Industrie-Ruinen

Erzähler: Wenn ich in meiner Kindheit vor dem Weckerklingeln erwache, ist da auf der Straße ein vereinzeltes Wort gewesen.

Dann Fußgetrappel.

An solchen Tagen stehe ich auf und trete ans Fenster.

Unten, auf dem Bürgersteig, eine dunkle Schlange, grau in der faden Straßenbeleuchtung – Arbeiter, Pendler, unterwegs zum Bahnhof, von wo sie in die Maschinenfabriken nach Leipzig fahren.

Eine Stunde später ertönen in Ermlitz-Wachau die Sirenen, mit denen die Brikettfabriken ihren Arbeitsbeginn verkünden.

In der Kaserne rücken die Mannschaften, Panzersoldaten, mit müdem Gesang aus zum Essen.

In den 1960er Jahren wird der Werktag von der Bevölkerung meiner Heimatstadt in Brikettfabriken verbracht, im Tagebau, in der Kaserne und in den Maschinen- und Textilfabriken von Leipzig.

Schließen die Fabriken, ruhen sich die Menschen einen Tag lang aus. Heruntergelassene Jalousien, vom Kohlestaub dunkle Vorgärten in der Sonne, auf den Straßen kein Lebewesen.

Meine Kindheit, will mir scheinen, besteht aus stillen Straßen und vergessenen Winkeln in Hinterhöfen und auf Dachböden.

Aus Arbeit und Erschöpfung.

Ist ein anderes Leben vorstellbar?

Eines, das nicht schweigend verbracht wird? Nicht in geistiger Abwesenheit und nicht mit der Sehnsucht in ein anderes Dasein?

Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ereignet sich am 5. August 1993.

Aus der Tür ihres Hauses in der Torfstraße in Ermlitz-Wachau, mit einer Plastetüte Möhrenkraut und Kartoffelschalen in der Hand, tritt Frau Niedegk.

Gewohnheitsmäßig blickt sie an der Fassade des Nachbarhauses nach oben.

Frau Niedegk: Steck den Kopf rein, Christine, heut ist Sprengung!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was?

Frau Niedegk: Die Kaserne! Heut wird die Kaserne gesprengt! Sie gehen alle auf den Sanzeberg hinaus, da kann man gut sehen!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer ist auf dem Sanzeberg?

Frau Niedegk: Ganz Ermlitz und ganz Wachau, Christine. Deine Enkelin auch. Sie hat den Stiwi mit!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Um Gottes willen, der Junge!

Frau Niedegk: Ach iwo, da passiert schon nix! – Es gehen viele hinaus, Christine!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Deshalb ist die Straße so leer! Ich wunder mich schon!

Schritte von fern.

Frau Niedegk: Da kommt noch einer … – Hat’s scheinbar eilig.

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Will der auch zu der Explosion .. ?

Frau Niedegk: Nee …. – Neenee, Christine, das ist   ..

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer?

Frau Niedegk: Ach, nichts …

Die Alte Christine im Fenster: Was?

Frau Niedegk: Schon gut, Christine.

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer? Ich kann ihn nicht erkennen ..

Frau Niedegk: Dein Fleisch und Blut, Christine, dein Neffe ..  Der Frank, der bei den Panzern war ..

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Der Frank  .. ?!

Erzähler: Auf dem Bürgersteig gegenüber dem Haus Torfstraße 12 nähert sich ein etwa fünfzigjähriger Mann. Er ist groß, unrasiert und trägt – trotz der 26°C an diesem Sommertag – eine ölige Wattejacke. Über der Jacke einen olivgrünen, randvoll gefüllten Rucksack. – Er läuft schnell und mit gesenktem Kopf. Kräftig setzt sein Birkenknüppel auf auf den Granitplatten des Bürgersteigs.

Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

Wolf:                Herbst.

                          Der Gartentisch. 

                          Ich am Birnbaum. Sechzehn Jahre.  

                          Mein Vater kommt vom Brunnen

                          Geleert und abgedeckt 

                          Die letzten Blätter fallen

                          Nackte Äste 

                          Violett der Horizont

                          Die Luft ist rauchig

        Stimme Vater [off] :    Schlosser wirst du, Sohn. Mit Abitur.

        Dann Offizier.

        Stimme Jugendlicher Wolf  [off]:  Nein.

Errzähler: Wolf bleibt stehen, die Rechte auf den Birkenknüppel gestützt. Er schaut vor sich hin auf den Bürgersteig.

        Wolf:        Mein Vater, Bergmann, hebt die Schultern:  … Arbeit ist das halbe Leben, ihm ist sie das ganze. Schweigsam immer … Die Gedanken, was weiß ich wo, haben ja auch Zeit zu wandern, die Gedanken, an der Kohlepresse, wo der Dampf die Arbeit macht, und die Hydraulik, und die Hände nur die Ordnung halten, und der Kopf ist frei, zum Wandern, was weiß ich wohin, in die Vergangenheit, weil, das Leben hier ist Arbeit, daß er, bis er stirbt, was heimbringt  …

 Stimme Vater [off]:            Daß du einmal mehr heimbringst für die Familie, Kind, als ich -: Offizier!

  Stimme Jugendlicher Wolf  [off]: Nein.

  Stimme Vater [off]: Offizier, Punktum.

Errzähler: Wolf schaut auf. Frau Niedegk steht auf der Straße, ohne sich zu rühren. Endlich läuft Wolf, weit ausholend mit dem Knüppel, weiter.

        Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

  Wolf:        Der Gartentisch. Die Stühle angeklappt. 

                    Abgedeckt der Brunnen.             

                    Ich am Birnbaum: 

                    Sechzehn Jahre ..

Erzähler: Wolf zieht die Torfstraße hinab. Frau Niedegk leert ihr Möhrenkraut und die Kartoffelschalen in einen Aschekübel, der vorn an der Straße steht.

        Der Birkenknüppel, schwächer werdend. Stimme im         Hintergrund.

        Wolf:        Sechzehn Jahre!

                          Unbekannt

                          Dem Vater

                          Bald 

                          Fällt Schnee ….

Erzähler: Die alte Christine Wolf in ihrem Fenster im 2. Stock beugt sich zu Frau Niedegk hinunter.

Die alte Christine Wolf im Fenster: Mit dem is was! Man muß bei ihm zu Hause anrufen!

Frau Niedegk: Bei ihm zu Hause? Christine! Kriegst du denn nichts mehr mit in deiner Mansarde? Die Steffi wohnt alleine jetzt, er ist weg von zu Hause! Und die Tochter auch, studiert in Leipzig!

Erzähler: Sagt Frau Niedegk und schließt die Haustür hinter sich. Zurück bleibt die leere Torfstraße, auf die aus ihrem Fenster im 2. Stock die alte Christine Wolf hinunter guckt wie vordem. – Drei Straßen weiter, auf dem Schlackeplatz des BSV 07 Ermlitz-Wachau, Sektion Fußball, lassen zwei Siebzehnjährige die Motoren ihrer Mopeds aufheulen.

Erster Jugendlicher: Cool eh!  Was für ’n Klang!

zweiter Jugendlicher: brüllt gegen die auf Hochtouren laufenden Motoren Könnte immer Sprengung sein! Die Straßen menschenleer! Los!

Geräusch der davonjagenden Mopeds. dann  wieder näherkommend –  Crash. Kichern.

Erzähler: Sie wälzen sich hin und her zwischen den gestürzten Mopeds, rollen herum auf den Bauch. Während zwischen ihnen ein Joint hin und her geht, schauen sie über ihre Mopeds wie über eine Düne auf die Straße. – Dort steht Wolf.

zweiter Jugendlicher: Silo.

Erster Jugendlicher: Silo?

zweiter Jugendlicher: Haben die Landser gesagt zu den Offizieren. Tage zu dienen, soviel wie ein Silo Löcher hat.

