Jamaika, Jamaika

(nach Wampilow, Der ältere Sohn)

1. Akt

1

Straßenbahnhaltestelle vor Plattenbaufassade. Nacht; heulender Wind, Schneetreiben, trübes Straßenlicht. Eine Straßenbahn – lautlos im Schnee – fährt vor und wieder ab. – Kurz drauf drei Mädchen, atemlos. Sie blicken der davonfahrenden Straßenbahn nach.

Mandy: Scheiße!

Carmen: Fuck!

Nora: Mit der nächsten kriegen wir den Zug nicht mehr!

Mandy: Los! rennt los

Carmen: Wo willst du hin?

Mandy: Die beiden Typen von eben!

Nora: Was?! Die Spinner?

Mandy: Die waren mit dem Auto da!

Sie stehen, schauen sich um.

Mandy: Vielleicht halten sie irgendwo!

Sie rennen weiter, verschwinden in einer Straße.

2

Die Straßenbahnhaltestelle. Heulender Wind und Schneetreiben. Vorn kommt Frau Tillich. Als sie sich vor der Treppe gegen den Wind dreht und  einen Schluck aus einer Flasche nimmt, die sie unter dem Anorak trägt, geht über ihr ein Fenster auf.

Nachbarin: im Fenster So spät noch von der Arbeit?

Frau Tillich: Was geht sie das an.

Nachbarin: In Potsdam war aber heute kein Konzert, wie?

Frau Tillich: In Brandenburg.

Nachbarin: In Brandenburg!

Frau Tillich: Stand es in der Zeitung, oder stand es nicht?!

Sie geht ins Haus.

Nachbarin: ruft ihr hinterher In der Zeitung stand es. Aber nicht, wer dabei war, und wer nicht!

3

Die Straßenbahnhaltestelle. Zeit vergeht, in der der Schnee unter der  Straßenlampe hintreibt. Aus der Richtung, aus der vormals die Straßenbahn kam, kommt Michael. Wenn er sich dem hinteren Eingang des Plattenbaus nähert, tritt aus dem Schatten der Fassade Küken.

Küken: Ich laß dich nicht rein.

Michael: Küken, geh nach Hause!

Küken: Sag was zu mir.

Michael: Gute Nacht! versucht sie zur Seite zu schieben

Küken: Gehst du morgen mit mir ins Kino?

Michael: Ich sag’s deiner Mutter, so weit bringst du’s noch! Also hör auf mit dem Quatsch!

Küken: Warum schreist du?

Michael: Hab ich geschrien?

Küken: Schrei ruhig. Ich mag das.

Michael: Küken, wenn du mich liebst, liebst du mich nicht richtig. Ich steh hier in der dünnen Jacke. Ich bin müde und durchgefroren.

Pause.

Michael: Wer liebt, muß gehorchen.

Küken gibt den Weg frei.

Michael: Na siehst du.

Michael verschwindet im Haus.

Küken: schreit vor der verschlossenen Tür Ich muß dir was sagen!

Michael: wieder vor der Tür Hör auf zu schreien, du weckst das ganze Haus!

Küken: entschlossen Du wirst mich nie wieder sehen. Nie wieder!

Michael: Bravo!

Küken: Sehen wir uns morgen? Für eine halbe Stunde? Zum Abschied?

Michael: Jeden Tag lauerst du mir auf, um Abschied zu nehmen.  Wie lange soll das noch gehen?

Küken: Bis ich mich wirklich von dir verabschieden kann – und du Abschied von mir nimmst.

Michael: Verschwinde jetzt!

Er schlägt die Tür hinter sich zu. Küken steht lange vor der verschlossenen Tür. Geht dann zum Nebeneingang.

4

Schneetreiben; die Straßenbahnhaltestelle. Zeit vergeht. – Schließlich kommen Mandy, Carmen und Nora, abgekämpft und frustriert, zurück. Sie setzen sich. – Zeit vergeht. Carmen wählt eine Nummer auf dem Handy.

Carmen: Eine Taxirufnummer. Ja, hier in Heiligenwalde …. – Wie? – sie wählt, wartet.

Nora: Um die Zeit schläft man hier.

Mandy: Wieso bin ich hier hergefahren. Ich kann „Unbelievable future“ nicht leiden.

Carmen: während sie weiter auf die Verbindung wartet Das ist der Brüller! Du kannst „Unbelievable future“ nicht leiden?

Mandy: Genau so ist es. Und jetzt werd ich dafür bestraft.

Carmen: wartet weiter auf die Verbindung Wofür bestraft?

Mandy: Das ich auf so’n Typen reingefallen bin. Ska-Fan. Er hat gesagt, er fährt zu U.F.. Und wenn ich wissen will, wie er wirklich drauf ist, soll ich hier sein.

Carmen: Und?

Mandy: Ich mach mich auf den weiten Weg von Dresden hierher und seh ihn den ganzen Abend nicht.

Nora: Von Dresden? Bis hierher?

Carmen:  Steckt das Handy weg. Geht keiner ran.

Pause.

Nora: Ihr kennt euch? 

Mandy: Klar, aus  .. wie heißt das Nest hier?

Carmen: Heiligenwalde

Mandy: Wir kenn’ uns aus Heiligenwalde seit ’ner halben Stunde. – Ich bin Mandy. 

Nora: Ich hab keinen Namen.

Mandy: Was?!

Mandy und Carmen sehen sich an.

Nora:  Den Namen, der in meinem Ausweis steht, hat mein Vater mir gegeben.

Pause.

Carmen: Nicht mal ’ne Überdachung. ’Ne Bank. ’Ne Bank im Freien! Schöne Straßenbahnhalte­stelle!

Mandy: zeigt auf die Plattenbaufassade Hinter zwei Fenstern ist noch Licht.

Pause.

Nora: Da ist das Leben, und wir sind ausgeschlossen.

Mandy: Verdammte Kälte.

Carmen: singt  einen „Stern Meißen“-Titel an „Und kein Petroleum half mehr, und kein Denken an Frau und Kind …“ – Kennt das jemand? Lallt meine Olle immer, wenn sie ihren Moralischen kriegt.

Mandy: Handelt von einer Tour zum Südpol, bei der alle draufgehn.

Nora: Was macht’s. Wir leben unser Leben, oder leben es nicht.

Carmen: Und einmal isses zu Ende, jaja.  – Ich glaub, ich weiß, wie du tickst.

Pause. Eine Frau strebt dem zweiten Plattenbaueingang zu.

Carmen: Hallo, junge Frau!

Die Frau beschleunigt ihre Schritte; Carmen stellt sich ihr in den Weg.

Carmen: Guten Abend!

Frau: Guten Abend.

Carmen: Wo ist hier der Menstrip-Klub, gute Frau?

Mandy: ist hinzu getreten Gibt es hier irgendwo einen Taxistand?

Frau: Am Bahnhof .. Aber um die Zeit … 

Nora: von der Bank Eine Pension, oder so was. Irgendwas muß es doch geben.

Mandy: Wir haben den letzten Zug nach Berlin verpaßt.

Frau: furchtsam Soso.

Carmen: Eh, wie wär’s bei Ihnen im Korridor? Morgen früh sind wir weg.

Frau: Nein, das geht nicht.

Geht.

Nora: ruft ihr hinterher Hey, alle Menschen sind Schwestern! Weißt du das nicht?

Frau: aus der Entfernung Wenn’s nach mir ginge … Aber es geht nicht! Ich wohne nicht allein. Mein Freund  …

Carmen: höhnisch Ein Freund?!

Frau: schon vor der Haustür  .. Mein Freund, ja ..

Carmen: Hey, Oma! Fick dich!

Pause.

Carmen: weil die anderen sie angucken Gestatten, Carmen. Wohne in Wedding.

Mandy: Okay, Carmen. Okay. Wir haben dich kennengelernt.

5

Mandy  und Carmen sitzen  eng aneinandergerückt auf der Bank. Nora  schaut auf die Fassade, wo  in einer Wohnung – vor langer Zeit schon – das Licht angegangen ist.

Carmen: zu Nora Was war’n das für’n Gequatsche: Alle Menschen sind Schwestern …

Nora: Ich halt das für ’ne Idee.

Pause.

Mandy: Der Wind. Der geht einem durch und durch.

Carmen: Zu Hause ist’s zwar warm, aber nicht besser. Dort sitzt meine Mutter vor ihrer Flasche und sagt: Wann willst du endlich mal richtig arbeiten. So’ne Druckpatronen-Tanke – was ist denn das! Verdienst du weniger als Hartz IV ..  Das sagt sie jeden Abend, egal ob ich da bin oder nicht.

Pause.

Carmen: zu Nora Und du, no name?

Nora: Nora heiß ich. – Keine Familie.

Carmen: Du stehst  überhaupt ’n bißchen verloren in der Welt rum, wie?

Nora: Ich find’s in Ordnung so. Keine Familie, kein Mief.

Carmen: Aha. 

Pause.

Carmen: zu Mandy Und? Weiter in der Vorstellungsrunde?

Mandy: ’Ne Mutter. Säuft nicht.

Carmen: Alles klar.

Mandy:  Aber ist nie da. Karrierefrau. Taff und straight.

Nora: Und sonst?

Mandy: Reggae. Ich sing in ’ner Band.

Carmen: Und womit verdienst du dein Geld?

Mandy:  Geld? Ach, du mein Gott! – Früher war ich Schwester. Hilfsschwester – im Seniorenheim.

Carmen: Ach du Scheiße. Alten Opis den Arsch abwischen.

Pause.

Carmen: Das Klima hier ist wirklich nicht doll!

Pause.

Carmen: Wir gehen jetzt los, jeder an einen Eingang und klingeln.

Nora: Und dann?

Carmen: Fragen wir, ob wir im Korridor schlafen können! Die Menschheit kann doch nicht nur aus Egoisten bestehen.

Pause.

Nora: Ich bleib hier.

Carmen und Mandy gehen.

6

Nora  allein auf der Bank. Vom hinteren Eingang des Plattenbaus kommt Michael.  Wenn er Nora passiert hat, spricht sie ihn an.

Nora: He! – Haste ’ne Kippe?

Michael: Ausgegangen. Ich will mir grad welche holen.  Nora stellt sich  vor ihn. – Was willst du von mir

Nora: Wohnst du allein da?

Michael: Worauf läuft das hinaus?

Nora: Weiß nicht. – Ich mach es, wie du es brauchst.

Michael: tritt an sie heran Was, verdammt noch mal, ist das ..

Nora: Was?

Michael: … daß ihr kleinen Titten denkt, ihr könnt eure verwahrlosten Seelen an mir gesund reiben?

Nora: Es geht nur um ein Geschäft. Unterkunft für mich gegen was du willst.

Pause.

Michael: Gut.

Nora: Wohin?

Michael: Da, 2. Stock. Komm mit.

Pause.

Michael: Was ist?

Nora: Wolltest du nicht Zigaretten holen gehen?

Michael: Verarschen kann ich mich alleine.

Geht.

7

Nora mit i-Pod. Sitzt zur Musik nickend auf der Bank. –Carmen und Mandy kommen.

Carmen: An fünf Wohnungen haben wir geklingelt.

Mandy: Keiner macht auf.

Carmen: Nicht mal in die Hausflure kommst du rein.

Mandy: Verschlossen. Geht alles über Wechselsprechanlage. 

Pause.

Nora:  Eben kam so’n Typ vorbei. Wir hätten ein Bett haben können.

Carmen: Wir hätten was?

Nora: Wir hätten ein Bett haben können. Aber wozu? 

Carmen: Noch mal! Du hattest …

Nora: Ein Bett, ja …  Aber wofür? Zum Schlafen? Für die Liebe?

Mandy: Ich versteh nicht .. ?

Nora: Wechselsprechanlagen. Keine Menschen in den Betten, sondern Wechselsprechanlagen.

Carmen: Die Frau ist verrückt.

Mandy:  Verrückt oder genial.

Carmen:  Eher krank.

Nora: Die Liebe ein Geplärre zwischen Wechselsprechanlagen!

Carmen: Krank. Ich entscheide mich für krank.

Mandy:  singt plötzlich und tanzt Hey – heyheyheyhey! Hey – heyheyheyhey! Hey – heyheyheyhey! – Mal sehen, ob jemand ans Fenster kommt! Hey – heyheyheyhey! I shiver with cold, I shiver with cold! Hey – heyheyheyhey!– wechselt die Melodie, singt und tanzt – I shot the stupids …

Video: Drei Mädchen auf einer Parkbank im Schillerpark in Cottbus. Sommer. Unterhaltung. Lachen, Kichern. Eine Frau und ein Junge gehen vorbei.  Der Junge bleibt stehen und schaut die Mädchen an. Genervte Blicke; dann gehässige Bemerkungen. Die Frau will den Jungen weiterziehen. Der Junge starrt die Mädchen an, die lachen ihn aus. Der Junge, mit Tränen in den Augen,  folgt der Mutter.  – Die Mädchen auf der Parkbank stumm. Rauchen, blicken vor sich hin.

Mandy steht abseits : Schnee und Stille. Wie am Nordpol.

Carmen: Ja, in Jamaika müßte man leben. Musik und Sonne.

Nora: Und jede Begegnung ein Lächeln.

Carmen: Und das Meer. Ich brauch keinen Bikini. Ich bade so.

Nora: Nackt, ja. Und jedes Lächeln ein Aufeinanderzugehen und ein Sichfinden!

In einem der Fenster geht Licht an.

Mandy: Da!

8

Ein  erleuchtetes Fenster.

Carmen: Da zieht sich wer an.

Mandy: Zwei, glaub ich.

