die Fäden laufen. Da ist sie! (Olimpia). In euch den einzigen Schwerpunkt bewegt sie, der euch bringt vom Ruhen ins Tanzen, vom Tanzen ins Ruhen. Darüber, Weg eurer Seele, habt ihr keine Macht. Den Schwerpunkt in euch Kunst versetzt; tanzt, redet. Sie. Sie, ihr nicht.
Schaufensterpuppen: Sie nicht, wir nicht. Etwas, das wir Leben nennen. Leier ist Kunst, die nachspielt.
REDSELIGER: Marionetten seid ihr einer Marionette einer Marionette.
Schaufensterpuppen: Wieder um Schweigen bitten wir – und wissen, ohne Erfolg ….
REDSELIGER: Weil ihr das Spiel akzeptiert: War Bewußtlosigkeit euer Anfang, gibt es das Ende, das nicht ihr bestimmt. Kunst kann ins Leben, weil das Leben ja tödlich … Hier ist Olimpia.
MANN: Wo bin ich? Sind wir in der Oper? Bei Spallanzani mit einem Fernglas mir gegenüber …. Witze reißt man über Sie. KREISLER: Irgendwann – oder ich besaß ihn nie – verlor ich den realistischen Blick.
KELLNERIN: Und den gibt Ihnen das Ding zurück?
KREISLER: Dort, unsere liebe Frau, abgespreizter kleiner Finger, Zigarette in der Hand, stiert seit Minuten vor sich hin. Erweisen wird sich: in dem Augenblick, wenn die Glut ihre Haut erreicht, ob noch ein Unterschied ist.
OLIMPIA: Um ihn zu streifen, brauchen den Boden wir; darauf zu ruhen der Mensch: Ein Augenblick der Unkunst, leer, es braucht ihn niemand.
CHOR: Der Mensch: Verschwinden macht ihn die große Bewegerin; pour l’art la vie. Unmöglich dem Menschen eure Anmut. Er, der Mensch, euer Gott, kann sich mit euch messen nur, wenn er aus sich reißt, jedes Bewußtsein. Ihr wißt, welche Unordnung das Bewußtsein anrichtet in dem Menschen?
FRAU: Wo bin ich? Bin ich in der Oper? Irgendwann – oder ich besaß ihn nie – verlor ich en realistischen Blick. Die Frau dort, abgespreizter kleiner Finger, Zigarette in der Hand, stiert seit Minuten vor sich hin. In dem Augenblick, wenn die Glut ihre Haut erreicht, wird es sich erweisen. Mensch oder Tisch. Sagen Sie nichts. Die lebendige Welt.
CHOR: Sie bewegt sich. Streift die Asche ab.
LEICHENFICKER: Grandiose Mechanik.
ERSTER HALBCHOR: Der Mensch, euer Gott, kann sich mit euch messen nur, wenn er aus sich reißt, jedes Bewußtsein. Ihr wißt, welche Unordnung das Bewußtsein anrichtet in dem Menschen? Der ringförmigen Welt Enden, sie greifen, jetzt.
KREISLER, SCHAUFENSTERPUPPEN: Jetzt ist, als hätte nie einer geredet. – Ein geöffnetes Fenster. Vogelgesang. Ein Frühstückstisch.
Begegnung der Liebenden im Gesang
KLARA: Da bin ich, die Sie wollen: Ohne Vernunft. Und wie finde ich Sie? Mit Ihrem Perspektiv: Der Nachbarin schauend ins Zimmer.
KREISLER: Ja, ich sah Sie schon. Von Gegenüber, mit dem Perspektiv. Nicht erwartete ich, was die Ferne Ihnen verlieh – unbewegtes Antlitz, der Augen helles Wasser, Zirkel des Schrittes – hier, vis a vis, noch zu erblicken. Sie entkleideten sich der Ferne und verloren nichts. Weshalb?
KLARA: Liebe.
KREISLER: Zu wem?