Kichern.

zweiter Jugendlicher: Hab ich von meinem Alten. War Silo – wie der.

Pause.

Erster Jugendlicher: Kennst du den?

zweiter Jugendlicher: Vom Sehen. – In den Hallen war der. Ausbildungskompanie. Panzerschlosser. ’N ganz Scharfer … Einmal zu spät aus dem Ausgang hieß dreimal Sturmbahn! Rauf und runter! Und jetzt …. kichert ..

Erzähler: Sie schlagen mit der Stirn auf auf den Tanks ihrer Maschinen. Schließlich legt sich der Junge, dessen Vater Offizier war, auf den Rücken. Sein Freund beobachtet weiter die Straße, von wo Wolf seinen Blick über den Schlackeplatz, die Mopeds und die Jungs wandern läßt.

Erster Jugendlicher: Mann, wie der aussieht! Und stinkt! Ich riech’s bis hierher!

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Quatsch!

Erster Jugendlicher: Quatsch? Weggesperrt gehört der!

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Wieso denn?

Erster Jugendlicher: Wieso denn! Wozu ist der gut?

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Mein Vater, Silo war der wie der … – Kichern. –  Und dann – tschingdarassa – Abzug der Armee aus Ermlitz-Wachau! Er bleibt hier, weil er das Haus hat! Aber – kein Geld mehr für den Weiterbau! Zwei Jahre läuft er rum wie mit’m Vorschlaghammer gepudert! Bis er einen neuen Job kriegt. Bei einer Zeitarbeitsfirma. Disponent. Schickt nun arme Schweine in den Westen zum Malochen! Lohn wird gezahlt, weniger als vorher, aber – die Kredite fließen wieder. – Kichern. – Das Haus wird weiter ausgebaut… – Kichern. –  Der Hausbau frißt ihn auf  –  mein Alter Pillen, daß er durchhält! – Kichern. –  Wozu ist das gut?

Erster Jugendlicher: Du erbst ein Haus!

Stille.

Erster Jugendlicher: Drehn wir noch ’ne Runde?

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Lieber nich …

Erster Jugendlicher: Hey?!

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: kichert Vielleicht brech ich mir den Hals!

Erzähler: Er hält den Joint hoch.

Erster Jugendlicher: Ach komm!

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Hey hey! Es soll alles dran sein an mir, wenn …

Erster Jugendlicher:  .. wenn was  .. ?

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: .. wenn ich das Haus erb!

Kichern. – Dann  Stille.

Erzähler: Sie stehen auf und gehen, die Mopeds schiebend, ab. – Auch Wolf verläßt seinen Platz am Eingang des Ermlitz-Wachauer Sportplatzes. – Schnell und mit gesenktem Kopf läuft er zurück Richtung Stadt-Zentrum. Sein Birkenknüppel setzt kräftig auf auf den Granitplatten des Bürgersteigs.

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Sommerübung.

                          Abschuß auf Abschuß.

                          Schläge wie von Bomben.

                          Sandfontänen.

                          Draußen in der aufgewühlten Weite

                          Eine kleine Birke

                          Hat unterirdisch sich

                          Besonnen und gesammelt in der Winterruhe

                          Hat hervorgeguckt im Frühling

                          Jetzt ist Sommer

                          Was ich sehe ist

                          Folge meiner Hände Arbeit

                          Die ich gut mach:

        Stimme Vater [off]: Daß du was heimbringst, Kind, für die        Familie .. !

        Stimme Jugendlicher Wolf  [off]: Ja …

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Ja! Ja! Ja!

                          Und Abschuß:

                          Meine kleine Birke

                          Dunkler Stamm noch, dunkle Äste

                          Zersplittert

                          In der Sandfontäne

                          Lautlos

                          : Strebt nun auf gen Himmel

                          Und ich sehe: .. so kann was zersplittern, ja ..

                          Dreißig Jahre.

                          Dreißig Jahre

                          Heimweg aus dem Krieg.

                          Straßen

                          Unterm schwarzen Himmel.

                          Und am Horizont der Wald

                          Aus Brikettfabrikschornsteinen.

                          Längs des Heimwegs

                          Eisenzäune:

                          Dunkle Gärten.

                          Dunkle Fenster

                          Spiegeln:

                          Einen großen Mann

                          Mit Aktentasche und in Uniform

                          Der ich bin

                          Wolf, Frank

                          Leutnant Oberleutnant Hauptmann.

                          Lücken zwischen grauen

                          Aus dem

                          Letzten offnen

                          Krieg geschädigten

                          Fassaden.

                          Dann

                          Aus einer milden Ferne

                          Abendlicht:

                          Durchblick hier

                          Des Leutnants Oberleutnant Hauptmanns

                          Auf

                          Die andere Armee:

                          Brikettfabrikschornsteine.

                          Heimweg

                          Aus dem Krieg

                          Im Krieg.

                          Jeder Blick

                          Macht schweigsam.

                          Schweigen, das ist

                          Leben.

                          All die Jahre auf den Schultern.

        Stimme Frau [off]: Frank, wo bist du? Mit den Gedanken       immer sonstwo! Sag was!

                          Der Birkenknüppel.

        Wolf: All die Jahre auf den Schultern

                          All die Jahre.

Erzähler: Wolf geht vorbei an der geschlossenen Gaststätte „Volkshaus“, betritt die langgestreckte Ermlitz-Wachauer Ernst-Thälmann-Straße. Auf halbem Weg, hinter einem der Fenster der Förderschule „Janusz Korzcack“, das junge Gesicht eines Zivildienstleistenden. Eine Sekretärin in seinem Rücken verschiebt Magnetelemente auf einem Stundenplan.

Sekretärin: …  kriegt doch die Zähne nicht auseinander! Ein guter Schlosser, in Ordnung, aber ein Verkäufer, Autohausbesitzer! Davon hat er geredet! Der und ein Autohaus! Da mußt du umgehen können mit den Leuten! Reden! Und der, maulfaul wie er ist …! Neeneenee, eingebrochen wär der! Der wär nie der Mann gewesen dafür! Froh sein soll der, daß mein Mann diesen Škoda-Menschen noch abgefangen hat, als er rauskam bei ihm!  Er wollte ja nicht! Zögert und zögert! Und der Vertrag von Škoda mit den Bastigkeits fast schon unterschrieben!. – Wir, sag ich, wir haben das Grundstück! Und näher an der Stadt! Am Vergnügungspark, wenn es soweit ist! Und du bist Schlosser! – Nee, sagt er, neeneenee. Und zögert und zögert. – Aber nu, sag ich, nu is Fünf vor Zwölf! ! Nu geh mal raus auf die Straße! Daß du dastehst, wenn der Škoda-Mensch bei Bastigkeits die Tür hinter sich zu macht! Daß er dich sieht! Das ist wie mit deinen Zahnrädern, sag ich! Die liegen bei dir im Kasten, haben immer da gelegen, aber jetzt, wo’s eine andere Materialversorgung gibt, werden sie nicht mehr gebraucht. Oder nur ab und zu mal. Und da wird genommen, was vorne dran liegt! Was gesehen wird! Was rot angepinselt ist, so wie du es immer gemacht hast, wenn eins wichtig war von deinen Rädern! „Autohaus Kabitzke“ sag ich, „direkt am Freizeitpark Balstenaue“! Klingt dir das nicht in den Ohren? Ist das nichts? – Da ist er rausgegangen, mein Herr Kabitzke! Hat dem Škoda-Menschen unser Grundstück gezeigt an der Balstenaue! Nur, wie wir den Vertrag hatten, hat er wieder angefangen, der Gutmensch!. Daß es nicht recht war, mit dem Bastigkeit .. 

Erzähler: Die Sekretärin unterbricht die Arbeit an der Stundenplangraphik und tritt neben den Zivildienstleistenden.