Nora: Das eine scheint ein Kind zu sein, ein Mädchen.

Mandy: Die Ältere verläßt die Wohnung.

Pause.

Carmen: Da kommt sie.

Mandy:  Los, die quatschen wir an!

Carmen: Stop!

Aus der Haustür kommt Frau Tillich. Sie geht zum Nebeneingang und  klingelt.

Frau Tillich: ruft an der Fassade hinauf  Michael!

Michael: öffnet das Fenster Was ist denn nun wieder?! Wenn du das bist, Kü …

Frau Tillich: Ich bin’s ..  Manuela

Michael: Manuela?!

Frau Tillich: Michael, ich bin  ..  ich muß dich sprechen …

Michael: Mein Gott! Erst die Tochter, dann die Mutter! Bin ich denn zuständig für alle Bedürfnisse der Familie Tillich?

Frau Tillich: Es ist dringend!

Michael: Wenn du nur was zu trinken brauchst – ich hab nichts! 

Frau Tillich: Ich brauche dich, deine Hilfe!

Michael verschwindet im Fenster, man hört den Türöffner, Frau Tillich tritt ein.

Carmen: Okay. Tillich heißt sie. Manuela Tillich. Das wissen wir.

Mandy: Und was nützt uns das?

Carmen: entdeckt etwas Hey, die gute Frau Tillich hat die Haustür offengelassen!

Nora: Wenigstens was!

Sie will losgehen.

Carmen: Warte noch! – Wie lange wird Frau Tillich wegbleiben?

Mandy: Wenn er ihr Lover ist … 

Carmen: Quatsch, sie hat ein Problem. – Probleme dauern.  – Los! Gehen wir rauf!

Nora:  Was?

Carmen: Gehen wir rauf zu Frau Tillichs Tochter!

Mandy: Du kannst doch nicht einfach in eine fremde Wohnung … zu einem Kind  .. !

Carmen: Wir sagen, daß sie uns schickt.  Frau Tillich schickt uns. Wir haben sie auf der Straße angesprochen wegen einer Unterkunft, und sie hat uns nach oben geschickt. Sie selbst kommt nach.

Nora: Und du meinst, das Kind  glaubt das und läßt uns rein?

Carmen: Die Nacht ist rau. Wir müssen sehen, wo wir bleiben.

Mandy: Und wenn die Mutter zurückkommt?

Carmen: Ein Schritt nach dem andern.

Sie geht los, die beiden anderen folgen zögerlich.

2. Akt

1

Wohnung der Familie Tillich. Gleicher Tag, zwei Stunden nach Mitternacht. – Am Tisch sitzt Küken und schreibt. Auf dem Tisch eine Sprühdose. Neben ihr ein gepackter Rucksack.

Küken: liest das Geschriebene So wie ich Dich liebe, wird Dich niemals wieder jemand lieben. Irgendwann wirst Du das einsehen. Erst einmal kannst du zufrieden sein: Du hast erreicht, was Du wolltest: Ich hasse Dich! Maria Tillich.

Aus dem Nebenzimmer kommt Sascha. Er ist in Unterwäsche und hat eine Zahnbürste im Mund.

Sascha: Na, wieder ein Erguß?

Küken: Halt’s Maul.

Sascha: Geh nur hin, überreich ihm deine Botschaft. Aber dann geh schlafen! Wo ist Mutter?

Küken: Woher soll ich das wissen?

Sascha: Sie war doch schon da! entdeckt den Rucksack Was ist das?

Küken: Gib her, das geht dich nichts an!

Sascha: Nananana!  – Er ist stärker und entwindet ihr den Rucksack. Schüttet ihn auf dem Tisch aus. Was soll das bedeuten? Wo willst du hin?

Küken: Weg. Auf Tour.

Sascha: Und das hier? Ein Reisepaß? Wozu brauchst du den?

Küken: Geht dich nichts an.

Sascha: Du willst weg?! Wo willst du hin? Weißt du nicht, daß ich nach Cottbus gehe? Weg von Heiligenwalde?

Küken: Ich geh weg von Heiligenwalde!

Sascha: Hey, komm zu dir! Du bist fünfzehn!

Küken: Ich gehe weg.

Sascha: Hör mal, dreh nicht durch, ja! Wegen diesem Kiffer!

Küken: Einmal hat er gesagt, er liebt mich.

Sascha: Jaja. Du glaubst immer alles, was man dir sagt. Oder hörst, was du hören willst. Du bist zu naiv.

Küken: Alles wird gut. Ich weiß es.

Sascha: Ich sollte dir eine tachteln. Vielleicht rückt das die Dinge in deinem Schädel wieder grade!

Küken:  Rühr mich nicht an! Von dir laß ich mir nichts gefallen!

Sascha: Und Mutter? Wenn die alleine hier bleibt …  Pause. – Du weißt doch, wie sie ist. Sie wird sich Vorwürfe machen. Sie wird sich einbilden, es ist ihre Schuld. Sie hat schon eine Tochter verloren.

Küken: Weggegeben. Sie hat ihre Tochter, meine unbekannte Schwester, weg gegeben an wildfremde Leute.

Sascha: Werd nicht sentimental.

Pause.

Küken:  Wenn du nicht an sie denkst, wieso soll ich an sie denken?

Sascha packt Kükens Rucksack ein und geht mit ihm ins Bad.

Küken: allein Wenn ihr wüßtet, wie ihr mir alle zum Hals raushängt!

Sie schreibt etwas aufs Kuvert, die Adresse.  Sascha steckt den Kopf zur Tür herein.

Sascha: Ich geh schlafen. Den Rucksack nehm ich mit. Sag Mutter, ich hab morgen kein Training. Ich schlaf aus.

Ab.

Küken: sprüht in die Luft (oder imitiert das Sprühen) und formt mit den Lippen Ich gehe nach ….

2

Küken  am Tisch mit Wodkaflasche.

Küken: Ich muß wirklich hier weg! Wo anders hin! Andere Menschen! nickt und wiederholt Wenn ihr wüßtet, wie ihr mir zum Hals raushängt!

Es klingelt. Küken, die Wodkaflasche in der Hand, geht zur Tür. Draußen stehen Mandy, Nora, Carmen.

Carmen: Hallo!

Küken: Was ist?

Carmen: Deine Mutter schickt uns.

Küken: Was?

Mandy: Entschuldigung, wir hätten nicht geklingelt, nicht um diese Zeit, wenn …

Nora: … es nicht außerordentlich wichtig wäre. Nämlich ..

Mandy: Es ist kalt draußen.

Carmen: Ja, wir haben sie gefragt wegen einer Unterkunft ..

Mandy: …  nur paar Stunden, bis zum Morgen …

Nora: .. und da hat sie uns hochgeschickt.

Carmen: Sie hat extra die Haustür aufgeschlossen für uns. Sie kommt gleich. – Was ist? Willst du uns nicht reinlassen?

Küken: Nein …

Pause. – Küken ratlos in der Tür.

Nora: Kalt im Treppenhaus!

Mandy: Nicht zu reden von draußen!

Nora: Daß wir uns solches Wetter aussuchen müssen, um uns auf den Weg zu unserer Schwester zu machen!

Küken:  irritiert Was?!!

Nora: Man ist immer auf dem Weg zu einer Schwester. Nur – die meisten Schwestern erkennen sich nicht. Schade!

Küken will die Tür schließen; Nora stellt ein Bein dazwischen.

Nora: energisch Alle Menschen sind Schwestern!  Irgendwie! Ich würde empfehlen, es so zu sehen .. Sonst  … ist man allein auf der Welt … !

Carmen: Gut, „Schwester“ .. das klingt ein bißchen …

Mandy: Sie will sagen, wir haben unseren Zug verpaßt, kommen nicht zurück nach Berlin, uns ist kalt, wir brauchen eine Unterkunft.

Carmen: Und deine Mutter hat sie uns versprochen!

Küken will die Tür zuschlagen.

Nora: laut und nachdrücklich Deine Schwester steht hier!

Küken: Natürlich!

Sie dreht ab, blickt sich noch einmal um ,bevor sie die Tür zumacht.

Pause.

Küken: Wer ist es?

Nora: Wer soll wer sein?

Küken: Die Schwester?

Nora: zeigt auf Mandy Sie …

Sie will auch die beiden anderen nennen, aber mit dem Kind in der Tür ist eine Veränderung vorgegangen. – Pause.

Küken: zu Mandy Du?!

Pause.

Carmen: Freunde, es wird alles gut! Es gibt nichts auf der Welt, was nicht gut würde, Freunde!

Pause.

Carmen:  Du könntest uns hereinbitten!

Küken sprachlos. – Sie betreten die Wohnung.

3

Wohnzimmer der Familie Tillich.

Küken: bemerkt die Wodkaflasche in ihrer Hand Ich hol Gläser.

Ab.  – Die drei im Wohnzimmer unterhalten sich flüsternd.

Mandy: Wieso steigt die ein auf „Schwester“?

Carmen: Offensichtlich hat sie eine … die sie nicht kennt! – zu Mandy – Du wirst die „Schwester“ spielen!

Mandy: Spinnst du?!

Carmen: Wenn du die Nacht draußen verbringen willst … ?!

Nora: Und wenn die Mutter zurückkommt?

Carmen: Sei doch mal spontan! Nicht immer alles voraus bedenken! – Außerdem – das ist überhaupt nicht raus!

Mandy: Das wird peinlich, ich spüre das!

Carmen: Wenn alles schief geht, sagen wir, es war ein Joke und gehen.

Pause.

Küken  kommt mit Gläsern zurück. Sie schaut Mandy  an Wann hat sie gesagt, daß sie zurückkommt?

Carmen: Wie weit ist es denn bis zur Tanke? Da wollte sie hin, was zu trinken holen.

Küken: Was? Das ist fast an der Autobahn!

Carmen: Naja …

Nora: Wo ist dein Vater?

Küken: Wer?

Carmen: Dein Vater?

Küken: Mein Vater? Weggegangen vor zehn Jahren.

Carmen: Wollen wir den Schnaps kalt werden lassen? hebt das Glas Na dann!

Küken: Ich weiß nicht … Einfach so … das ist ja … – Nein! Wir müssen was sagen!

Carmen: Auf dich, Kleine! Und auf Dich, Mandy! Auf die „Schwestern“!

Küken: Mandy heißt du!

Carmen: Jawohl, Mandy heißt sie! – Na los, Mandy! Alle Menschen sind Schwestern, wie Nora sagen würde!

Nora: Wildfremde Leute, die geschwisterlich zueinander­finden! Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben.

Carmen: Die Hoffnung, daß wir dich finden, Kleine!

Nora: Es ist ein langer Weg zu so einem Ereignis!

Carmen: Den Mandy nicht allein gehen konnte, Kleine! Wir haben sie begleitet!

Küken: die Mandy die ganze Zeit angeschaut hat Also Mandy heißt du!

Carmen: Und du? zu Mandy Das müßtest eigentlich du sie fragen, „Schwester“!

Video: Die Frau und der Junge kommen. Die Kamera folgt ihnen. Mutter und Sohn im Plattenbau. Fernsehen in der Küche. Die Mutter packt Eingekauftes aus. Der Junge am Fenster. Guckt ausdruckslos hinaus. – Die Sprem tanzt. – Glücklicher Blick des Jungen. Freudentränen. – Die drei Mädchen als Punkerinnen im Heron-Durchgang. Rauchen, blicken teilnahmslos vor sich hin.

Carmen: ruft Hey, Mandy!

Mandy hat sich weggedreht.

Carmen: Es ist echt zu viel für sie.  – zu Küken Ich bin Carmen. Und das ist Nora. Und du?

Küken: Maria. Aber sie nennen mich Küken.

Carmen: Küken! Gut, daß wir mitgekommen sind, Küken! Deine … „Schwester“  .. es hat sie übermannt …  Also auf dich, Küken!

Sie trinken.

Carmen: Und nun, Küken, wenn Du etwas zu essen hättest? Wir haben einen Mordshunger!

Küken: In der Küche ..

Carmen: zu Mandy Na los!

Mandy steht da und rührt sich nicht.

Carmen: He? Was ist los?

Küken: zu Carmen Wieso kommst sie jetzt auf einmal und so plötzlich? Und so spät? Und wo kommt sie her?

Carmen: legt ihren Arm um Kükens Schultern, im Abgehen Aus Dresden, Küken. Aus Dresden! Hast du nicht gehört, was für einen Dialekt sie spricht?

Alle ab.

4

Auftritt Frau Tillich. – Küken kommt aus der Küche.

Frau Tillich: Du bist noch nicht im Bett?

Küken steht unter der Tür.

Frau Tillich: Geh ins Bett nun.

Küken: Wieso.

Frau Tillich: Wieso? – Es ist spät.

Küken steht unter der Tür.

Frau Tillich: Maria, du hast noch einen Monat bis zu den Prüfungen! Du mußt die Schule schaffen. Du brauchst deinen Schlaf!

Küken: Wo warst du?

Frau Tillich: Spazieren.

Küken: Hat sie dir denn nicht gesagt, wer sie ist?

Frau Tillich: Wer hat mir was gesagt?

Küken: Das Mädchen, daß du … die Mädchen, die du hochgeschickt hast!

Frau Tillich: Sag mal, du hast doch nicht etwa was getrunken?

Küken: Du hast doch die Mädchen hochgeschickt?!

Frau Tillich: Hör auf! Was soll denn das!

Pause.

Küken:  Sie ist da.

Frau Tillich: Wer ist da?

Küken: Sie, über die hier nie gesprochen wird, und die doch immer irgendwie anwesend ist.