KLARA: Wer weiß. – Sie sind ein Voyeur, Kreisler? Bei sich, einsam? Leben im Brennpunkt nur? Kreisler! Ich bin in Ihr Innerstes gekommen, wie ich gesagt habe! – Gut, Sie drehen sich um. Aber mit welchen Augen sehen Sie mich? Wie Wasser der Blick, ein Nicht-Fassen. Ein Über-uns-sein? Was ist es, wenn Sie so sehen? Wohin? – Ah, ich hätte es wissen können: Ihnen begegne ich hier nicht. Warum aber gehe ich nicht? Was hält mich? Stehe ich? Oder liege? Selbstvergessen, wie ein Mädchen tut, das schaut wie die Wolken ziehn? Leicht war mir da, die Seele flog! Später, Kreisler, war es immer aus mit dem Fliegen. Was ist es, daß es jetzt wiederkommt? Die Kinder, Kreisler, was soll aus ihnen werden mit einem Vater, der sich entfernt? Einer Mutter, die sich aufgibt? O das Gefühl, Kreisler, wenn man still eingeht in diesen Himmel! Nichts mehr, nichts, kein Gedanke, die Sprache vertrocknet. Sie sehen hier, was Sie wünschten, Kreisler: Ihr Püppchen. Hier, hier, Kreisler, kommen Sie, hier ist ihr Paradies: das Püppchen.
KREISLER: Hier stehe ich, ihr Götze, Ihnen zu beichten.
KLARA: Beichten Sie.
KREISLER: Beichten, ja; währenddessen der Blick geht nicht von Ihnen: Wahrnehmend Ihrer Haut Lack, der kleine Finger gespreizt: Altar meiner Lust im Schaufenster meines Cafés. Sie hören nichts oder alles, ich muß nicht reden. Was ich rede, ist wahr. Ihr Auge sieht auf mich und durch mich hindurch. Ihm bringe ich die Glut meines Schweigens, des Leibes Aufbäumen unter der Folter des Geschäfts, das mich ernährt: ein Sich-drehen über die Lenden, barocke Geste: nicht der Lust, in die kein Schmerz je sich steigerte, ich bin Kanzleiadvokat. Nie waren Sie nah mir, nie fern. Hier meiner wortlosen Rede Fluß geht aus mir und fragt: Was, wenn Schmerz nicht, ist Leben? Kosten und Ertrag, Wald und stilles Möbel, durch mich gewachsen. Kontokorrent ich, das sich registriert, Nahrung und Auswurf, geruchlos. Das ist es: Kein Schmerz und geilt sich in Nicht-Lust, klagen macht es mich Ihnen, die Sie durch mich sehen, abwesend wie ich, während aus mir noch läuft meiner Klage Samen. Wer wollte das in sich nehmen als Sie: Ihr Blick, wenn ich zu Ihren Füßen vergehe, abwesend wie Natur, geht über in Natur: darunter was bleibt von mir: In die Bücher passt das nicht. Hier nun, das bin ich: der Augen hat, sich zu sehen: kein Mensch; auf dem Teppich der Samen verdirbt. Besser, ich hätte es zurückbehalten, was in die Bücher nicht geht, mich, irgendwie. Es ist aber geschehen. Ich lecke die Wunde, decke das Leck ab, sehe nach Ihnen, Madonna Sie meiner Augen. Sie sind noch. Dort an jenem Tisch: Sitzen Sie, hier beb ich vor Lust. Kein Zweifel, sie kämpften den Kampf mit dem Tisch; konzentrierten Ihren Willen, ihn zu besiegen, er gewann Gewalt über Sie. Sein Sieg liefert Sie an mich, die Zeit, die ich nun bestimme.