Sekretärin: Nee, sag ich zu ihm, nee! Nu is gut! Wir haben jetzt den Vertrag und auf unserem Grundstück wird gebaut. Wir müssen auch sehen, wo wir bleiben in diesen Zeiten!

Erzähler: In diesem Moment läuft unten – schnell und mit gesenktem Kopf; lange Schritte begleitet von einem weitausholenden Aufsetzen des Knüppels  – Wolf vorbei.

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Dreißig Jahre Heimweg aus dem Krieg

                          Im Krieg!

                          Leben

                          Das ist Schweigen.

                          All die Jahre!

                          All die Jahre!

Sekretärin: Mein Gott .. ! Daß der wieder draußen ist! Der Wolf! Und in der Wattejacke bei dieser Wärme!

Erzähler: Sie geht zurück an die Wandgraphik.

Sekretärin von der Wandgraphik: Schauen Sie sich ihn ruhig an! Der war mal ’n ordentlicher Mensch! Ausbilder bei den Panzern!

Erzähler: Der Zivildienstleistende am Fenster schweigt.

Sekretärin: Wer sich nicht anpaßt, geht unter! So oder so. So ist das.

Der zivildienstleistende vom Fenster: In einer gerechten Welt ist Platz für jeden.

Erzähler: Die Sekretärin, eine Frau um die vierzig, schaut aufmerksam auf den jungen Zivildienstleistenden am Fenster.

Sekretärin: Gerechte Welt .. ?!

Erzähler: Der Zivildienstleistende nickt. Er geht zu einem Wischeimer, der in der Mitte des Sekretariats steht.

Sekretärin: aufgebracht Das sagen Sie! Weil Sie es sich leisten können! Weil sie ..

Erzähler: Der Zivildienstleistende senkt den Kopf und wischt den Boden. Die Sekretärin behält, was ihr auf der Zunge liegt und arbeitet weiter an ihrem Stundenplan. Ab und zu schaut sie auf den wischenden jungen Mann.

Sekretärin: Eines müssen Sie mir erklären, Josef: Warum leisten Sie Ihren Dienst im Osten?

Erzähler: Der Zivildienstleistende überhört die Frage.

Sekretärin: Warum sind Sie hier, Josef?

Erzähler: Der Zivildienstleistende Josef nimmt den Eimer und geht mit ihm auf den Flur hinaus. Er murmelt etwas, das die Sekretärin nicht versteht. – Inzwischen läuft Wolf die Ernst-Thälmann-Straße hinab. In den Ruß auf den Marmortreppen des Kulturhauses „Tatkraft“ haben Regentropfen aus kaputten Dachrinnen konzentrische Muster geschlagen. Unverändert über der Bergarbeiter- und Garnisonsstadt Ermlitz-Wachau steht der blasse Himmel des 5. August 1993. – Wolf biegt ab nach rechts. Links, weiß er, führt der Weg auf den Sanzeberg, von wo man den Blick hat auf die Kaserne, in der er gedient hat. Sein Birkenknüppel setzt auf auf Sand und Kohlestaub in trockenen Mulden am Straßenrand.

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: 1972:

                          Leutnant.

                          Rückkehr

                          Nach Ermlitz-Wachau.

                          Rückzug!

                          Tor abschließen!

                          Front begradigen!

                          Das Leben draußen: 

                          Dienst.

                          Was?

        Stimme: [off) Genosse Leutnant! Vierte Panzerwartungs­                    kompanie zum Waffenreinigungsappell angetreten!

        Stimme Wolf [off]: Danke. Rühren.

        Marschtritt; Gesang marschierender  Kolonnen in der

        ferne[off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘

       Und die alten Lieder singen

        Fühlen wir, es muß gelingen …

        Mit uns zieht …

        Die neue Zeit …

        Mit uns zieht …

        Die neue Zeit …

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Mit uns

                          Die neue Zeit!

                          Ich

                          Ziehe aus:

                          Zur Sommerübung.

                          Jahr für Jahr:

                          Sandfontänen

                          Schläge wie von Bomben

                          Marschtritt; Gesang

                          marschierender

                          Kolonnen in der

                          Ferne [off]:  Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘

                     Und die alten Lieder singen

                          Fühlen wir, es muß gelingen …

        Der Birkenknüppel.

        Wolf: Das ist draußen.

                          Drin, das ist:

                          Der Druck am Hals, der Preßstock

                          Kompaniechefzimmer.

                          4. Panzerwartungskompanie.

                          Ich der lange Leutnant Oberleutnant Hauptmann

                          Laufe hin und her

                          Sitze

                          Hinterm Schreibtisch:

                          Wandern der Gedanken, Kreisen wie Gestirne:

                                                                                                               Kinderstimmen [off off]:

        Kinderferienlager Anhalt.

        Vier Gefährten, Freunde

        Wir

        Türmen

        Ziehen unter einem großen Himmel

        Übers Land

        Wohnen in versteckten Scheunen

        Über denen

        – ist es Morgen?

        ist es Abend? –

        Jetzt

        Und weiter

        Von einem Jetzt

        Zum anderen

        Der Augenblick steht, der

        – Gewalt aus Blau –

        Kopf um Kopf

        Uns in die Nacken reißt

        Und unsre Pfeile

        Abnimmt

        Aufnimmt

        Die nun

        Steigen

        Steigen

        Wenden

        Fallen

        Wir

        Mit erhobnen Armen

        Bloßen Händen

        Unten

        Fangen und Empfangen

        Die Wellen von der Welten

        Hintergrund!

                    Marschtritt; Gesang

                    Marschierender

                    Kolonnen in der

                    Ferne [off]:       

                    Mit uns zieht …

                    Die neue Zeit …

        Der Birkenknüppel.

        Wolf: murmelt.. Hundert Meter weiter

                          Auf der Straße ..

                          … wartet

                          Lange schon

                          Die Polizei.

        Birkenknüppel.

        Wolf: Dann Herbst

        Birkenknüppel.

        Wolf:        Und Herbst

        Birkenknüppel.

        Wolf:        Und wieder Herbst.

        Stimme vater [off]:      Schlosser wirst du, Sohn. Mit Abitur.

        Stimme Jugendlicher Wolf [off]:            Ja.

        Stimme vater [off]:      Dann Offizier.

        Stimme Jugendlicher Wolf [off]:            Ja.

        Stimme vater [off]: Daß du was heimbringst, Kind, für die   Familie!

        Stimme Jugendlicher Wolf [off]:            Ja.

        Birkenknüppel.

                                                 Marschtritt.

                                                  In der ferne scharfes Kommando [off]:                                                                    Ein Lied!

                          Gesang marschierender  Kolonnen in der         ferne [off]:                                                               Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘ …

                          Kinderstimmen [off off]:

                          Und unsre Pfeile

                          Weiter

                          Steigen

                          Steigen

                          Immer weiter

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Das ist draußen.

                          Drin, das ist:

                          Der Druck am Hals, der Preßstock

                          Kompaniechefzimmer.

                          4. Panzerwartungskompanie.

                          Was hin und her läuft

                          Sitzt und seine Bücher führt

                          Und wieder sitzt und

                          Wartet

                          Ist Leutnant

                          Und wird Oberleutnant

                          Hauptmann.

        Birkenknüppel.

                          Lachsfarben

                          Jeder Horizont

                          Seitdem

                          Unter jedem Himmel

                          Kriech ich

        Birkenknüppel.

                          Unter Stacheldraht.

        Stimme Frau [off]: Frank, wo bist du? Mit den Gedanken immer sonstwo! Sag was! Mein Gott, das steht und steht und      rührt sich nicht!  Was ist da am Fenster?

        Birkenknüppel.

        Wolf: Aufwärts jeder Blick

                          Seitdem

                          Ist  ..

                          Kinderstimmen [off off]:                                                                                                              Steigen

                          Steigen

                          Wenden

                          Fallen

                          Stimme Frau [off]:  Frank!