Frau Tillich: Ich verstehe nicht?

Küken: Deine andere Tochter, deine heißgeliebte!

Frau Tillich: scheuert ihr eine – So, das ist für deine, deine …

Pause.

Frau Tillich: Maria, es gibt Grenzen!

Pause.

Küken: Sie ist drüben in der Küche.

Frau Tillich: Du sollst aufhören, hab ich gesagt! Was ist denn los mit dir?

Küken: Sie ist da. Geh rüber.

Pause.

Küken: böse Und trink einen Schluck. Ich habe was, Wodka.

Frau Tillich scheuert ihr noch eine.

Küken: unbeeindruckt Trink was mit ihr.

In der Küche, vom Wohnzimmer getrennt nur durch eine Durchreiche, hört man ein Geräusch.

Frau Tillich: Wer ist das?

Küken: Sie.

Frau Tillich: Quatsch!  ruft Sascha!

Küken: Gib dir keine Mühe. Der schläft wie ein Murmeltier.

Wieder Geräusche aus Küche und Korridor –Frau Tillich reißt die Wohnzimmertür auf. Man sieht Mandy, Nora und Carmen, die eben  die Wohnung  verlassen wollen.

Küken: Darf ich vorstellen ….

Nora: von draußen Nora.

Carmen:  hereinkommend Guten Morgen!

Nora: von draußen, sie steht zwischen der Wohnungstür und Mandy Wir sind zu dritt.

Nora schiebt Mandy herein. – Schweigen.

5

Wohnzimmer der Tillichs.

Frau Tillich: Wer sind Sie? Wie kommen Sie hier herein?

Pause.

Carmen: Nicht ich bin es. Sie ist es! zeigt auf Mandy – Warum sagt denn keiner was?  – Also, was mich betrifft, ich bin mitgekommen, weil …

Mandy: Hör auf! Sie ist ganz blaß!

Carmen: zu Mandy Der weite Weg zu deiner … ja, man muß es mal aussprechen … zu deiner Mutter; und nun kneifen im letzten Moment, nur weil sie blaß wird!

Mandy: Nein, nein, nein … Frau Tillich, wir … Sie weiß nicht weiter; sieht sich ratlos um.

Frau Tillich: Ja?

Mandy: Wir wollten .. Wir haben ….

Nora: Wir hatten eine Autopanne. Deshalb ist es so spät geworden.

Frau Tillich: Was?!

Mandy: Ja, wir kommen aus  … also, ich komme aus .. Dresden ..

Pause.

Frau Tillich: Aus Dresden.

Pause.

Mandy: Wir gehen jetzt besser.

Sie macht kehrt.

Frau Tillich:  in den Abgang hinein Wie alt sind Sie?

Mandy: Wer?

Frau Tillich: Sie!

Mandy: Zweiundzwanzig

Pause.

Mandy: zu Frau Tillich Was ist mit Ihnen?

Pause.

Frau Tillich: leise Setzt euch!

Alle setzen sich. Pause.

Küken: Zweiundzwanzig stimmt.

Frau Tillich: fährt auf Halt den Mund!

Pause.

Frau Tillich: erschöpft Kind, holst du deine Flasche?

Küken: Wen meinst du mit „Kind“?

Frau Tillich guckt verständnislos.

Küken: Gut gut. Ich geh sie holen.

6

Auftritt Sascha.

Sascha: Was  ist das für ein Krach? Wer soll da … – Was ist denn hier los??!

Küken: Wundere dich nicht! – Ich bin gleich wieder da!

Ab, um den Wodka zu holen.

Sascha: Was soll das? – zu Frau Tillich Bis jetzt hast du nachts allein getrunken! Was ist los?

Frau Tillich: Warte, warte …  Ich brauch erst was zu trinken.

Sascha: Was ist los!? Was soll das!?

Küken: von draußen Deine Schwester ist da.

Sascha: Was?! Was für eine Schwester?!

Carmen: schiebt Mandy vor Da ist sie.

Sascha: Du bist was…. ?

Mandy: Ja, ich …. Naja, wie soll ich sagen ….

Küken kommt zurück.

Küken: leicht betrunken Na, Sascha? Jetzt sind wir zwei! Zieh dich warm an!

Carmen: Ja, noch eine Schwester1

Sascha: zu Frau Tillich Wer ist das denn? Auch eine „Schwester“? Und die andere?

Mandy: Sie haben mich … begleitet. Sie heißen Carmen und Nora.

Carmen: Sieh sie dir an! Siehst du nichts?

Sascha: Was soll ich sehen? Ähnlich sehen sie sich nicht! –  zu Mandy Du willst das Kind sein, daß sie zur Adoption freigegeben hat? – Wo bist du aufgewachsen? Wer sind deine Eltern …  – Wie hast du uns ausfindig gemacht, wie und wo lebst du sonst, wieso tauchst mitten in der Nacht hier auf? – Beantworte meine Fragen!

Carmen: zu Mandy Ich würde jetzt beleidigt gehen! Auf der Stelle!

Mandy: Meine Eltern sind geschieden, ich wohne bei meiner Mutter  …  Aber sie ist nie da, fährt in der Welt rum, verkauft Arzneimittel … 

Carmen: … Sie stellt sie zur Rede, da wird sie wütend, und knallt ihr den Namen von der leiblichen … Also: So erfährt sie Ihren Namen, Frau Tillich!

Nora: Naja und dann … Die Adresse …  Mit Internet .. Kein Problem!

Frau Tillich dreht sich weg. – Pause.

Küken: betrunken, zu Sascha Deine Schwester! Los! Umarme deine Schwester!  – zu Mandy Na los! Dein Bruder!

Beide rühren sich nicht.

Sascha: Ja …. sehr rührend ….

Carmen: Laßt uns darauf trinken!

Alle trinken verlegen.

Mandy: Noch einen bitte!

Sascha: Na, in dem Punkt bist du ihr ähnlich!

3. Akt

1

Wohnung der Familie Tillich. Draußen ist Morgen. Frau Tillich und Mandy sitzen am Tisch. Die Wodkaflasche, fast leer. Carmen schläft auf dem Sofa; Nora auf dem Fußboden.

Frau Tillich: Dann sollte ich nach Moskau ans Konservatorium. Mit dem ..  Vater. Ich Violine, er Bratsche. Und nun schwanger. Mit Kind, haben sie gesagt – geht nicht. – Ich hab gezögert, dann war es zu spät.. So habe ich das Kind ….  guckt Mandy an … zur Welt gebracht. – Ich hatte … was jetzt keiner glaubt – eine Laufbahn vor mir …  Wenn ich nach Moskau ginge. Aber mit Kind .. haben sie gesagt … Und so bin nach Moskau gegangen als Verräterin.  – sie dreht sich auf dem Stuhl, guckt ihre Wohnung an Das ist auch die Welt. Das hätt ich haben können mit  … sie schaut lange Mandy an  … – Aber das Herz, verstehst du. Zu Ende studiert hab ich. Und dann .. naja  …  … Den Mann, den Vater, hatte ich schon lange verloren .. – Und er … ach … 

Pause.

Mandy:  Der Vater von Maria und Sascha, wo ist der?

Frau Tillich: Auch weg. 

Pause.

Frau Tillich:  Was hast du erzählt vorhin, was du arbeitest?

Mandy:  Ich spiel in ’ner  Reggaeband.

Frau Tillich:  Also auch Musik!

Mandy: Zufall!

Frau Tillich:  Natürlich. Nicht alle Gaben verteilen sich auf jedes Kind! Maria hat überhaupt kein Talent zur Musik!  – Bei ihr sucht es sich einen Ausweg in die Liebe!  … Sie hat sich in einen Nachbarn verliebt. Zehn Jahre älter. Natürlich will er nichts von ihr wissen. Und nun schnappt sie über. Will weg.

Mandy: Wohin?

Frau Tillich:  Weiß nicht. Jamaika! Dort sind die Leute arm, sagt sie, aber es gibt Solidarität!

Pause.

Frau Tillich:  Dieser Nachbar, Sozialarbeiter, kümmert sich um die Kids hier im Stadtteil.  – Wieso sie auf den abfährt! Es ist so schlimm mit ihr, daß ich heute nacht zu ihm gehen mußte.  – Sie wollte weg. Sie wollte heute weg, verstehst du, was weiß ich wohin. Weil er ihr wohl irgendwie die Meinung gesagt hat …  Auf Knieen gebeten hab ich sie, zur Vernunft zu kommen …  Jamaika?! Hab ich Jamaika gesagt? Die stürzt sich doch ins Unglück!  – Wie will sie denn da hinkommen?!  …. Und da sag ich zu ihm, er soll netter zu ihr sein. Soll mal mit ihr ins Kino gehen! Damit sie bleibt. Damit sie noch ein bißchen Hoffnung hat. Daß ich nicht allein bin.

Pause.

Mandy:  Und du hast wirklich … bis heute, 22 Jahre lang … gelitten, weil  .. du hast dir Gedanken gemacht um diese … um dein Kind? Um einen Menschen, den du gar nicht kennst?

Frau Tillich:  Nicht kennen? Jede Stunde, immer, war es … warst du da ..

Pause.

Mandy: Nimmt einen letzten Schluck aus der Flasche Red weiter, „Mutter“.

Frau Tillich: Mutter. Was bin ich für eine Mutter.

Mandy:  Naja .. Wenn ich an meine zu Hause denke …

Frau Tillich: Sie ist deine Mutter. Wer hat dich denn groß gezogen.

Mandy: Sie nicht.

Frau Tillich: Wie?

Mandy: Ich bin einfach so aufgewachsen.

Pause.

Frau Tillich:  Dieser Nachbar, der Sozialarbeiter …. Maria sucht in Wahrheit einen Vater! Das nämlich steckt dahinter! …  – Und Sascha geht weg, weil er heiraten will.  – Heiratet und geht nach Cottbus zum Fußball. – Weil er Fußballer ist. Und so, daß sie ihn nach Cottbus holen. Das paßt ihm  … seine zukünftige Frau studiert nämlich dort.  –Alle gehen weg. Und auf einmal, wenn ich denk, ich bleib allein … sie schaut Mandy an

Mandy:  So, er heiratet.

Frau Tillich:  Ja, eine Studentin! Eine  Miß Brandenburg!

Mandy:  Eine was?!

Frau Tillich:  Die sehen sich ganz oben beide! Er im Fußball und sie als Model oder so was! Wenn er sich nur da nichts vormacht! In Wahrheit nämlich ist er – naja, ein einfacher Junge …  –  Ich erzähl dir alle meine Sorgen, wie.  – Ich leg mich jetzt nieder. Und du? Hau dich auch noch eine Stunde hin. Sascha schläft heute aus. Ich werd ja nicht schlafen können. Da auf der Couch ist Platz. Und wenn wir aufgestanden sind ….

Mandy:  … muß ich mir klarwerden über  .. vieles .. .

Frau Tillich:  Ich auch.

Geht.

2

Mandy vor den schlafenden Mädchen.

Mandy: Aufstehen, Carmen, los! Nora!

Carmen: Ist das ein scheiß Leben … Den ganzen Monat schon hab ich zu wenig Schlaf .. Der einzige Tag, wo man mal ausschlafen kann, ist der  Sonntag ….  und da kommt irgendsoein … – Wo bin ich?

Mandy: Ja, wo bist du!

Nora ist wortlos aufgestanden. Sie hat schon Jacke, Mütze und Wollschal in der Hand.

Nora: Es ist so hell draußen. Die Sonne scheint. Scheint auf den Schnee. Ein Morgen für Optimisten.

Carmen: ist ebenfalls hoch gekommen  Was?

Nora: Da, eine Straßenbahn! Sonntäglich leer bis auf ein altes Mütterchen, daß zum Entenfüttern fährt an irgendeinen zugefrorenen Teich.

Mandy: Du solltest Romane schreiben. Tieftraurige, melancholische Romane. Vielleicht würde ich sie lesen.

Nora: Jawohl, heimgekehrte Töchter sollten Romane lesen.

Mandy: Was soll das denn heißen?

Nora: Sie sind geschützt wieder, haben ein Zuhause.  – Hast dich mit deiner Mutter unterhalten, Schwesterlein, wie? Die ganze Nacht?

Mandy: Weißt du, was wir angerichtet haben? Wenn die die Wahrheit erfährt ..

Carmen: die nun endgültig munter ist Genauso ist es. Wir müssen verschwinden, schleunigst.

Nora: Wir hätten hier was etablieren können.’Ne Schwestern-WG. 

Carmen: abmarschbereit Los jetzt! Keine Zeit zum Spinnen! – Was ist denn?!

Mandy: Wir können doch nicht einfach so …  – Ich … schreib ihr einen Zettel.

Carmen: Zettel Zettel Zettel! Ich will weg sein, eh hier jemand kommt!

Mandy: Diese Frau …  22 Jahre hat sie jede Minute an ein Kind gedacht, das sie gar nicht kennt …

Carmen: Eben deshalb, Herzchen, eben deshalb! Ein Ausmalheft! Welche Farbe das ganze kriegt, bestimmt sie! Die trauert, träumt, seufzt, spinnt sich ein. Das hat mit dem Leben nichts zu tun!

Mandy: Wie fertig muß die Frau sein, daß sie uns diese Geschichte geglaubt hat!

Carmen: Los jetzt!

Sie gehen zur Tür ….

3

… in dem Moment, in dem Frau Tillich wieder das Zimmer betritt. Sie trägt ein Kissen und eine Decke unterm Arm, die offensichtlich für Mandy gedacht waren.

Frau Tillich: Was denn …

Mandy erstarrt; Nora und Carmen unschlüssig.