Das Kind allein
DAS KLEINE MÄDCHEN: Ich bin es, Papa, Marie! Als Dornröschen sich an der Spindel gestochen hatte, schlief der ganze Hof. Der König und die Königin schliefen, und der ganze Hof mit ihnen. Es schliefen die Pferde im Stall, die Hunde im Hof, die Tauben auf dem Dach, die Fliegen an der Wand, das Feuer, das auf dem Herd geflackert hatte, schlief, und der Braten schlief, und der Koch, der den Küchenjungen an den Haaren ziehen wollte, schlief auch. – Nur Dornröschen blieb wach. Einmal steckte ein Prinz seinen Kopf durch die hecke und wollte es küssen. Erst mußt du hereinkommen, sagte Dornröschen. Ich habe Angst, antwortet der Prinz, daß ich vergesse, daß ich ein Prinz bin. Lieber bleibe ich unter der Tür und warte, bis Du in mein Reich kommst. Lieber bleibe ich in meinem Schloß und warte, bis Du kommst, sagte Dornröschen, und sah den Prinzen an, solange er unter der Tür stand, und weinte. Aber in sein Reich ging sie nicht.
KREISLER: Ich stehe im Grab, das man Leben nennt, ein Schaufenster. Schlafzimmer, Kabinett, Boudoir, Salon, unter den Schritten eines, der ich war, dröhnt das Museum, mein Haus. Im stummen Kampf mit dem Möbel, wohlgeordnet und wie in Reinschrift in meinem Kontobuch an ihrem Tischchen überall sie. Dies, denke ich, ist das Ende. Nicht mehr fällt sie aus der Ordnung des rechnenden Geistes. – Ich stehe im Anzug, gehe zur Tür, trete ein, stehe im Anzug: der Gott. Verhüllt das Gesicht, eine Eisenstange zwischen den Händen, Doppelgähnen im Kopfe, weißes Ende der Lust. Der Gott kommt, ob wir wollen oder nicht. Der Hohn, daß ich bereit bin.; Wehmut sprengt mir die Brust. Zu gehe ich auf mich, nehm den Stab aus den Fäusten mir, ins Äußerste steigert mein Mut sich, von oben nach unten reißt durch der Stoff, der mich hält. Der erste Schlag fällt in meinen offen liegenden Leib. Schulter an Schulter mit mir, dem Gott, zerschlage ich Tisch und Bett, stürz von den Wänden Bücherschränke, die Rücken brechen unter Tritten und Schlägen, der Kerker fällt, ein Schwingen holt den Leuchter vom Himmel, der fällt in ein Meer aus Holz, Kleidern, Trümmern, endlich gegen die blaue Weite, die sich auftut hinter den niedergebrochenen Wänden, schwing ich mein Eisen. Ich hole sie, die unterlegen ist den Dingen wie ich, hebe auf sie, fasse die Fersen, geh hierhin mit dieser, dorthin mit jener, ihr kalter Leib, die Landzunge zwischen den Schenkeln, splittert. Und um kehre ich wieder, treffe mich vor dem Rest ihrer Glieder, sie liegt mit gebreiteten Armen, wieder hebe ich sie, schieb durch die hölzernen stigmatisierten Hände die Stange, gehe mit aufgerichtetem Stab – ein Athlet beim Einmarsch ins Stadion – zu auf mich – den göttlichen Athleten beim Einmarsch ins Stadion. Vor ihrem Leib, im Krachen der Lippen, mache ich Halt. Drehe mich und gehe den Weg zurück, treffe zuletzt mich in ihrem Rücken, wo nichts ist außer Trümmern, Splittern, die Stange. Wohlgezielt stoße ich die nochmals in mein Werk, in die Augen, zwischen die Zähne, sonst in ihren Leib, der, aufgebrochen, Wüste, vor meinem Werkzeug liegt. Nach vollbrachtem Werk fordere ich noch einmal und zum letzten mein Auge und Leben für mich, und gebe mir alles, und sehe mich ganz und geh mit mir weg.
… und sehe mich ganz, und geh mit mir weg. Nie wart ihr fern mir. Meiner wortlosen Rede Fluß geht aus mir, Kontokorrent ich, das sich registriert, Nahrung und Auswurf: geruchlos.