Erzähler: Wolf läuft auf der Leipziger Straße auf löchrigem Fahrdamm, biegt ein auf einen Seitenweg. Rechts und links Zäune, letzte Gärten. Dann weites, flaches Land. Quer auf einem Feldweg ein Polizeiwagen. Wolf kehrt um, tritt den Rückweg an über Feldweg und Leipziger Straße. Einmal – vielleicht, weil er Kinderstimmen hört – bleibt er stehen. Der Blick – aufwärts gerichtet in eine farblose Wolkendecke.

Er läuft weiter. Rechts, in der Ferne, die Silhouette der Stadt Leipzig. Ein Gefühl, Angst wie vor einem heraufziehenden Gewitter, beschleunigt seine Schritte, läßt ihn den Knüppel kräftig und schnell in den Sand stoßen. – Auf der Kreuzung Leipziger – Espenhainer Straße bleibt er erneut stehen. Die Ausfahrten nach Norden und Westen gesperrt durch Polizeiwagen. Zwei Beamte, ausgestiegen, steif und mißtrauisch vor dem Wohnhaus Espenhainer Straße.  – Hier steht er. Auf der Ernst-Thälmann-Straße, von der Stadt her, nähert sich ein BMW; aus dem Eingang zur Kleingartenanlage „Balstenaue“ treten drei angetrunkene Männer. Zwei von ihnen tragen Nylonanzüge. – Als sie Wolfs ansichtig werden, dreht der eine sich um. Bleibt, den Rücken Wolf zugekehrt, stehen.

Erster Mann: Was’ los?

Zweiter: Wolf!

Erster: Was?!

Zweiter: Der Wolf!

Erzähler: Der Mann – weiße Nylonkacke unter einem vom Alkohol verzeichneten Gesicht – blickt krampf­haft in die Obstbäume hinter den Zäunen der Kleingartenkolonie.

Zweiter: Er hat mich nach Schwedt geschickt! Eingeknastet!

Erster: Fünfzehn Jahre her! Vergiß es!

Zweiter: Vergessen? Die Hölle glatt vergessen?!

Dritter mischt sich ein Was für eine Hölle?

Erster: Er hat im Militärgefängnis gesessen..

pfiff durch die Zähne.

Dritter: Und warum?

Erster: Nach Freiheit zumute war ihm. Heiseres Lachen. Nach frischer Luft und Wind und Sonne, nicht wahr!

Zweiter: Kein Stacheldraht und keine Mannschaftsunterkünfte!

Erster: Abgehaun von Wache  … – Als Unteroffizier!

Dritter: Und der?

Erster: Der da .. Der jetzt abhaut, ja ..  War sein Vorgesetzter und hat ihn verknackt.

Zweiter: Er hätte mich nicht vors Militärgericht bringen müssen!

Erster: Das ist es, worüber er nicht hinwegkommt! Niemand hat von seinem Ausflug etwas gewußt außer dem da! – Wie hat er gesagt zu dir?

Zweiter: Denkst du mir ist nicht nach Freiheit zumute?! Aber Freiheit nimmt man sich nicht! Man erarbeitet sie! Durch Disziplin! Durch Arbeit! Durch lebenslange Arbeit!

Erzähler: Sie stehen, ratlos, stumm. Kehren zurück dann in die Kolonie, in ein eben verlassenes Gartenlokal. – Auf der Espenhainer Straße hat der BMW die Absperrung erreicht und einen Mann im weißen Sommermantel entlassen. Dieser, ein Handy am Ohr, steht vor den Polizisten, die ihn aufmerksam anschauen.

der Mann im Mantel:  … Nein, noch nicht …. Was ich mache? – Was machst du grade? Was .. ? – Oh, ich würd dir gern .. – Nein, du arbeitest! Ja, du hast am Wochenende Ausstellung. Jawohl, auch gestern hast du gearbei ..  – Hast du nicht! Im Cicadilly! Mit Max! Mein Gott, Max! Ausgerechnet Max! Es ist nicht, wie ich denke? Wie denk ich denn? – Eifersüchtig? Ich? Aber Lödilein .. ! – Ja, Freitag .. – Nein, gestern bin ich durch die Stadt gefahren .. Leipzig, ja … Ghetto .. Plattenbau .. mit Zigaretten an den Fenstern diese Weiber  .. wie im Kontakthof, ja, hahaha … arbeitslos …  Nein, die hatten keine Arbeit mehr, bevor wir kamen ..  Nein, keine Geliebte … Nein, hab ich nicht! .. Nein!  … Eifersüchtig ich? Kennst du die Szene aus .. mir fällt der Film nicht ein …,  wo die beiden unten poppen, und der andere guckt über die Klowand, und die kleine Fotze unten, während sie hoch und runter hopst auf ihrem Lover, lächelt rauf zu ihrem Freund .. Es ist nicht wie du denkst, haha  .. – Ja, hat sie gesagt … 

Frauenstimme: Hey, ich bin auch noch .. 

Erzähler: Aus dem Wagenfenster schaut eine Frau.

der Mann im Mantel: Wie ..? .. Eine Kollegin .. Du es geht los .. . Bis morgen … Ich dich auch ….

Erzähler: Der Mann im Mantel steckt das Handy weg und spricht die Polizisten an.

der Mann im Mantel: Führt diese Straße auf den Sanzeberg?

der grosse wachtmeister: Sie führt vor den Sanzeberg, und dann müssen Sie dort die Treppen hinaufsteigen.

der kleine wachtmeister: Aber die Straße ist gesperrt.

der Mann im Mantel: Und einen anderen Weg gibt es nicht?

der grosse wachtmeister: Zu Fuß durch die Kleingartenanlage „Balstenaue“. Dort drüben.

der kleine wachtmeister: 10 Minuten und Sie sind da.

Erzähler: Der Herr im weißen Sommermantel nickt und lächelt seiner Begleiterin hinter der Frontscheibe des BMW zu. – Wendet sich wieder an die Polizisten.

der Mann im Mantel: Ich komme von dem Unternehmen, das Ihnen in Ermlitz-Wachau den Freizeitpark bauen wird!

Erzähler: Die beiden Polizisten schauen sich an.

der kleine wachtmeister: Dann kommen Sie sozusagen zu Ihrer Sprengung!

der Mann im Mantel: Um alles zu dokumentieren, meine Herren. Das heutige Ereignis wird aufgenommen und festgehalten für die Zukunft! Da, die Kameras!

der kleine wachtmeister: Sie dokumentieren das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Epoche! Verstehe!

der Mann im Mantel: In Epochen zu denken haben Sie gelernt im Osten, ich weiß, ich hatte ….

Erzähler: Er lächelt seine Begleiterin an.

der Mann im Mantel: … Gelegenheit, mich kundig zu machen betreffs der Mentalität dieses Landstrichs. – Aber wissen Sie auch, was die neue Epoche Ihnen bringen wird?

der kleine wachtmeister: Sie werden’s uns sagen!

der Mann im Mantel: Sie wird Ihnen Ihre geheimsten Träume erfüllen, meine Herren, Träume, die Sie noch nie zu träumen wagten!

der kleine wachtmeister: So!

der Mann im Mantel: Nennen Sie mir einen Traum, und ich beweise Ihnen, daß dieser Traum nichts ist gegen das, was Sie in unserem Park erwartet!

der kleine wachtmeister: So auf die Schnelle .. ?

der Mann im Mantel: Träume leben! Das ist unser Slogan! Den Alltag unter, hinter, neben sich lassen! Alles wird gelebt! Was nicht gelebt werden kann, wird nicht geträumt!

Erzähler: Der Mann im weißen Sommermantel lächelt und geht in die Kniee.

Die wachtmeister: Stopp!

der grosse wachtmeister: Was soll das?!

Erzähler: Der Mann im weißen Sommermantel läßt sich von seiner Begleiterin eine Kamera reichen..