Frau Tillich: Wo wollt ihr hin?

Mandy: Ich .. Eigentlich … Das hab ich dir nicht erzählt …

Frau Tillich: Du willst weg? Jetzt?

Mandy: Ich hab ein Konzert heute abend. Reggae, du weißt schon. Und bis Dresden ist es weit.

Frau Tillich konsterniert Verstehe .. Natürlich …

Mandy wendet sich ab.

Video: Die drei Mädchen und der Junge, schwarz gekleidet, in Reihe marschierend auf einer Landstraße. Am Straßenrand überfahrenes Getier: Katzen, Feldhasen, ein Igel.  Der Junge bleibt zurück. Die Mädchen marschieren und schwitzen. Nahaufnahme der Gesichter, über die der Schweiß läuft. Hinten am Straßenrand der Junge. Mit seinen Augen sieht man die Mädchen am Ende der Straße marschieren, ein ferner, verschwindender Punkt.

Mandy: dreht sich um Ich hab wirklich ein Konzert … Aber ich komme wieder … Ich glaube, wir spielen bald in Berlin … Nächsten Monat …

Frau Tillich schweigt.

Mandy: Versprochen! Ich komme!

Frau Tillich: Wärst du wirklich gegangen, ohne dich zu verabschieden?

Mandy: Ich dachte, du schläfst schon .. ich wollte dich nicht wecken … Und .. es fällt mir wirklich schwer, mich von dir zu verabschieden.

Frau Tillich: Ist das wahr?

Mandy: Ja.

Frau Tillich: Na gut, wenn du los mußt … Wann ist das Konzert in Berlin?

Mandy: Ich weiß nicht genau .. In zwei, drei Wochen …

Frau Tillich: gibt Mandy die Hand Auf Wiedersehen.

Carmen: Also wir müssen jetzt!

Frau Tillich: Einen Moment!

Geht ins Nebenzimmer.

4

Sobald Frau Tillich verschwunden ist, wollen Carmen und Nora ab durch die andre Tür.

Nora: dreht sich um Was ist denn?! Los! 

Mandy: Ich komme nach.

Carmen: steckt den Kopf durch die Tür  Was denn, Mensch! Ich will nicht mit ansehen, wie die aus allen Wolken fällt!

Mandy: Ich halte dich nicht.

Carmen: Was machst du denn für ein Gesicht?

Mandy: Ich weiß nicht ..

Carmen: Na schön, ich hab dir das eingebrockt. Ich hatte eben gestern so’ne Laune .. 

Mandy: Gleich kommt sie wieder rein, und wir sind nicht mehr da. Könnt ihr euch das vorstellen?

Nora: steht unter der Tür Ich gehe.

Carmen: Sehr vernünftig.

Nora: Ohne dich. Ich muß jetzt allein sein.

Carmen: Auf einmal.

Nora: Ihr seid unheimlich anstrengend, jeder auf seine Art.

Carmen: zu Mandy Hörst du das?! Los jetzt! Komm!

Mandy zögert.

Nora: unter der Tür Mandy, hier ist nichts zu retten!

5

Aus seinem Zimmer kommt mit freiem Oberkörper Sascha. Er hat ein Handtuch über der Schulter.

Sascha: Ah die nächtlichen Eindringlinge. Guten Morgen, die Damen!

Carmen: Guten Morgen.

Sascha: Gut geschlafen?

Carmen: Hätte besser sein können – unter gewissen Umständen.

Sascha: Ein Fünf-Sterne-Hotel sind wir leider nicht.

Carmen: anzüglich Das meine ich nicht.

Sascha: Tja,  jeder Service wird hier nicht geboten.

Carmen: Wie meinst du das?

Sascha: Die Ladies werden’s schon richtig interpretieren. – Wenn ihr mich dann entschuldigt. Ein Sportler hat sein Programm – auch am Sonntag.

Ab. – Steckt noch einmal den Kopf aus der Badtür:

Sascha: Achso … Schon gefrühstückt?

Er verschwindet endgültig im Bad.

Carmen: Na das klingt doch so, als ob man …

Nora: Bist du verrückt?

Carmen: zu Mandy Und du?

Mandy schweigt.

Carmen: Achso! Jetzt geht mir ein Licht auf! Deswegen! Dann paß nur auf, daß du dich nicht in heillose Verwirrung stürzt! Du bist nämlich seine Schwester! legt den Arm um Noras Schultern Bei uns ist das was anderes!

Nora: Ich gehe! Ich laß mich nicht von einem nackten männlichen Oberkörper blenden!

6

Wenn Nora gehen will, Auftritt Frau Tillich. Sie hält etwas in der Hand.

Frau Tillich: Das ist eine Brosche. Gehörte zu was wie einem Ordenskleid. – Also: Von meiner Urgroßmutter.  Schwester war die in einem Lazarett im 1. Weltkrieg. Das Ding hier ist weitergegeben worden von Generation zu Generation .. immer an die älteste Tochter.  Wenn du nicht gekommen wärst – ich hätt sie mit ins Grab genommen.

Pause.

Frau Tillich: Meine Urgroßmutter hat studiert, was eine Leistung gewesen ist für eine Frau damals. Und dann hat sie sich gemeldet, um sterbenden Soldaten die letzten Stunden zu erleichtern.

Mandy rührt sich nicht.

Frau Tillich: Sie war ein guter Mensch. Sie konnte nicht vorbeigehen am Leid anderer.

Mandy nickt.

Frau Tillich: Sie hat dafür bezahlt. Sie ist an Typhus gestorben. In Flandern.

Mandy: nimmt die Brosche und legt sie auf den Tisch Danke. – Ich werde doch nicht jetzt nach Dresden zurückfahren …. Heute ist Sonntag, ich bleibe noch und fahr heute abend .. gleich zum Konzert.

Frau Tillich: Geht denn das?

Mandy: Warum nicht. Die Musik, das hab ich immer …

Frau Tillich: Du bleibst? Dann können wir ja … Ach, schade! spricht schnell Ich hab ja heut nachmittag .. also ich muß ins Orchester.  Wir haben ein … Sowas wie eine Matinee. Im Kulturhaus in Potsdam. Aber es dauert nicht lange! Ein, zwei Stunden, dann kann ich weg! wendet sich an Nora und Carmen Und Sie? Bleiben Sie auch?

Nora: Eigentlich …  Wir haben Mandy hierher begleitet, wir haben unsere Mission er …

Sascha kommt aus dem Bad zurück, geht an ihnen vorbei und verschwindet in seinem Zimmer.

Carmen: ..  unsere Mission erfüllt, jaja, aber ich weiß nicht, ob sie uns nicht doch noch braucht .. Es ist doch ganz schön viel, emotional, mein ich  …

Frau Tillich: Sie bleiben? Dann werden wir ja eine richtige Sonntagsgesellschaft sein!

7

Küken kommt und steuert das Bad an. Sie wirkt zerknautscht.

Küken: Mir ist hundeelend!

Carmen: Dann kipp’ gleich noch einen hinterher. Du weißt ja jetzt, wie’s geht.

Küken: Schnauze.

Carmen: Es soll helfen!

Mandy: Ein Glück, das du heute nicht in die Schule mußt.

Küken: Hat sich was mit Schule. Ausgeschult.

Frau Tillich: Nanana!

Küken:  Noch mal, zum Mitschreiben: School’s out! For ever!

Frau Tillich: Maria! Verderb uns nicht die Laune!

Küken: Uns?

Frau Tillich: Ja, wir verbringen den Tag gemeinsam.

Küken:  Von mir aus. Ich mach mich auf in die Welt.

Frau Tillich: Was?!!

Küken:  Was denn. Du bist ja nun versorgt.

Mandy: Hey, wie redest du mit deiner Mutter?

Küken: Oho! Spricht hier die ältere Schwester!

Mandy: So war das nicht gemeint.

Carmen: Also die Prüfungen  .. die würde ich vielleicht noch machen .. ?!

Küken: Und dann? S’ gibt sowieso keine Arbeit.

Frau Tillich: Und selbst, wenn es wenig Arbeit gibt! Bemühen muß man sich! Wie willst du denn leben ohne Arbeit?

Küken: Wie leben ohne Arbeit! Das dringlichste Problem der Neuzeit, zur Lösung vorgelegt einer gewissen Maria Tillich Sonntag morgens auf dem Weg ins Bad! Danke für die hohe Meinung, die du von mir hast! 

Sie will ins Bad.

8

Frau Tillich: Halt! Da ist Sascha drin. – Maria, ich will das mit der Schule jetzt ein und für alle mal klären!

Küken: Da gibt’s nichts zu klären. Ich verlasse diese Familie, gehe in die Welt und such mir eine neue Familie.

Frau Tillich: Was für eine neue Familie?

Küken: Die größte, die es gibt! Die Menschheit.

Frau Tillich: zu Mandy Vielleicht bin ich zu alt, um diese Generation zu verstehen!

Mandy: zu Küken Menschheit findest du überall!  Brauchst du bloß aus dem Fenster gucken.

Küken: Vorm Fenster seh ich nur Schnee. Irgendwie eingeschneit die Menschheit in dieser Gegend, wie?! 

Frau Tillich: Wißt ihr was, wir werden alle zusammen einen Spaziergang machen! Wie lange hab ich das nicht mehr gemacht! – Jetzt muß ich los, für zwei Stunden, dann bin ich zurück, dann brechen wir auf! Wie wär’s, wenn wir zur Angermühle wandern?

Sascha ist aus dem Bad gekommen.

Sascha: Wandern?

Frau Tillich: Ja, Wandern! Alle zusammen! Wie eine richtige Familie!

Sascha: Nicole kommt heute, hast du das vergessen?

Frau Tillich: Ach, du Schreck …

Küken: Das Wohnzimmer sieht nicht gerade aus, als könnte man darin Besuch empfangen! mit Blick auf die drei Mädchen Ist ja kein Wunder!

Frau Tillich: wechselt ins Wohnzimmer Erst mal die Fenster auf. Morgenluft!

Sascha: mit freiem Oberkörper, ist ans Fenster getreten Wen haben wir denn da? Der Sozialarbeiter, dein Freund und Helfer – besonders, wenn man weiblich ist! – Komm ans Fenster, Schwesterchen, wink ihm und nimm zum zweiundfünfzigsten mal Abschied! Oder hast du das heute schon gemacht?

Küken: Ich weiß, warum ich hier weg will!

Sie verschwindet im Bad. Mandy ist ans Fenster getreten. Ebenso Carmen und Nora.

Mandy: Das ist er also.

Sascha: flankiert von den Mädchen Wieso gucken alle nach dem?

Carmen: Weil er so gut aussieht!

Sascha: Was?!

Mandy: Doch doch. Er sieht Spitze aus!

Sascha: Das ist nicht dein Ernst?!

Mandy: Als hätte er einiges hinter sich  .. Einiges, was mich interessieren würde!

Carmen: Mich auch!

Sascha: Werft euch ran! Werft euch nur ran! Riesig freuen wird er sich – über weiteren Zuspruch aus der Familie Tillich!

Carmen: Wir sind doch nicht etwa eifersüchtig?

Sascha: Abgesehen davon, daß ich nicht verstehe, wovon die Rede ist, ist es Zeit, sich um das Frühstück zu kümmern. Geht jemand Mutter zur Hand?

Mandy: Ich. Und nach dem Frühstück geh ich. Das mit dem Spaziergang ist keine gute Idee.

Sascha: Das hat sich sowieso erledigt, weil Nicole …

Mandy: Genau.

Sascha: Was heißt das?

Mandy: Ich will mich nicht gleich in die tiefsten Familienangelegenheiten drängeln. 

Ab. – Pause.

Sascha: Ja, die Damen, ich muß mich anziehen.

Ab.

Carmen: Und du? Willst du jetzt auch den Abflug machen? Nach Hause fahren?

Nora: Hab ich das gesagt?

Carmen: Ich dachte, ich hätte so was gehört.

Küken: vom Korridor Bad ist frei!

Carmen: tritt auf den Korridor Zahnbürste vorrätig für uns?

Küken, Nora, Carmen ab ins Bad. – dann Küken zurück. Sie verschwindet in ihrem Zimmer.

9

Mandy deckt den Tisch. Sascha kommt.

Sascha: Willst du wirklich gleich nach dem Frühstück gehen? Sie kommt erst heute abend. Außerdem … du gehörst zur Familie ..

Mandy: Es ist mit uns viel passiert in den letzten Stunden.

Carmen kommt herein, mit Zahnbürste in der Hand.

Carmen: sieht Sascha  Oho! Schick, schick! Toller Pulli! Aber gar nichts an, hat ihm auch gestanden! – Was ich fragen wollte: Das Schwesterlein, ich mein, das kleine, die Kratzbürste, kann keine Zahnbürste finden für mich.

Sascha: Zahnbürste, ja, ich weiß nicht … 

Carmen: Ein Handtuch würde ich auch brauchen.

Sascha: Nach einem Handtuch mußt du Mutter fragen.

Carmen: Ich dachte, der Herr würden das erledigen für mich? Aus Sympathie?

Nora kommt.

Nora: zu Sascha Ich wollte nach einer Zahnbürste fragen?

Sascha: Das Schwesterlein, das kleine, kann keine finden für dich, wie? – Ich hol mal Handtücher. 

Ab.

Mandy: Na Mädchens, so ganz ohne Mundhygiene? – Schlecht für gewisse Aktivitäten .. .

Nora: Es geht hier um eine ganz normale Morgentoilette.

Carmen: Dann mache! Verschwinde im Bad! – da Nora nicht geht Was ist?

Nora: Und du?

Carmen: Ich bin fertig. Ich hab mir die Zähne geputzt. zeigt ihre Zahnbürste Willst du?

Nora: nimmt sie Augen zu und durch.

Ab. – Auch Carmen geht; bleibt unter der Tür stehen

Carmen: zu Mandy Vergiß nicht, er ist dein Bruder!

Mandy: Ja, und ich möchte mit meinem Bruder reden .. Dinge, die nur die Familie angehen, du verstehst?

Carmen: Mandy, wenn du …

Sascha kommt zurück mit Handtüchern.

Carmen: nimmt ein Handtuch, knickst Oh, danke.

Carmen ab.

Carmen: dreht sich noch mal um Bruder und Schwester! Wie ihr euch ähnlich seht! Kaum zu glauben!

10

Mandy deckt den Tisch; Sascha schaut ihr zu.

Mandy: Hilfst du deiner Mutter nie bei der Hausarbeit?

Sascha: Nie.

Mandy: Beim Tischdecken zum Beispiel?

Sascha: Nie. 

Mandy: Aber mir vielleicht?

Sascha hilft ihr.

Sascha: Es ist nicht einfach, wenn man plötzlich eine  ..  noch eine Schwester hat.

Mandy: Bei mir ist es eine ganze Familie.

Sascha: Mir wär es lieber, die andere Familie wäre deine richtige Familie.

Mandy: Mir nicht.

Sascha: Bist du sicher?

Mandy: Hilf mir Tischdecken!

Sascha: hilft ihr Ich wüßte nicht, wann wir das letzte Mal den Tisch gedeckt und alle zusammen gefrühstückt hätten.

Pause – sie decken den Tisch.

Mandy: Du gehst tatsächlich nach …. Wie heißt dieses Nest?

Sascha: Cottbus.

Mandy:  … und läßt deine Mutter allein hier?

Sascha: Ich krieg einen Vertrag.

Mandy: Bundesliga!

Sascha: Naja, erst mal die Amateurmannschaft.  – Außerdem wohnt meine Verlobte dort.

Mandy: Aha.

Sascha: Nicole hier, mit Mutter – das ginge nicht gut.

Mandy: Wieso.

Sascha: Das Verhältnis könnte schwierig werden.

Mandy: Könnte?

Sascha: Sie kennen sich noch nicht.

Mandy: Dann läge das Defizit bei deiner Verlobten.

Sascha: Wieso?!

Mandy: Die Mutter ist in Ordnung. Also kann es nur bei der Verlobten liegen. Das darf ich sagen als Schwester.

Sascha: Naja, Nicole ist ..

Mandy: Die Miß Brandenburg.

Sascha: Die Miß Brandenburg spielt keine Rolle für mich.

Mandy: Für sie schon.

Sascha: Woher willst du das wissen.

Mandy: Das weiß ich.  – Aber du wolltest etwas sagen. Nicole .. ?

Sascha: Nicole ist manchmal … sehr drastisch ..

Mandy: Drastisch?

Sascha: Sie spricht ganz anders, als sie aussieht.

Mandy: Soso. – Der Eierbecher kommt links vor den Teller!

Sascha: Was?

Mandy: Einen Eierbecher stellt man links vor den Teller.

Sascha: Bei mir kommt er rechts hin!

Mandy: stellt den Eierbecher mit Nachdruck auf die andere Seite Links!

Sascha: Rechts!

Mandy: Links!

Mandy behält den Eierbecher in der Hand.

Mandy: Ich nehme mal an, sie sieht einigermaßen aus?

Sascha: Sie ist die Miß Brandenburg!

Mandy: Dann muß sie aber wirklich saumäßig sprechen! Ordinär! Wenn stimmt, was du sagst!

Sascha: Was sag ich denn?

Mandy: Daß sie anders spricht, als sie aussieht!

Sascha: Deine Logik …

Mandy: .. ist irgendwie konsequent. Und ist noch lange nicht am Ende. Die nächste Schlußfolgerung: Du brauchst eine andere Frau! Eine richtige! Das sage ich, deine Schwester! Die konsequente, logisch denkende Schwester!

Sascha: Schwester, Schwester! Ich hab an der einen genug!

Mandy: Im Ernst. Du solltest auf deine Schwestern hören.

Sascha: Auf wen?

Mandy: Auf mich.

Sascha: Gib den Eierbecher! Oder stell ihn auf den Tisch!

Mandy: hält ihn hinter dem Rücken Nein.

Er steht vor ihr.

Mandy: ruft, lauter als notwendig wäre Frühstück!

4. Akt

1

Vor den Plattenbauten. Straßenbahnhaltestelle. Michael und die Nachbarin fegen Schnee.

Nachbarin:  So viel Schnee. Mir tun die Arme weh.

Michael: Ihr Lebensgefährte schläft noch, wie?

Nachbarin: Warum nicht. Es ist Sonntag. Ich selbst kann nicht so lange schlafen.

Pause.

Nachbarin: Üben Sie nie Nachsicht? Nur um nicht allein zu sein?

Michael: Nee.

Küken kommt.

Michael: Kommst du etwa helfen, Küken? bemerkt ihren Rucksack Was soll das?

Küken: Ich gehe. Aber du wolltest ja keinen Abschied.

Michael: Wo willst du hin?

Küken: Weg aus der Eiseskälte.

Michael: Es wird auch wieder Frühling, Kind.

Küken:  Nenn mich nicht Kind. Frühling wird es nur in der Natur.

Michael: Verstehe. Die menschliche Kälte. – Und da machst du dich aus dem Staub?!

Küken:  Aus der Eiseskälte. – Egoisten seid ihr. Mein Bruder, seine Freundin, ihr alle.

Michael: Und deshalb ganz allein in die große weite Welt?

Küken:  Ich nehm eine gewisse Erinnerung mit.

Michael: Geh ins Kino mit mir.

Küken:  sprachlos

Michael:  Welchen Film schlägst du vor?

Küken:  Ich weiß nicht, was für einer läuft.

Michael:  Tagelang bestürmst du mich mit dir ins Kino zu gehen, und dann weißt du nicht, welcher Film läuft?

Küken:  Ich fahr in die Stadt und guck, was kommt. – Der Rucksack … ? – Ich bring ihn nach oben.

Ab.

Nachbarin:  Sie wollen tatsächlich mit dem Mädchen ins Kino? Warum?

Michael: Weil ich an ihre Mutter ranwill, Verehrteste.

Nachbarin: Das geht zu weit, Herr Blasewitz! Das geht zu weit!

2

Nora und Carmen kommen aus dem Haus.

Carmen: Hallo, junger Mann!

Michael:  Kennen wir uns?

Carmen: Du uns nicht, aber wir dich.

Michael: guckt Nora an Da wär ich mir nicht so sicher.

Carmen: Was heißt das?

Michael: zu Carmen Machst du auch so leere Versprechungen wie die da?

Carmen: Ihr kennt euch?

Nora: Er hat mich für eine Nutte gehalten. Nur weil ich nachts allein auf der Straße war.

Michael: Und wer hat mich angesprochen wie eine Nutte?

Carmen: zu Nora Was?!

Pause.

Michael:  Ihr verlaßt diese schöne Gegend wieder?

Carmen: Klingt das etwa bedauernd?

Michael: Man trifft nicht jeden Tag ein schönes Mädchen.

Carmen: Wen meinst du?

Michael: Die da kenn ich schon.

Nora: Puh!

Michael: Vielleicht war es aber auch nur der falsche Augenblick. – Schon was vor an diesem schönen Sonntagmittag?

Carmen: Und wenn nicht?

Michael: guckt bedeutungsvoll Nora an  Dann tun wir was gegen die Einsamkeit.

Carmen: zweideutig Kann ich mir nicht vorstellen, daß jetzt was los ist in dem Nest.

Michael:  Um die Ecke gibt es …. Dort wohnt ein Freund. Ich glaube, er gibt spontan eine Party.

Nora: Ich will eigentlich nur wissen, wann der nächste Zug nach Berlin fährt.

Carmen: Wenn diese Mandy sich mit ihrem Bruder vergnügt, warum sollen wir leer ausgehen?

Nora: Dein Freund wohnt …

Michael:  .. hier um die Ecke.

Nora: Gut.

Alle ab.

Nachbarin: Es mit zweien treiben! Und dann sich an die Mutter ranmachen! geht und kommt zurück – Unsereins hat auch seine Bedürfnisse!

Ab mit Schneeschieber.

3

Mandy und Sascha treten aus dem Haus.

Sascha: Schade, daß du schon fährst.

Mandy: Vielleicht mach ich einen Abstecher nach Potsdam ins Kulturhaus.

Sascha: Nach Potsdam?! Doch nicht etwa, um …

Mandy: Ja, ich will sie wenigstens einmal spielen gehört haben.

Sascha: Das ist aber ein Umweg. Oder fährst du nicht zurück nach Dresden?

Mandy: Dochdoch.

Pause.

Mandy: Du triffst dich mit deiner Verlobten?

Sascha: Ja, sie müßte schon da sein.

Mandy: Komisch.

Sascha: Was?

Mandy: Daß ihr euch in der Stadt trefft. Daß sie nicht einfach zu dir kommt.

Sascha: Wir gehen heute abend gemeinsam hin. Zum ersten Mal. 

Pause.

Mandy: Na dann.

Pause.

Mandy: Was ist?

Sascha: Fahr nicht nach Potsdam.

Mandy: Wieso nicht?

Sascha: Du wirst Mutter dort nicht treffen.

Mandy: Nicht?!

Sascha: Nein, sie ist … Man hat sie entlassen. Wegen .. naja ..

Mandy: Wegen was?

Sascha: Weil sie trinkt. – Sie macht so Mucken. Heute, glaub ich, eine Beerdigung.

Mandy: Du sagst das, als wäre das irgendwie beschämend. – Sie macht Musik, da, wo sie gebraucht wird.

Sascha: Es ist nicht das, was sie braucht.

Mandy:  Was braucht sie denn?

Sascha: Naja, das Zusammenspielen .. das zusammen sein mit den anderen … – Das ist .. wie sagt man … das ist mehr als die Summe aller Beteiligten ..  Das ist eben .. naja, was weiß ich … Kunst … Spiel …   Und nun hat sie es nicht mehr …  Trotz des Opfers …

Mandy:  Das weggegebene Kind?

Sascha: Alles umsonst ..  Sie kann sich das nicht eingestehen. Sie würde sonst … naja ….. Deshalb spielen wir mit … Küken und ich … Tun so, als wäre sie noch im Orchester …

Pause.

Sascha: Schockiert?

Mandy: Weiß nicht …

Pause.

Sascha: Ist Quatsch.

Mandy: Was?

Sascha: Das, was Mutter sucht.

Mandy: Wieso? Wenn ich Musik mach – ich such genau das!

Sascha: Gemeinsamkeit, ja. – Man sagt immer, wir sollen ein Team sein ..  Beim Fußball … Und wir wollen auch, jeder für sich ..  Du hast den Traum, daß du in einem Team bist, ja .. – Du hast diesen Traum, solange du in Wahrheit allein bist ..

Pause.

Mandy: Wenn ich dich eher kennengelernt hätte ..

Pause.

Sascha: Cottbus reizt mich eigentlich nicht.

Mandy: Meine Mutter war nie da, als ich klein war, Geschwister hatte ich nicht, Freunde naja   ..

Pause.

Mandy: Cottbus reizt dich nicht, und trotzdem wirst du hinfahren.

Sascha: Ja, Schwester.

Mandy: Schwester,  Schwester, Schwester! Ich kann das Wort nicht mehr …  Sie bricht ab.

Video: Mutter und Sohn. Der Sohn am Fenster, schaut hinaus. Hinten die Mutter  im dunklen Korridor. Sie kommt aus dem Bad, hat nur ein Handtuch um die Hüften. Man sieht, wie sie in ein anderes Zimmer geht. Jetzt kommt sie, Handtuch und BH,  in das Zimmer, in dem der Junge am Fenster sitzt. Sie sagt etwas zu ihm, wenn der Junge antwortet, dreht er sich nicht um.

Mandy: Schwester,  Schwester, Schwester! Ich kann das Wort nicht mehr …  Nein, es geht nicht.

Sascha: Was geht nicht?

Mandy: Nichts. Mach’s gut, Bruder.

Sascha: Wann kommst du wieder?

Mandy: Mach’s gut.

Pause.

Mandy: Du gehst in die Stadt? Triffst dich mit deiner Verlobten?

Sascha: Ja.

Pause.

Mandy: Mach’s gut.

Sascha geht.

Mandy: Mach’s gut.

Schnell ab …

4

…. aber von vorn kommt ihr Michael entgegen, der Carmen und Nora im Arm hat. – Mandy bleibt stehen.

Mandy: Was wollt ihr noch hier?

Carmen: Und du – auf dem Heimweg? Abschied überstanden?

Mandy: Was wollt ihr noch hier!

Carmen: Hehe! Was ist los?

Michael: Wer ist das?

Mandy: zu Michael Kannst du mich mal mit denen alleine lassen?!

Michael: Nicht ohne dich vorher auch einzuladen. Mein Freund gibt spontan eine Party.

Nora: Wir holen bloß noch unsere Sachen.

Mandy: zu Michael Du sollst mich mit denen alleine lassen!

Michael: Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? zu Carmen und Nora Die Nummer 16, Blasewitz. zu Mandy Sie stellen ihre Sachen bei mir unter. Wenn du auch bleiben willst .. Vielleicht verbessert das deine Laune.

Er küßt sowohl Carmen als auch Nora.