Die wachtmeister: Stopp stopp stopp!

der Mann im Mantel: Zu spät, meine Herren! – Hier! Ihr Porträt! Es wird prangen auf den Prospekten von „Semiramis“! „Semiramis“ – größter deutscher Freizeitpark! Und darunter die Headline: „Dies sind die Beamten, die am Anfang einer neuen Ära über ihren Schatten sprangen!

der kleine wachtmeister: Über unsere Schatten?

der Mann im Mantel: Ein Gefallen, meine Herren, um den ich Sie bitte! Oder soll ich wirklich mein Equipment 2 km weit schleppen? Es ist doch vollkommen ungefährlich da hinten an diesem .. wie heißt er doch? ..  Sanzeberg!

Erzähler: Die Wachtmeister sehen sich betreten an.

der grosse wachtmeister: Wir hätten da doch einen Traum!

der Mann im Mantel: Welchen!

der grosse wachtmeister: Daß jeder sich an Recht und Ordnung hält! Auch wenn es Mühe macht!

der kleine wachtmeister: Das machte – sozusagen – die Polizei überflüssig!

Erzähler: Lächelnd wendet der Herr im weißen Sommermantel sich an seine Begleiterin.

der Mann im Mantel: Siehst du! Das mein ich! Der Osten, wenn er träumt, träumt preußisch! – Nichts für ungut, meine Herren; wir werden uns noch verstehen! Wo, sagten Sie, ging der andere Weg lang?

der grosse wachtmeister: Da drüben.

der kleine wachtmeister: Da, wo drüber steht, „Balstenaue“.

der Grosse wachtmeister: Sie lassen Ihren BMW stehen und gehen zu Fuß durch die Kleingartenkolonie.

der kleine wachtmeister: Zehn Minuten, und Sie sind da!

der Mann im Mantel: Danke auch, die Herren! Danke!  Trotzdem danke!

Sich entfernende Schritte.

der kleine wachtmeister: Arschloch!

Erzähler: Die Wachtmeister schaun dem Herrn im Mantel und seiner Begleiterin nach, wie sie beladen mit Kameras im Durchlaß unter einem schmiedeeisernen Rundbogen mit dem Wort „Balstenaue“ verschwinden.

Dann geht ihr Blick wieder geradeaus, die lange Flucht der Ernst-Thälmann-Straße entlang, wo in der Ferne, bevor er ihren Augen entschwindet, Wolf noch einmal einbiegt auf die Torfstraße. – Zögerlicher setzt sein Birkenknüppel auf auf den Pflastersteinen des gewundenen und engen Bürgersteigs. Schließlich bleibt er stehen.

       Dünner Gesang weniger Stimmen [off]:
       Einigkeit und Recht und Freiheit
       Für das deutsche Vaterland!
       Danach laßt uns alle streben
       Brüderlich mit Herz und Hand!
       Einigkeit und Recht und Freiheit
       Sind des Glückes Unterpfand –
       Blüh im Glanze dieses Glückes,
       Blühe, deutsches Vaterland.

        Stimme  Wolf [off – scharf]:  Was?

        Stimme [off]: Genosse Hauptmann! Vierte         Panzerwartungskompanie zur Ausbildung angetreten!

        Stimme  Wolf [off – scharf]:  Danke. Links um! Ausrücken! –                       in Lied!

        Marschtritt; Gesang marschierender  Kolonne und         Stimme   Wolf[off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘

       Und die alten Lieder singen

        Fühlen wir, es muß gelingen …

        Mit uns zieht …

        Die neue Zeit …

        Sich entfernender Marschtritt. Grölende menschenmenge off]:        Recht und Einigkeit und Freiheit                                                                                     Für das deutsche Vaterland !

                    Birkenknüppel.

                    Wolf:                   Rückzug!

                                                  Tor abschließen.

                                                  Front begradigen!

                    Grölende menschenmenge [off]:         

                    Recht und Einigkeit und Freiheit

                    Für das deutsche Vaterland !

        Birkenknüppel.

        Wolf: Das ist draußen.

                          Drin, das ist:

                          Hinter meiner Glastür.

                          [leiser] Vor dem Glas:

                          Balkon.

                          Beton

                          Die Häuserzeile gegenüber.

                          Dann das Land und dann

                          Die Stadt:

                                                                                                               Grölende

                                                                                                               menschenmenge [off off]:

                                                                                                                           Recht und Einigkeit und Freiheit

                                                                                                                           Für das deutsche Vaterland !]

        Birkenknüppel.

        Wolf: Draußen, ja

                          Drinnen

                          Stille.

                          Ruhig

                          An der Wand

                          Die Uhr:

        Stimme Wolf [off off – sehr fern] :        Sandfontänen.

        Schläge wie von Bomben.

        In der aufgewühlten Weite

        Eine kleine Birke

        Hat unterirdisch sich

                                                                                                               Besonnen und gesammelt in der        

                                                                                                               Winterruhe

        Hat hervorgeguckt im Frühling

        Jetzt ist Sommer

        Was ich sehe ist

        Folge meiner Hände Arbeit

        Die ich gut mach:

        Daß  du was heimbringst, Kind, für die                                                       Familie

        Abschuß!                                                                                                 Meine kleine Birke

        Dunkler Stamm noch, dunkle Äste

        Zersplittert

        In der Sandfontäne

        Lautlos

        : Strebt nun auf gen Himmel

        Und ich sehe: .. so kann was zersplittern, ja ..

        Dreißig Jahre.

        Dreißig Jahre

        Heimweg aus dem Krieg.

        Straßen

        Unterm schwarzen Himmel.

        Und am Horizont der Wald

        Aus Brikettfabrikschornsteinen.

        Heimweg aus dem Krieg

        Im Krieg.

        Jeder Blick

        Macht schweigsam.

        Schweigen, das ist

        Leben.

        All die Jahre auf den Schultern

        All die Jahre.

        Weiter!

        Weiter!

        Weiter!

.       Dunkle Gärten.

        Dunkle Fenster.

        Lücken zwischen

        Sinkenden

        Fassaden.

        Dann

        Aus einer milden Ferne

        Abendlicht

        All die Jahre

        All die Jahre

Stimme Frau [off]: Frank! Mein Gott, Frank!          Das steht  und steht am Fenster und rührt sich nicht! Frank! Was soll nun werden?

        Birkenknüppel.

        Wolf: Was werden soll?

                          Gehen

                          Übers Land.

                          Über mein Land.

                          Panzerübungsland und Kohlegruben.

                          Gehen

                          Immer Gehen

                          Über’s Land

                          Das ich jetzt genau wie früher

                          Sehe:

                          Wüste!

        Birkenknüppel.

        Marschtritt.

        Marschierende  Alte  Kameraden [off]:          

        Was  Grübelst du Genosse!

        S’war die Zeit!

        Kaserne und Fabrik

        Und die Wunden in der Landschaft

        Tagebau und Panzerübungsplatz

        Was wollten wir denn machen!

        Das war die Bedingung

        Kinder, daß

        Wir der Familie was

        Nach Hause bringen!

        Marschtritt, sich entferndend

        Birkenknüppel.

        Wolf: Die alten Kameraden!

                          Die

                          – als sie es waren

                          Auch Genossen hießen! –

                          Marschiern

                          Aus der Kaserne!

                          Marschieren in ein Land, das wieder

                          Groß ist!

                          Marschieren in die Welt

                          Und grüßen

                          – Augen rechts! –

                          Und sagen:

                          Marschtritt.

                          Marschierende   Alte  Kameraden [off]:   

                          Mit uns zieht

                          Die neue Zeit

                          Ein jeder muß

                          Sehen wo er bleibt!

                          Marschtritt, sich entfernend. – Aufkommender Wind.

        Birkenknüppel.

        Wolf: Gehen.

                          Gehen.

                          Wind.

        Wolf: Stehen.