Mandy: Ihr fahrt jetzt ab. Mit mir. Ihr seid einfach so in eine fremde Familie reingeplautzt und habt ein Riesenunheil angerichtet. Schluß jetzt! Ihr mischt euch nicht mehr in die Angelegenheiten der Familie Tillich ein!

Carmen: Wir holen bloß noch unsere Sachen. Danach ist die Familie Tillich komplett aus unserem Gedächtnis gestrichen.

Mandy: Euer Freund da ist der Freund von Küken!

Carmen: Und wen es so wäre!

Mandy: Auch Küken hat das Recht, ernst genommen zu werden!

Carmen: Dieses Kind? zu Nora Jetzt dreht sie durch!

Mandy: Jedermanns Gefühle verdienen es, ernst genommen zu werden!

Carmen: Ich nehm meine ernst.

Mandy: Du hast gar keine!

Carmen: Woher weißt du das? Vielleicht haben sie nur kein Ziel? Vielleicht hoffe ich auf dieses Ziel?  – Aber bis dahin – was soll ich machen?  Die Zeit verstreichen lassen? – Ich nehme, was kommt.

Mandy: Ja, ich weiß.

Carmen: Das ist nicht nur egoistisch!

Mandy: Wieso?

Carmen: Nora hier – schau sie dir an! Wie sie da steht!  Wie bestellt und nicht abgeholt! Weil sie zu zaghaft ist und träumt.

Nora: Ich kann mir nicht nehmen, was ich brauche. Ich versuche es, aber dann kann ich es nicht.

Carmen: Hat Michael gesagt.

Mandy: Und der weiß es, wie!

Nora: Ja.

Pause.

Carmen: Wir holen jetzt unsere Sachen …

Mandy: Ich warte hier.

Carmen: .. und bringen sie in die Wohnung von Michael.

Mandy: Nein!

Pause.

Mandy: zu Nora Du kannst nicht so sein wie die anderen, weil du noch ein Mitgefühl hast!

Nora: Ja, aber ich kann es nicht ernst nehmen.

Carmen: Wir holen unsere Sachen.

Küken kommt.

5

Küken: Wie habt ihr euch entschieden? Bleibt ihr oder fahrt ihr?

Carmen: Wir verlassen euch. Wir verlassen die Tillichs. Wir holen nur noch unsere Sachen. Nicht wahr, Mandy?

Carmen und Nora gehen ihre Sachen holen.

Mandy: Und du? Doch nicht weggefahren?

Küken: geheimnisvoll Ich komm aus der Stadt.  da Mandy nichts sagt Frag mich ruhig!

Mandy: Du hast geguckt, was im Kino kommt!

Küken: Klar.

Mandy: Treffen wir eine Abmachung?

Küken: Welche?

Mandy: Du bist ein bißchen da für deine Mutter? Wenn Sascha weg ist? Wenn ich .. nicht hier bin?

Küken: Meine Abreise ist nur aufgeschoben.

Mandy: Für wie lange?

Küken: Weiß ich noch nicht.

Mandy: Aber bis dahin …

Küken: .. bin ich da, klar.

6

Michael kommt.

Michael: Hallo, Küken! zu Mandy Wo bleiben die denn?

Küken: Wo bleibt wer?

Michael: Küken, hör mal …

Mandy: schnell Sie hat geguckt, was im Kino kommt!

Michael: Sie hat geguckt, was im Kino  …? – zu Küken Wir müssen das verschieben.

Küken: Was?

Michael: Auf morgen. Oder übermorgen. – Übermorgen gehen wir!

Küken: Wieso denn?

Michael: Mir ist was dazwischen gekommen.

Mandy: zu Michael, drohend Dir ist was dazwischengekommen? Bist du sicher?

Michael: Was ist los? Was soll der Ton?

Mandy: zu Michael Carmen und Nora werden mit mir abfahren. Jetzt.

Michael: Da klangen sie aber eben anders. Ganz anders.

Küken: Wer? Wer klingt anders?

Mandy: Ich werde dafür sorgen, daß sie abfahren!

Küken: Michael! Wieso gehen wir nicht ins Kino!?

Mandy: Ihr geht!

Michael: Was mischst du dich hier ein? Bist du ihre Gouvernante? – Die beiden bleiben hier! Sie gehen mit mir zur Party!

Küken: Was?!

Michael: Ja, Küken, ich verbringe den Abend mit zwei Mädchen. Deshalb gehen wir nicht ins Kino.

Küken: Was?!

Michael: Glaubst du, ich gehe mit dir ins Kino, weil ich in dich verliebt bin?

Küken: Weswegen dann?

Kurze Pause.

Michael: Ach, leckt mich doch!

Will gehen.

Küken: Weswegen!

Michael: Weswegen? Weil mich deine Mutter drum gebeten hat! Weil sie sich Sorgen, um dich macht! Weil du spinnst!

Küken: springt ihn an Du Schuft! Du Schwein!

Sie kratzt Michael, reißt ihn  zu Boden; wenn sie Blut auf seiner Stirn sieht, geht sie still zur Seite. – Michael geht.

7

Carmen und Nora kommen mit ihren Sachen.

Mandy: So, da seid ihr. Geht gleich weiter. Setzt euch in die Straßenbahn und fahrt. Und werdet andere Menschen. – Ich bleibe. Ich repariere das hier.

Carmen: So! Auf einmal bleibst du!

Mandy: Ja.

Nora: die die unter Schock stehende Küken wahrnimmt Was ist mit ihr?

Mandy: Euer Werk!

Carmen: Du hast ihr gesagt, daß wir bei ihrem Angebeteten bleiben. Gut so. Nun wird sie erwachsen.

Mandy: Und du bist es. Denn du läßt die Zeit nicht verstreichen. schlägt sich auf die Brust Nur hier drin passiert nichts. Soll ich dir was sagen? Das wird so weitergehen. Das wird dein Leben sein.

Carmen: Und du weißt das!

Mandy: Ja, so ist das Leben überhaupt. Für die meisten.

Nora: Und du?

Mandy: Ich kümmere mich um die aussichtslosen Gefühle eines Kindes. Meine sind auch aussichtslos. Fahrt!

Carmen: Aus Prinzip nicht, Schätzchen.

Sie will gehen. Mandy stellt sich ihr in den Weg.

Carmen: Was soll das werden?

Mandy: Du gehst da nicht hin!

Mandy geht drohend auf Carmen zu.

Carmen: zu Nora Die hat was im Blick, das macht einem Angst und Bange!

Black.

5. Akt

1

Wohnung der Tillichs. Mandy, Carmen und Nora.

Carmen: Ich möchte wissen, warum ich hier bin!

Nora: sarkastisch Weil sie zu einer Jeanne d’Arc geworden ist.

Carmen: Zu einer was?

Nora: Vergiß es.

Carmen: mit Blick auf Mandy Nicht zurechnungsfähig ist die. Die hätte mir die Augen ausgekratzt auf offener Straße, wenn ich zu diesem Typ gegangen wäre. – Wieso läßt die uns nicht gehen?

Mandy: Weil ihr dann nicht abfahrt, sondern zu Kükens Freund geht.

Carmen: Das ist nicht Kükens Freund! Das ist ein erwachsener Mann! Du bildest dir was ein! Du bist krank!

Mandy: Halt’s Maul!

Sie hört angestrengt nach nebenan. Eine undeutliche Stimme ist zu hören.

Mandy: Sie redet mit ihr. Vielleicht beruhigt sie sich.

Carmen: Diese Küken hat sich verrannt. Die ist wie du.

Mandy: Seit sie zurück ist aus Potsdam, redet sie mit ihr!

Nora: Vor drei Stunden wollte sie noch einen großen Familienspaziergang machen. Alles sollte gut sein.

Mandy: Warum sagst du das?

Nora schweigt.

Carmen: Warum bin ich hier! Kann mir das mal einer sagen? Weil ich Angst vor der da habe? Ich muß verrückt sein!

Nora: Wo alles aussichtslos ist, da bin ich zu Hause. Deshalb bin ich hier.

Mandy: Ja, Nora.

Nora: Ich weiß auch, weswegen du hier bist!

Mandy: So.

Nora: Wegen diesem Sascha. Du wartest auf ihn.

Mandy: Wenn er kommt, kommt er mit einer Verlobten. Also warte ich nicht auf ihn.

Es klingelt. Mandy ist unwillkürlich aufgestanden.

Carmen: spöttisch Dein Sascha ist es nicht. Der hat einen Schlüssel.

2

Mandy: horcht nach nebenan Geht Frau Tillich nicht?  – steht auf Ihr bleibt sitzen!

Sie geht, öffnet, und Nicole, geschminkt und gestylt, steht im Zimmer. Mandy hinter ihr. Nicole blickt eine nach der anderen an. Mandy setzt sich.

Nicole: Fuck! Fuck! Fuck! Du bist das! Die neue Schwägerin! sieht sich um Willkommen im Elend!

Carmen: Und wer bist du?

Nicole: weiter sich umblickend Die Fragen stelle hier ich! Klar, Schätzchen?

Carmen: Wenn du zur Familie gehörst!

Nicole: Du hast’s erraten, Baby!

Sieht sich weiter um, streift geringschätzig über einige Inventarstücke.

Carmen: Zum erstenmal hier? – Bist so’ne Art externes Familienmitglied, wie?

Nicole: Und du? Der Kaufhausdetektiv im Ramschladen?

Carmen: In der Funktion kann ich dir was sagen: Du paßt hier nicht rein!

Nicole: mit einem abschließenden Blick Stimmt!

Carmen: Aber nicht, weil die Wohnung ein bißchen runtergekommen ist …..

Nicole: Was im Umkehrschluß hieße, daß ich zu gut aussehe für dieses Asyl? Aber das Kompliment wolltest du mir doch nicht machen, oder? – Weswegen, du Gesichtstopf, paß ich also nicht hier herein?

Carmen: Zu ordinär. Zu ordinär und zu aufdringlich.

Nicole: Na, in den Disziplinen können wir Wettkämpfe veranstalten!

Mandy: Dumm ist sie nicht, das kann man nicht sagen!

Pause.

Nicole: brutal Wo ist die Alte?

Mandy: Wer?!

Nicole: Meine zukünftige Schwiegermutter!

Carmen: Ich hab’s geahnt, aber nicht wahrhaben wollen!

Nicole: Was? Daß der süße Sascha mich zur Verlobten hat?

Mandy: Ja. Wo ist er?

Nicole: Wir haben uns gestritten, Schwesterherz. Wie ich ihn kenne, wird er mir gleich hinterher gehechelt kommen.

Man hört einen Schlüssel in der Tür. Auftritt Sascha.

3

Nicole: zu Sascha Viel reden tut sie nicht, die neue Schwester.

Sascha: zu Mandy Du bist noch da? – Wo ist Mutter?

Nora: Tröstet die Kleine.

Sascha: Wieder was mit dem Kiffer?

Nora: Der ist nichts für sie.

Sascha: Ach, nee.

Pause.

Sascha: zu Nicole Du bringst einen in Situationen!

Nicole: Ich bin stinksauer auf dich!

Sascha: Da hab ich mehr Grund.  – Ich war echt böse.

Nicole: Ich bin es noch.

Sascha: Jetzt sind wir hier. Ist gut nun.

Nicole: Ich hab gesagt, daß ich mitkomm. Aber ich hab auch gesagt: Ich bleib nicht den ganzen Abend!

Sascha: Mann, Mann, Mann …. Zum erstenmal bei meiner Mutter …

Nicole: … und ich will noch nach Berlin in den „Tunnel“, jawohl. Wieso findest du das unmöglich? Ich will mit einem süßen, kleinen Fußballer dorthin!

Sascha: mit Blick auf Mandy Nenn mich nicht so! – Was macht das für einen Eindruck! Kurz „Guten-Tag“ sagen, und dann wieder weg. Beim ersten Mal!

Nicole: Ich brauch auch ein bißchen Erholung. Der Tag ist schwer genug.

Sascha: Ich hol jetzt Mutter. Du bleibst heute Abend hier, verstanden?

Nicole: Nein.

Pause.

Mandy: Vielleicht hat die Lady recht! Und wenn sie recht hat, sollte sie sofort abfahren.

Sascha: zu Mandy Was mischst du dich ein?

Nora: Sie sollte fahren. Familie ist Streß. Das sollte sie sich gar nicht erst antun!

Mandy: Jawohl. Unserer Miß Brandenburg fährt jetzt in ihren Klub und erholt sich. Das ist die beste Lösung. Vor allem für einen gewissen Fußballer!

Sascha: brüllt Ruhe!

4

Frau Tillich erscheint.

Frau Tillich: Warum schreist du so!

Sascha: Mutter, das ist sie.

Frau Tillich: Wer? – Achja, die Verlobte! gibt Nicole die Hand Guten Tag!

Nicole guckt guckt sie überrascht an – mustert ihr Gesicht.

Frau Tillich: Ist was?

Nicole: Ich weiß noch nicht.

Sascha: Nicole?

Frau Tillich: Laß mal. Das ist sehr fremd für sie hier. zu Sascha, mit Blick auf Mandy Hast du es ihr erzählt?

Sascha: Ja.

Pause.

Frau Tillich: Ich hab einen Riesenfehler gemacht.

Mandy: Du wolltest das Beste!

Frau Tillich: Wieso bin ich zu diesem Michael gegangen? – Aber ich weiß es ja.

Mandy: Du wolltest das Beste!

Carmen: zu Mandy In der Liebe sollte man nie etwas für andere tun. Keine Sentimentalität! Wenns nicht die richtige ist!

Nicole: Die richtige?

Carmen: Das war nicht für dich gesagt, Herzchen.

Frau Tillich: Ich hab’s ja für mich getan. Und nicht aus Liebe. Aus Egoismus. Weil ich noch nicht allein sein wollte. Weil es noch so bleiben sollte, wie es ist.

Mandy: Mutter! So wie es ist, bleibt es nie. Auch wie es jetzt ist, auch was du jetzt denkst – es wird nicht bleiben.

Frau Tillich: Was willst du damit sagen?

Mandy: Nichts eigentlich. Es war allgemein gesprochen.

Carmen: Allgemeines Sprechen ist der Gipfel der Feigheit!

Mandy: Misch dich nicht immer ein!

Nicole: plötzlich zu Frau Tillich  Irgendwo hab ich sie schon gesehen!

Sascha: Wo willst du sie denn gesehen haben?

Nicole: Warte! Ich komm drauf!

Mandy: Sollten wir nicht den Sekt aufmachen, oder so was? zu Nicole Immerhin bist du zum erstenmal hier!

Nicole: Warte! Ich hab’s! Gleich hab ich’s! – Musik … Es hat was mit Musik zu tun!

Mandy: Na klar, sie ist Musikerin!

Sascha: Der Sekt! Ich hol den Sekt!

Mandy: Hol den Sekt! – Sie ist Musikerin!

Carmen: Und zwar im Konzertsaal, Schätzchen! Weißt du, was das ist? Ein Konzertsaal?

Mandy: Wo bleibt der Sekt?!

Nicole: Konzertsaal? – Nee ….

Sascha: von draußen Schluß jetzt! Ist denn das so wichtig?

Nicole: Ich hab’s! Jetzt weiß ich, wo ich sie gesehen hab! Wo sie Musik gemacht haben! Ja! Auf dem Vereins­fest! Auf dem Vereins­fest bei uns in Dubbrau!

5

Sascha mit dem Sekt und mit Gläsern.

Sascha: verteilt die Gläser Also, bitte schön! Für jeden eins! Moment, Moment, gleich schenk ich ein! Moment! Dein Glas bitte, Mutter! Die Hauptperson zuerst! – Weißt du Nicole, mit Sicherheit ist es nichts! Wahrscheinlich hast du alles nur geträumt! Jajaja, geträumt, sag nichts! Ich weiß ja, was du sagen willst! Wie soll ich, willst du sagen, ein Gesicht träumen, das ich gar nicht kenne! Nicht wahr! Ja, was soll ich antworten …. er schenkt weiter ein – Manchmal, vor großen Ereignissen, in großer Erwartungshaltung, unter großer inner Spannung … da ist der Mensch zu allem fähig, da erkennt er vor seinem geistigen Auge Menschen, die er gar nicht kennen kann!

Nicole: Von welchen großen Ereignissen soll hier die Rede sein? Der erste Besuch bei der Schwieger­mama! Wofür hältst du mich? So was ist für mich, wie wenn man … was weiß ich … wie wenn mir hinterher pfeift! Alltäglich! – Nein, ich hab sie tatsächlich gesehen, und zwar auf dem …

Sascha: Du irrst dich!

Mandy: Prost! Prost auf den Irrtum! Sascha hat recht! Du irrst dich!

Nicole: Wieso fängst du an mit Prosten?! Bist du hier die Zukünftige, oder ich?!

Sascha: Aber ich darf doch anfangen, oder?! Also: Prost! Prost auf …

Nicole: Wieso fallt ihr mir laufend ins Wort? Ich hab was gesehen, und darüber will ich reden. Es ist mein Beitrag zur Unterhaltung! Also, Sascha, ich habe deine Mutter …

Sascha: Kannst du nicht einmal zugeben, daß du dich irrst? Mir zuliebe?

Nicole: Ich irre mich doch gar nicht! Ich kann dir sogar noch das genaue Datum sagen: 28. Oktober 2006, ein Samstag. Gartenlokal „Zur fröhlichen Einkehr“ Dubbrau, Jubiläumsfeier zum 80jährigen Bestehen des Kaninchenzüchtervereins „Deutscher Riese“. Mein Vater, mehrfach preisgekrönter Züchter von „Deutschen Riesenschecken“ ist der Vorsitzende dieses Vereins. Und diese Frau da – steht vor Frau Tillich – ..

Sascha: Aufhören!

Mandy: Aufhören!

Nicole: unbeeindruckt …  hat Zigeunerlieder gespielt auf der Fiedel und keiner hat getanzt. War wohl nichts für Kaninchenzüchter. Da hat sie „Yesterday“ gefiedelt, und dann „Heute hauen wir auf die Pauke“. Das Lied war in Ordnung, aber das Instrument hat gestört. Keiner hat getanzt.

Mandy: Das ist nicht wahr.

Nicole: unbeeindruckt ...  Erst als mein Vater höchstpersönlich sich an den Synthesizer gesetzt und „In einem Polenstädtchen“gespielt hat, und „Schwarzbraun ist die Haselnuß“, sind die Züchter und ihre Frauen munter geworden. 

Mandy: Es ist alles nicht wahr!

Nicole: Das ist die Wahrheit, und wenn du sagst, das ist nicht die Wahrheit, dann nennst du mich eine Lügnerin, und wenn du mich eine Lügnerin nennt, dann kriegst du in die Fresse!

Mandy: Es ist aber wirklich nicht wahr! Versteh doch!

Nicole: Du willst also in die Fresse?!

Mandy: Weil es nicht wahr ist! Es ist nicht ihre Wahrheit!

Nicole: Wie du willst!

Frau Tillich: ruhig Es stimmt.

Nora: Was?

Frau Tillich: Im Oktober 2006 habe ich im Kaninzüchterverein in Dubbrau eine Mugge gehabt. Von so was lebe ich.

Sascha: Mutter! Red nicht weiter!

Frau Tillich: Daß ich in einem Orchester gespielt habe, ist lange her. Das war, bevor ich getrunken habe. zu Nicole Meine Kinder waren so freundlich, mich in dem Glauben zu lassen, alles sei noch wie früher.

Nicole: Wieso? Immer mit der Wahrheit leben, das ist der richtige Weg!

Mandy: Und wenn sie jemand nicht verträgt?

Nicole: Dann geht er zugrunde. So ist das Leben.

Sascha / Mandy: Mutter?

Frau Tillich:  Mir geht es gut. Es ist heraus, und mir geht es gut. schaut Mandy an Aber das liegt vielleicht an diesem Tag.

6

Auftritt Küken mit Rucksack.

Frau Tillich: Maria? Wo willst du hin?

Küken: Ich gehe. – Was bist du nur für eine Mutter!

Frau Tillich: Maria …

Küken: Wenigstens du hättest wissen müssen, daß dieser Mann nichts für mich ist! Statt dessen gehst du zu ihm und machst ein Date aus für mich. Kupplerin!

Frau Tillich: Maria, ich habe nur an mich gedacht. Ich habe gedacht, daß gibt’s sich schon, sie wird es schon merken, Hauptsache, sie bleibt. Verzeih mir.

Carmen: Vernünftig scheint sie ja jetzt  geworden zu sein.

Nicole: „Ich habe nur an mich gedacht“ Widerlich, dieses Asche aufs Haupt streuen! Jeder muß an sich denken! Das kurbelt die Wirtschaft an. Nur so funktioniert’s!

Mandy: Ah, die Miß Brandenburg weiß, wie’s funktioniert! Sie hat studiert, wie!

Nicole: Betriebswirtschaftslehre, Schätzchen.

Mandy: zu Sascha Dumm, herzlos und widerlich!

Sascha: schreit Was mischst du dich in meine Angelegenheiten!

Frau Tillich: Bitte! Schreit nicht! Ihr seid meine Kinder! Ich wünsche mir, daß ihr euch vertragt! Kinder und Schwiegerkind! Und ich will mich nach euch richten, will eine richtige Mutter sein! Ihr seid das einzige, was ich habe!

Küken: Zu spät. Ich reise ab – und zwar unwiderruflich. zu ihrer Mutter Vielleicht bist du ja erwachsen geworden, wenn ich zurückkomme!

Mandy: Du bleibst! – Wir haben eine Abmachung!

Küken: Hier bleiben? Wie soll man hier leben! IIn diesem Chaos von Selbstbezichtigung und Selbstdarstellung?!

Nicole: Selbstdarstellung, was meinst du damit?

Küken: Was ich damit meine? Dich meine ich, du Rohling! Siehst aus wie eine Barbypuppe und redest wie ein Fleischer!

Nicole: fährt auf Was?!

Küken: schreit Egoistin! Herzloses Weib!

Frau Tillich: schreit Das ist ja hier die Hölle! Schluß!

Pause.

Frau Tillich: Aber schuld bin ich. Ich, ich, ich! Ich mache alles falsch!

Verschwindet ins Nebenzimmer.

Küken: sprüht mit ihrer Spraydose in die Luft Egoistin!

Carmen: zu Nora Ich denke, wir gehen. Wir gehören nicht zu dieser Familie. Peinlich, peinlich!

Mandy: Geht nur, geht! Haut ab!

Carmen: Worauf du einen lassen kannst! Wir haben noch was vor, nicht wahr, Nora!

Mandy: Untersteht euch!

Carmen: Willst die zarte Liebe des kleinen Schwesterleins immer noch schützen? Hast du nicht gehört, es ist vorbei!

Mandy: Trotzdem! Das alles hier geht euch nichts an! Das ist meine Familie!

Pause.

Nora: zu Mandy Es tut mir leid … sie blickt Carmen an ..daß sie …. daß wir dich da reingeschubst haben.

Carmen: Was?! Sie! Sie allein ist schuld! zu Mandy Ich hoffe, es gibt irgendwo einen Arzt, der dir helfen kann! zu Nora Komm!

Sie gehen.

Sascha: Was war das denn jetzt?

Küken: Also. Ich geh jetzt auch.

Mandy: Küken!

Küken: Nächstens in Jamaika, Schwester!

Geht.

Nicole: Weg hier, nur weg hier! Was für eine Familie!

Sascha: Nicole!

Mandy: Geh, ja, geh! Du gehörst hier nicht hin!

Nicole: wirft Sascha einen Schlüssel hin Hier mein Auto! Kannst ja nachkommen, wenn du doch noch Lust auf Zivilisation bekommen solltest! Ich fahr schon mal vor, mit dem Taxi.

Sascha: Wohin? Nach Hause?

Nicole: Nach Berlin, in den „Tunnel“, Süßer. Komm nach mit dem Auto. Die Rückfahrt will ich nicht im Taxi machen!

Ab.

Sascha: läuft ihr hinterher Nicole! Nicole!

7

Auftritt Frau Tillich.

Frau Tillich: Wo sind die alle hin?

Mandy: Weg. Gegangen. Alle gegangen.

Frau Tillich: Und ich bin schuld.

Mandy: Du bist nicht schuld. Jeder rennt irgendwem oder irgendwas hinterher. Jeder will etwas, das er doch nicht kriegt.  Du bist nicht schuld.

Frau Tillich: Doch, ich bin es. Du weißt ja nicht, wie der Alltag hier aussah all die Jahre. – Pause. – Du hast recht. Jeder rennt irgendwas hinterher, das er nicht bekommt. Ich hab immer nur an das eine Kind gedacht, das eine, das ich nicht haben konnte. Und hab die anderen vernachlässigt. Und bin aufgewacht eines morgens, und da waren sie erwachsen. Ich hab nichts dafür getan. Sie sind von allein groß geworden.

Mandy: Du bist nicht schuld.

Pause.

Frau Tillich: Und jetzt sind sie weg, wie?

Mandy: Das eine Kind, für das du gelebt hast … bin ich. Das haben nicht viele Menschen, das jemand nur für sie lebt. Das hat überhaupt niemand.

Frau Tillich: Mandy, das ist …. Das siehst du zu ideal.

Mandy: Ich will es so. Weil es gut tut.

Frau Tillich: Mir tut es auch gut.

Pause.

Mandy:  Also – ich bleibe noch. Noch eine Weile, bis …. sich alles geordnet hat.

Sascha kommt zurück; er hört die letzten Worte mit.

Sascha: Du bleibst?!

Mandy: Und du?

Sascha steht vor Mandy und sagt nichts.

Frau Tillich: Sascha?

Pause.

Sascha: vor Mandy Sie hat ihr Auto nicht genommen, und ist tatsächlich in einem Taxi gefahren.

Mandy: Sie will, daß du nachkommst.

Sascha: Ja.

Pause.

Mandy: Es ist spät. Du solltest dich hinlegen, Mutter. Ich bring dich.

Frau Tillich: Was ist eigentlich mit deinem Konzert? Hast du das ausfallen lassen?

Mandy: Ja.

Frau Tillich: im Abgehen Aber wie willst du das denn jetzt machen .. Ich mein, du kannst doch nicht ..

Mandy: draußen Das geht in Ordnung. Das geht schon in Ordnung. Das regel ich …

Sascha allein. Er legt den Autoschlüssel auf den Tisch. Öffnet das Fenster, nimmt den Schlüssel, holt aus zum Wurf, mehrmals, behält den Schlüssel aber doch jedesmal in der Hand. Schließlich legt er ihn wieder auf den Tisch.

8

Mandy kommt zurück.

Mandy: Bist du mir böse?

Sascha: Weswegen?

Mandy: Mir gefällt deine Nicole nicht.

sascha: Deswegen brauchst du noch lange keinen Skandal zu machen.

Mandy: Der Skandal war sie.

Sascha: Du hast sie rausgeschmissen. Du hast gesagt, sie soll verschwinden. Und zwar ohne mich.

Mandy: Was sie dann ja gemacht hat.