                          Platz vor der Kaserne, vor

                          Der neuen Obrigkeit:

        Redner [vom Wind  hinweggetragene  Worte]:                Mitbürgerinnen und Mitbürger!

        Ich spreche hier für das Neue Forum zu euch.                              Mitbürgerinnen und Mitbürger!

        Ihr habt euch versammelt, um dem Auszug beizuwohnen der                 Soldaten, die das Bild unserer Stadt für zwei Jahrhunderte                           geprägt haben! Für viele von Euch nicht leicht, denn die     Schließung des Standortes Ermlitz-Wachau bedeutet         Arbeitsplatzverluste!

        Schon durch die Schließung der Brikettkraftwerke Tatkraft     und Sonne – ebenfalls angesiedelt in unserer Region seit      zweihundert Jahren – sind Arbeitsplätze vernichtet worden!

        Damals Vollbeschäftigung und heute Arbeitslosigkeit?

        Waren die Zeiten früher besser?

        Früher – als Königlich Sächsische Armee, Reichswehr,         Wehrmacht und Nationale Volksarmee hier ihre Rekruten   drillten?

        Früher – als unter einem fahlem Himmel und in der         Morgenkälte unsere Väter, Großväter und Urgroßväter Tag                   für Tag hinauszogen in die Brikettfabriken nach Borna,                            Wachau, Zeithain?

        „Leben!“ hörte ich einen Ermlitz-Wachauer sagen im         Dezember 1989: „Jetzt will ich leben!“

        Aber – könnt ihr das?!

        Können wir das?!

        Mit unsrem Hintergrund?

        Leben?

        Von einem Tag auf den andren leben?

        Wie war es denn?

        Wo haben wir unser Dasein gefristet?

        Unter schwarzen Himmeln!

        An den Ufern verseuchter Flüsse!

        Im Angesicht von Schauder und Leere, die uns anwehten,      wenn wir einen Spaziergang einmal weiter ausdehnten als bis               Wachau hinaus!

        Dann nämlich standen wir – und stehen wir noch heute! – am    Rand einer Wüste!

        Einer Wüste, die jene Zeit uns hinterlassen hat, in der wir Anhängsel von Waffen und Maschinen waren!

        Und diese Wüste, Ermlitz-Wachauer, ist noch immer in uns!

                          Wind und fahnenklirren.

        redner [off]:

        Wie war es!

        Wir sind aneinander vorbeigegangen!

        Wir haben nebeneinander hergelebt!

        Das war – von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr – unsere         Gegenwart!

        Wir haben die Augen verschlossen!

        Tief in uns drin haben wir in einer Wüste gehockt!

                          Wind und fahnenklirren.

        Stimme Wolf [off]:      So ist es!

                    fahnenklirren – dann  Stille

        redner [off] :                

        Kommen wir da raus!

        Kommen wir an jetzt in der Gegenwart!

        Kommen wir miteinander an bei uns!

        Wagen wir – daß es anders wird mit uns! – Demokratie!

        Stimme Frau [off]: Mein Gott! Das steht und steht am Fenster      und rührt sich nicht!

        Was siehst du da?!

                          Marschtritt.

                          Marschierende Alte Kameraden [off]:      

                          Genau!

                          Was

                          Siehst du da

                          Genosse!

                          Wir

                          – Augen rechts und Stechschritt –

                          Ziehen weiter

                          In Irgendsoein Asien!

                          Besetzen irgendeinen

                          Balkan!

                          Mit uns zieht

                          Die neue Zeit

                          Ein jeder sieht da

                          Wo er bleibt!

                      Marschtritt, sich entfernend. – Fahnenklirren.
 
                     Dünner Gesang weniger  Stimmen [off]:                                     Einigkeit und Recht und Freiheit
                     Für das deutsche Vaterland!
                     Danach laßt uns alle streben
                     Brüderlich mit Herz und Hand!

Erzähler: Wolf steht auf der Torfstraße, gesenkter Blick, mit der rechten Hand auf den Knüppel gestützt. Im Aufschauen sieht er vier Häuser weiter seine Tante Christine in ihrem Fenster im 2. Stock. Er wendet den Blick, geht los, biegt ein in die Mittelstraße, von wo es über das Kino „Weltecho“ zurückgeht auf die Ernst-Thälmann-Straße. Er überquert den Fahrdamm und erreicht über ein Brachland mit ausrangierten Maschinen­teilen die Grubenbahn aus dem Tagebau Weißenhain. – Auf der Torfstraße schaut die alte Frau Wolf weiter aus dem Fenster. Schließlich – es ist zehn nach halb elf – tritt Frau Niedegk aus der Haustür. Sie geht zu einem Audi, der am Straßenrand parkt.

Frau Niedegk: Na, Christine, Zeit Mittag zu machen!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Der Frank war hier.

Frau Niedegk: Noch einmal!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Er hätt mich sehen müssen.

Frau Niedegk: Er hat sich geschämt vor dir!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was hat er?

Frau Niedegk: Schon gut, Christine.

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Mir tät das nicht gefallen, wenn ich seine Frau wär! Den ganzen Tag durch die Stadt laufen!

Erzähler: Frau Niedegk wendet sich ab und verstaut mehrere Klappboxen im Kofferraum. Dann dreht sie sich um.

Frau Niedegk: Ich hab’s dir schon mal gesagt, Christine: Er wohnt nicht mehr zu Hause!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Den ganzen Tag durch die Stadt laufen! Herregott!

Frau Niedegk: Sie haben ihn in die Psychiatrie eingewiesen nach der Sache in Baden-Baden!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Ich versteh so schlecht, Frau Niedegk!

Frau Niedegk: Wieso er jetzt draußen ist – frag lieber nicht!

Pause.

Frau Niedegk: Christine? Alles in Ordnung?

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Jaja.

Pause.

Frau Niedegk: Ich muß. Nachmittagsschicht im Allkauf! Und der Mann kommt! Aus Stuttgart! Und will es aufgeräumt haben! Alles am Platz und eingekauft! Na, Hauptsache Arbeit! Sei froh daß du alt bist, Christine, und dein Dach überm Kopf hast! Man kommt nicht mehr zum Luftholen!

Zuklappende Hecktür, Schritte ums auto.

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Es ist nicht schön, wenn man zu nichts mehr nutze ist!

Frau Niedegk: Du hast dein Leben lang genug gearbeitet, Christine!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was?

Frau Niedegk: Weißt du, was ich mir wünsche, Christine? Im Lotto gewinnen und das Geld einfach ausgeben! Muß man denn immer zu etwas nutze sein!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Unredlich Geld macht nicht glücklich!

Frau Niedegk: Ach, Christine!

Autotür, startendes auto.

Erzähler: Es ist der 5. August 1993, und auch ich fahre nach Ermlitz-Wachau. Im Bus versuche ich mich an die Panzergrenadierkaserne 13 des ehemaligen Panzerregimentes „Wilhelm Pieck“ zu erinnern: An den Bohnerwachs- und Waffenölgeruch auf ihren Fluren und in den Stuben, an die vielen stillen Sonntagvormittage, an Detonationen und Tagesablaufpläne. Und ich erinnere mich an durchzechte und erschöpfte Nächte, in denen wir gegen das Leben, das wir führen mußten, aufbegehrt hatten. – Es ist gegen elf, als ich in Ermlitz-Wachau aus dem Bus steige. Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn von Schwelle zu Schwelle. Zögernd sticht sein Birkenknüppel ein in den Schotter zwischen den Schienen.

                    Stimme Frau [off]:                        

                    Hier!

                    Extraverdienst durch ..

                    Nein, hier!

                    Wach- und Sicherheitspersonal.

                    Voraussetzung: Flexibilität

                    Auftragsvermittlung § 34 a

                    Was bedeutet das?

                    Frank?!

                    Frank, hörst du mir zu?

                    Du mußt was machen!

        Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Arbeit ..

                          Arbeit, ja.

                          Arbeit ist das halbe Leben.

                    Stimme Vater [off off]:

                    Schlosser

                    Wirst du, Sohn!

                    Birkenknüppel.

        Wolf: Als Schlosser

                          In der Grube Zeithain

                          Abgelehnt.

        Stimme Frau [off]:

        Hier! Arbeitsvermittlung Teutec

        Sucht

        Erfahrene

        Bauschlosser und Schweißer

        Gelsenkirchen

        Bewerbung unter …

        Birkenknüppel.

        Wolf: Schlosser ..

                          In einem Gelsenkirchen  ..

                    Marschtritt.

                    Die  Alten  Kameraden [off]:      

                    Was zögerst du

                    Genosse!            

                    Wir

                    – der Balkan       

                    hat nicht Brot für alle! –

                    Ziehn jetzt weiter

                    In irgendeine

                    Zeitarbeit.

                     Andere Alte  kameraden [off]: 

                    Wir 

                    – Kapital

                    vermehrt den Volkswohlstand! –

                    In irgendein

                    Finanzgeschäft!

                    Alle [off]:           

                    Mit uns zieht

                    Die neue Zeit

                    Ein jeder sieht da

                    Wo er bleibt!

        Marschtritt, sich entferndend. – Das Innere eines wagens auf     stark befahrener Autobahn.

                    Autoradio [off]:                             

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Redner [ off off]:                           

                    Tief in uns drin haben wir in einer Wüste gehockt!

                    Kommen wir da raus!

                    Kommen wir an jetzt in der   Gegenwart!

        Birkenknüppel.

        Wolf: Jawohl!

                          Kommen wir jetzt an, haha!

                    Autoradio [off]:

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Birkenknüppel.

        Wolf: Jawohl!

                          Jawohl!

                          Autobahnkreuz Frankfurt.

                          Bis in den Ruhrpott

                          Dreihundert Kilometer.

                          Kommen wir jetzt an, haha!

                          Stimme [off]: Kerl, die Fuge!

                          Stimme Wolf [off]: Ich bin kein Maurer.

                          Stimme [off]: Hier wird gemacht, was angewiesen                                                                     wird!

                          Stimme Wolf [off]:  Ja.

                          Stimme [off]: Also!

                          Stimme Wolf [off]: Ja.

                          Stimme [off]: Siehst du!

                          Und Montag  Düsseldorf!

                          Stimme Wolf [off]: Ja.

         Birkenknüppel.

        Wolf: Rückzug.

                          Front begradigen und

                          Sitzen!

                          Hinter einem Lenkrad:

                          Sicherheit der Armaturen!

                          Das Innere eines wagens auf stark befahrener                                                                  Autobahn.

                          Autoradio [off]:

                          Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                          Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Redner [off off]:                            

                    Wo wolltet ihr leben!

                    Unter diesem schwarzen Himmel?! An den Ufern                                       verseuchter Flüsse, im Angesicht von Schauder und                                              Leere, die euch anwehten, wenn ihr einen Spaziergang                                                         weiter ausdehntet als bis Wachau hinaus …. ?

                    Dann nämlich standet ihr – und stehen wir noch heute!                                                         – am Rand einer Wüste!

                    Einer Wüste, die jene Zeit uns hinterlassen hat, in der                                       wir Anhängsel von Waffen und Maschinen waren!

                    Und diese Wüste, Ermlitz-Wachauer, ist noch immer in                                 uns!

        Birkenknüppel.

        Wolf: Jawohl!

                          Jawohl!

                    Autoradio [off]:

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Birkenknüppel.

        Wolf: Rückzug!

                          Sitzen

                          Ausruhn!

                          Draußen

                          Fahrtwind!

                    Autoradio [off]:                             

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                   Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:

                    He, Kommunist!

                    Wo guckst du hin?!

                    Ich hab dich nicht geordert

                    Daß du in die Landschaft guckst!

                    Denn wer bezahlt mir

                    Deine Arbeitszeit?!

                    Ich auch muß

                    Überleben!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Stimme: [off] Also!  Kelle in die Hand!

                    Und Mörtel! Den Buckel krumm gemacht!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Stimme[off]:     

                    Und Montag Augsburg!

                    Bewehrungsstahl

                    Schweißen im Akkord!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme Wolf  [off – murmelt]:     Ja und ja und ja!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:     Daj mi mlotek!

                    Stimme wolf [off]: Was?                                             

                    Stimme [off]: Das Chammer, Kumpel!

                    Stimme wolf[off]: Hier!

                    Stimme[off]: Mensch, schnell!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme Wolf [off – murmelt]      Ja und ja!

                    Stimme [off]:    Was du immer sprechen!?

                    Stimme Wolf [off]:

                    Dich geht das nichts an.

                    Du kennst das nicht:

                    Aufstehn

                    Pflichterfüllung

                    Niederlegen.

                    Und wieder Aufstehn.

                    Und sich selber

                    Hören …

                    Stimme [off]: Sich selber .. ?

                    Stimme Wolf [off]:

                     .. hören.

                    Ja.                                                                 

                    Die Gedanken:

                    Stimmen!

                    In einer Zelle

                    Einer

                    Uniform.

                    Stimme [off]:    Ein Witz, wie?

                    Stimme wolf [off]:                         Kein Witz.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Autoradio [off]:

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Birkenknüppel.

        Wolf: Rückzug:

                          Sitzen.

                          Ausruhn.

                          Draußen

                          Fahrtwind.

                          Schweigen jetzt.

        Autoradio [off]:           

        Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Redner [off off]:

        Waren die Zeiten früher besser? – Früher – als Königlich   Sächsische Armee, Reichswehr, Wehrmacht und Nationale ^                    Volksarmee hier ihre Rekruten drillten?

                    Marschtritt.

                    Die  Alten Kameraden [off]:       

                    Was 

                    Beschwert Ihr Euch

                    Genossen!

                    Wir

                    – geglückte Transaktionen

                    hinter uns! – 

                    Ziehn inzwischen

                    In ein anderes Finanzgeschäft!

                    Andere Alte kameraden [off]:   

                    Wir 

                    – Zeitarbeit                                                                                                                 liegt hinter uns! –

                    In einen fernen

                    Landstrich

                    In irgendwas

                    Was wir nicht waren!

                    Alle [off]:           

                    Mit uns zieht

                    Die Zeit

                    Ein jeder sieht da

                    Wo er bleibt!

        Marschtritt, sich entfernend. – Das Innere eines wagens auf     stark befahrener Autobahn.

        Autoradio [off]:

        Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off – näherkommend]:  He, Wolf!

                    Was stehst du

                    Guckst über Dächer?!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Und was ist das für eine Naht?

                                                  Stimme wolf [off]:        Was?

                                                  Stimme [off]: Was das für eine Naht ist?

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Mensch, was ist mit dir!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme wolf [off]:

                    Ich denke nach:

                    Es ist das Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:     Was ..?!

                                                  Es ist .. was?!

                                                  Dafür, Kerl

                                                  Hat man dich nicht bezahlt

                                                  Daß du mir

                                                  Im Zeitdruck

                                                  Spinnst!

                                                  Wissen willst

                                                 Was es ist!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Montag München

                                                 Hörst du?!

                                                 Wolf?!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau. – dann Stille. –                                    Autotür.

        Birkenknüppel.

        Wolf: Sitzen!

                          Sitzen!

                          Ausruhn!

                          Sitzen

                          Ausruhn

                          Denken.

                          Ja.

                          Das Ja.

                          Und der es spricht

                          In einem Herbst

                          An einem Birnbaum

                          Sechzehn Jahre ..

                          Und es spricht

                          – mit einer 

                          Aktentasche

                          und dem

                          Frühstücksbrot

                          In einem Parka

                          unterwegs

                          in einem Auto

                          auf die

                          Building-Sites

                          Europas –

                          Ist …..