Sascha: Und wenn ich sie vielleicht liebe, was dann?

Mandy: Du hast den Autoschlüssel. Brauchst ihr bloß hinterher fahren! 

Sascha: Ich bleibe. Ich kann meine Mutter nicht allein lassen.

Mandy: Sie schläft schon.

Sascha: Ich überlege, überhaupt zu bleiben.

Mandy: Was heißt das?

Sascha: Ich bin kein so guter Fußballer. Ich werde über die Amateurliga nicht hinauskommen. Auch in Cottbus nicht.

Mandy: Und was willst du hier machen?

Sascha: Weiß nicht. Was lernen.

Mandy: Da kann ich ja gehen.

Sascha: Jetzt gleich? Auf der Stelle? Wieso denn das nun wieder?

Pause.

Mandy: Ich hab ein Problem. Ich bin vollkommen durcheinander. Einmal denke ich so, einmal so. Völlig konfus.

Sascha: Was für ein Problem ist das?

Mandy: Ich hab mich verliebt.

Sascha: In wen?

Mandy: Eine komplizierte Geschichte. Er gehört einer anderen.

Sascha: Nimm ihn ihr weg. Das ist ein Leichtes für dich. Es gibt tausend Männer, die sich sofort in dich verlieben würden.

Mandy: Leicht gesagt. Der Fall liegt komplizierter.

Sascha: Also ich … Ich würde sofort …. – Manchmal tut es mir leid, daß du meine Schwester bist!

Mandy: Ich bin nicht deine Schwester.

Sascha: Wie?

Pause.

Mandy: Eine komplizierte Geschichte. Ich hab dir die Schwester nur vorgespielt.

Sascha: Was??! Wie??! Wie nur vorgespielt??!

Mandy: Eine ganz verrückte Geschichte, so verrückt, daß ich …

Sascha: Nur vorgespielt … ???

Er steht wie angewurzelt. man weiß nicht, ob er empört oder glücklich ist. Schließlich läuft er aus dem Zimmer.

Mandy: ruft Es ist nicht meine Schuld! läuft ihm hinterher Sascha! Ich erzähl dir alles! Sascha! Ich will … Ich bin … wirklich die Tochter! Aber nicht die Schwester! Sascha!

Türenschlagen draußen. Einige Minuten Stille.

9

Nora kommt. Setzt sich still und wartet. Später Frau Tillich.

Frau Tillich: noch unter der Tür Mandy? Sascha?  – zu Nora Wo sind die hin?  – setzt sich, schaut Nora an Ich kann nicht schlafen. Es ist zu viel.

Nora nickt.

Frau Tillich: für sich Ich muß mit ihren Eltern reden. Mit ihrer Mutter. Ich will sie ihr nicht wegnehmen. – Aber sie soll sie mit mir teilen. Und wenn nicht … ?

Sie schaut Nora geistesabwesend an. – Pause.

Frau Tillich: Ach was.

Lange Pause. – Beide sitzen da, in Gedanken versunken.

Nora: Carmen ist mit zu diesem Michael gegangen. Sie glaubt nicht an die Liebe.

Pause.

Nora: Und hofft wie wahnsinnig darauf.

Nora: Ich glaube an die Liebe. Ich glaube daran, wie andre an ein Leben nach dem Tod glauben.  – Ich wollte mich von Ihnen verabschieden, wir haben Ihnen Ungelegenheiten gemacht.

Pause.

Sie geht.

Frau Tillich: fährt auf aus ihren Gedanken Was? Was haben Sie gesagt?

Sie schaut sich um, steht auf, geht – in Gedanken wieder – in ein Nebenzimmer.

10

Mandy und Sascha kommen still zur Tür herein und lehnen sich nebeneinander an die Wand.

Sascha: Und wenn du tausendmal beteuerst, daß du ihre richtige Tochter bist … Daß du dich anstelle ihrer leiblichen Tochter als ihre „richtige“ Tochter fühlst …

Mandy: Mein Leben lang habe ich mir eine Mutter gewünscht, die diesen Namen verdient.

Sascha: Und die in Dresden?

Mandy: Was weiß ich.

Sascha: Ganz schön kalt, wie du von ihr sprichst.

Mandy: Das hat man doch schon gehört, daß jemand sich seine Mutter selbst schafft …. Diese Weitspringerin …  Kennst du nicht den Namen? Du bist Sportler!

Sascha:… Heike Drechsler ….  ?

Mandy: .. die bezeichnet auch eine andere Frau als ihre Mutter.

Sascha: Kam mal in einer Talkshow, ja. Ziemlich verrückt.

Mandy: Ihre Eltern haben es akzeptiert.

Sascha: Aber wie wird ihnen dabei zumute gewesen sein … 

Mandy: In Gefühlsdingen gibt es keine Kompromisse.

Pause.

Sascha: Wenn das so ist, dann kannst du nicht mehr warten.

Mandy schweigt.

Sascha: Du mußt es ihr sagen.

Mandy schweigt. Geht dann hinaus.

11

Frau Tillich durch die andere Tür kommt mit Schnapsflasche.

Frau Tillich: Da bist du ja. – Wo ist Mandy?

Sascha: Sie kommt gleich wieder.

Pause.

Sascha: Was ist?

Frau Tillich: Jahrelang habe ich gelitten wegen dieses Kindes. Wegen ihr. Jetzt ist sie da, und sie liebt mich. Das weiß ich.

Sascha: Wir haben dich auch gern – auf unsere Weise.

Pause.

Frau Tillich: Und wenn ihr nun aus dem Haus geht, du und Maria … Es gibt euch, und ihr seid da. Ihr werdet mich besuchen. Und sie wird mich besuchen. Da werde ich dann leben. Dazwischen – gilt es stark zu sein! Damit ich eine Mutter sein kann, wenn ihr kommt! Stark sein!

Sie öffnet das Fenster und entleert die Schnapsflasche.

Frau Tillich: Schluß damit! Ein für allemal! Stark sein! Stark sein! Stark sein!

12

Mandy kommt zurück.

Mandy: Mutter, ich muß dir ……

Geschrei im Treppenhaus. Carmen und Michael stürmen herein. Sie sind im Gesicht und auf der Kleidung mit weißer Farbe besprüht und äußerst erbost.

Carmen: Hier! Hier! Hier! Dieses Luder! Durchgeknallte Chaotin! Alles besprüht! Meine Jacke! Die Hosen! zu Frau Tillich Das will ich ersetzt haben! Das wird teuer, das sag ich Ihnen!

Michael: Und ich, Mann! Meine Lederjacke! Mein Markenzeichen! Die kann ich wegschmeißen!

Frau Tillich: Mein Gott! Was ist denn passiert?!

Michael: Was passiert ist? Das ich rumlaufe wie ein Anstreicher, das ist passiert! Dieses Flittchen! Terrorkind! Eine Verbrecherin haben sie aufgezogen! Das ist passiert!

Küken erscheint mit Sprühdose. Auch sie ist erregt, sprüht wild in der Wohnung umher. Alles rennt durcheinander, geht in Deckung. Schreie: Küken!

Küken: Schnee, Schnee, Schnee! Weißer Schnee! Schneemenschen! — Fleisch und Blut?! Nein! Zombies! Eiszombies!  Schneemänner und Schneefrauen! Wo die Sonne scheint, da werdet ihr nicht mehr sein, da zerlauft ihr! Eine dunkle, stinkende Brühe, das werdet ihr sein, wenn irgendwann einmal, irgendwo einmal, die Sonne der Anständigkeit scheint!

Mandy wagt sich aus ihrer  Deckung hervor.

Mandy: Was hast du denn? Was ist denn passiert?

Küken: Was passiert ist?! Die Entlarvung dieser beiden da, das ist passiert! In einem Bett haben sie gelegen, nackt, in kalter widerlicher Hitze! Und was reden sie? Was haben sie zu reden? Sex! Es ist nur Sex! Die Tür offen gelassen haben sie!

Pause.

Küken: nun ruhig Ich hatte dieses … dieses Gefühl zu dem Scheusal da überwunden und war frei! Und weil ich frei war, wollte ich mich verabschieden. Wie es sich gehört. Wie es sich gehört, wenn eine große Sache vorbei ist.  Die erste Liebe!

Michael:  Warum ich? Warum ich, he?!! Miststück!

Carmen: zu Küken Ganz kalt und berechnend vorgegangen bist du!

Küken: Ja, ich habe euch erst eure Klamotten anziehen lassen, haha!

Pause.

Mandy: Carmen, ich hatte dich gewarnt!

Carmen:  Spielst du immer noch die Beschützerin der Verrückten da? Die Schwester?“ Das paßt! Verbrecherduo!

Mandy: Ich? Ich die Verbrecherin?!

Carmen:  Spielst einer wildfremden Familie die Tochter vor!

Mandy: Verschwinde, ehe ich mich vergesse!

Carmen: schreit Wie denn? Wie soll ich denn verschwinden? So wie ich aussehe?! Wie soll ich denn so auf die Straße? Wie in einem Zug sitzen so?!

Mandy: kalt Raus!

Carmen: Besorg mir was zum anziehen!

Mandy: Verschwinde wie du bist!

Carmen: Na schön. Ich gehe. Die gute Carmen überlebt alles! – geht und kommt zurück  – Aber vorher – hab ich was zu sagen! zu Frau Tillich Das ist nicht ihre Tochter! Das ist eine Schauspielerin! Eine perfide! Glaubt sie zu ihrer Mutter machen zu können. Ich dachte, es wäre ein Spiel; sie meint es ernst! blickt Sascha an Schwester und Geliebte in einem! tritt vor ihn Na, ist da nicht ein kleiner Kitzel? Ich wär todkrank, glatt gestorben wär ich! In so einem seelischen Durcheinander! Aber sie, sie hält es aus! Chapeau, Chapeau!

Sie geht.

Michael: Schwester? Tochter? Nur gespielt? Ein Schauspiel? blickt fragend in die Runde – Ach, ich will das gar nicht wissen!

Ab.

13

Frau Tillich: Ein aufgewecktes Mädchen! Aber merkwürdig. Was hat sie da geredet?

Küken schultert ihren Rucksack.

Küken: vor Mandy Soso.

Mandy: verzweifelt Küken!

Küken: Küken, ja. – Küken geht.

Mandy: Wohin denn, Maria!

Küken: Nach Jamaika, „Schwester“.

Mandy: mit Blick zu Frau Tillich Maria, laß es mich erklären!

Küken: In Jamaika, schöne, fremde Schwester, in Jamaika. In Jamaika kannst du mir die Welt erklären.

Sie geht.

Frau Tillich: Was hat sie geredet? Wo will sie hin? Und was hat das andere Mädchen geredet?

Sascha: Sie hat gesagt, daß Mandy nicht deine Tochter ist.

Frau Tillich: Was?

Mandy: Und sie hat recht.

Frau Tillich: Was?

Mandy: Ich bin nicht Ihre .. deine Tochter.

Frau Tillich: Was?

Mandy: Nein, das ist auch falsch. Ganz falsch!

Frau Tillich: Was ist falsch? Was redest du?

Mandy: Mutter, ich muß … Mutter, darf ich Mutter sagen ..

Frau Tillich: Was ist denn? Was redest du denn?

Mandy: Ich bin nicht deine … deine .. nicht die leibliche Tochter. Es ist so gekommen, daß ich es dir vorspielen mußte. Es war kalt und wir suchten eine Unterkunft, und wir haben gedacht, alle Menschen sind Schwestern, und so ist alles gekommen.

Frau Tillich: Was redest du denn? Ich verstehe das alles nicht!

Mandy: Andererseits … Wenn du willst … Also, ich möchte dich zu meiner Mutter, obwohl du es nicht bist ….

Frau Tillich: Nicht?

Sascha: Maria hat die Tür geöffnet, und die drei haben gesagt, daß alle Menschen Schwestern sind, und deshalb niemand draußen frieren darf, und Maria hat das mit der Schwester wörtlich genommen, und dann sind sie nicht mehr rausgekommen aus ihrer … aus der Notlüge. – Weil es so kalt war. So hat es angefangen.

Frau Tillich begreift. – Pause. – Sie geht zum Fenster, das noch offen ist. Hinten stehen Mandy und Sascha.

Frau Tillich: am Fenster, mit dem Rücken zu den anderen Da draußen gibt es also noch ein Kind. Gibt es das Kind. Ihm würde es gut gehen, wenn Mütter nicht nur die Mütter ihrer Kinder wären. Wo ist das? Wo Küken hin will, in Jamaika ..?

Sascha: Es gibt kein Jamaika. Jedenfalls nicht Kükens Jamaika.

Frau Tillich: Aber wo ist das, wo Mütter nicht nur die Mütter ihrer Kinder sind?

Mandy: Hier, wenn du willst.

Frau Tillich: zum Fenster hinaus Ach, Kind.

Mandy: Kind? Hast du Kind gesagt?

Frau Tillich dreht sich um, und blickt sie an.

VIDEO: Küken mit Rucksack. Unterwegs: Vor einem Bahnhof in irgendeiner Kleinstadt. Sie spricht jemanden an.  – Sie geht in einen Klub. Es wird getanzt. Die drei Mädchen aus den vorigen Videosequenzen, diesmal sehr bunt gekleidet (reggaemäßig). Sie stehen in einer Ecke, lassen ab und an ein Wort fallen. Der Junge geht quer durch den Raum. Keiner beachtet ihn.  Er geht über die Bühne, zwischen der Band hindurch und verschwindet. – Close up: Abwesende Gesichter  der drei Mädchen.

Sehr laut: „No woman, no cry“.  (bis: „Every things gonna be all right)

ENDE


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