        Birkenknüppel.

                    Startendes Auto.

                    Autoradio [off]:                             

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Marschtritt.

                    Die  Alten Kameraden [off]:       

                    Was grübelt ihr

                    Genossen!

                    Wir

                    – in fernen Ländern

                    die Geschäfte

                    glücken! –

                    Ziehn jetzt ein

                    In  große Häuser!

                    Stehn im Knast

                    Im Grab

                    Mit einem Bein

                    Wie alle!

                    Andere Alte kameraden [off]:   

                    Wir

                    – lang hinter uns

                    die Zeit! –

                    Ziehen

                    Alt und angstvoll

                    Durch die eignen Wüsten

                    Gehn

                    Allein durch

                    Ferne Horizonte!

        Alle [off]: Nur wer sich ändert

                                                  Bleibt sich treu!

                                                  Jaja!

                                                  Jaja!

                                                  Jaja!

                          Marschtritt, sich entfernend.

                          Autoradio [off]:

                          Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                          fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                          Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                          Stimme wolf  [off – murmelt]:  

                          Das Ja.

                          Und der es  spricht

                          In einer Angst

                          Vor fernen Himmeln

                          Geht

                          – ein Tier –

                          In einer Uniform

                          Von Aufstehn

                          Pflichterfüllung

                          Niederlegen!

                          Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                          Stimme [off –  näherkommend]:

                          Mensch, was redest du!

                          Stehst

                          Guckst über Dächer wieder!

                          Hinter eurer Mauer

                          Ging das:

                          Spinnen!

                          Hier nicht!

                          Hier ist kein Reservat

                          Für Über-Dächer-Gucker!

                          Du bist jetzt in der Welt

                          Und die will Taten sehn!

                          Für Spinner

                          Gibt’s das Reservat

                          Das Ghetto

                          Das bezahlt der Staat:

                          Sechshundert Stütze!

        Stimme wolf [off]:       Jawohl.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Montag Baden-Baden!

        Stimme Wolf [off]:      Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

Stimme (sehr fern): Ja und wieder Ja – und Nein? Sehen Sie, Herr Doktor, manchmal hat einer ’en Charakter, so’ne Struktur ..

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme wolf [off murmelt]:       

                    Ja, manchmal hat einer

                    So’n Sklavencharakter!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Du quatschtst so, Wolf.

                                                  Du krank

                                                  Ich gesehen immer.

                                                  Und jetzt

                                                  wieder über Dächer guckst!

                          Stimme (sehr fern): Ja und wieder Ja ..

                    Stimme wolf [off]:  

                    Die Gedanken, Pole ..

                    Nur das Tier sagt

                    Immer

                    Ja …

Erzähler: Es ist der 5. August 1993. Bis zur Sprengung der Kaserne des Panzerregimentes „Wilhelm Pieck“ verbleiben dreißig Minuten. – Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn, nimmt zwei Schwellen mit einem Schritt. Hart schlägt sein Birkenknüppel auf auf den Schotter zwischen den Schienen.

        Birkenknüppel.

        Wolf: Seht Ihr

                          Das Tier 

                          Den Domestik

                          Der ich bin

                          Wie er 

                          Durch Sand und Eisen

                          Durch die befohlne

                          Wüste

                          Läuft 

                          Über 

                          Von Panzerketten aufgeschobne 

                          Hügel? 

                          Da!

                          Da oben steht er!

                          Unten

                          Sie!

                          Seine

                          Kaserne!

                          Mit einem Ausguck

                          Auf den Himmel

                          Auf die fernen

                          Horizonte

                          Seine alte

                          Buchte:

                          Heimat!

        Birkenknüppel.             

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

        Stimme (sehr fern): Sehen Sie, Herr Doktor, .. Sehn Sie, mit der     Natur … das is, wie soll ich doch sagen .. 

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme  wolf [off murmelt]:  

                          Natur!

                          Das is Struktur .. !

                          Sklavenstruktur!

                          Da kann man  gar nichts machen!

                          Gar nichts! 

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau. Schweißbrenner im             Vordergrund.

                          Stimme wolf [off murmelt]:

                                                  Da läßt sich

                                                  Nichts mehr machen!

        Schweißbrenner aus. – Stille im Vordergrund. Hinten Hämmern und Schweißen.

                          Stimme [off schreit]:

                          He, verrückt, was!

                          Weg von der Kante!

                          Du vom Haus fällt!

                          Stimme wolf [off murmelt]:  

                    Da läßt sich

                    Nichts mehr machen!

                    Gar nichts mehr!                             

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

        Stimme: [off- ruft von fern)  Ist der verrück??

Laufschritt – näher kommend.

        Stimme: ([off]: Was ist mit dem?

        Stimme  des Polen[off]:

        Steht an der Kante.

        Guckt  ..

Hämmern  und Schweißen auf dem Bau. – Stille.

        Stimme [off]:  Geh langsam hin!

        Atmen eines mannes.  

        Stimme des  Polen [off  – von ferne]:

        Okay.

        Hier er ist.

Stille.

        Stimme [off]:

        Gut.

        Führ ihn runter.

        Soll dann

        Aufhörn hier.

Erzähler: 5. August 1993. Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn von Schwelle zu Schwelle. Bleibt stehen, schaut in den Kohlendreck und auf das Gras zwischen den Schienen.

        Stimme [off off – sehr fern]:

        Soll aufhörn hier.

        Soll gehen.

        Hier sind die Papiere.

Stimme Frau  [off]:

Was sitzt du am Tisch den ganzen Tag und redest kein Wort!

        Stimme [off off – sehr fern]:

        Führ ihn langsam

        Die Leiter

        Runter.

Stimme Frau  [off]:

Hier die Tabletten. Der Tee.

        Stimme [off off – sehr fern]:

                          Steht an der Kante.

                          Guckt ..

Stimme Frau  [off]:             

Frank ..?! Die Tabletten?

Wieso nimmst du die  Tabletten nicht? – Frank .. ?!

        Stimme [off off – sehr fern]:

        Steht und

        Guckt ..

Stimme Frau  [off]: Frank ..!

Erzähler: Wolf steht still im Gleisbett der stillgelegten Weißenhainer Grubenbahn.

        Wolf:                               Ja, so’n Charakter!

                                                  So’ne  Struktur!

                                                  Und so ein

                                                  Widerspruchsgeist auch:

                                                  Will springen!

                                                  Guckt in den Abgrund ..

                                                  Und nun?

                                                  Was nun?

Erzähler: Er läuft los; läuft mit kleinen, schnellen Schritte von Schwelle zu Schwelle.

        Der Birkenknüppel.

        Wolf:                               Irgendwer

                                                  – wer ist es? –

                                                  Sagt:

                                                  Was nicht arbeit’

                                                  Soll nicht essen!

                                                  Also:

                                                  Durchs Haus die Treppe runter!

                                                  Auf die Straße!

                                                  Zwischen Häuserwänden

                                                  Betonierten Winkeln                                  

                                                  Auf die Ausfallstraße!

                                                  Freies Feld

                                                  In Aussicht!

                                                  Noch aber

                                                  Giebel rechts

                                                  Und Giebel links

                                                  Erkaltete ..

Erzähler: Der Birkenknüppel vor ihm in der Luft wie eine eine Lanze.

        Wolf:                                Brikettfabrikschornsteine!

Erzähler: Kreisend nun der Birkenknüppel in seiner Hand …

        Wolf:                               Keine Arbeit mehr!

Erzähler: .. kreisend der Knüppel vor ihm, über ihm .. – Er tanzt.

        Wolf:                               Keine Arbeit!

                                                  Keine Arbeit!

Erzähler: So läuft er, tanzt er, läßt den Knüppel kreisen. – Auf Höhe der Kleingartenkolonie, „Balstenaue“ verläßt er das Gleisbett um über die Ermlitzer Äcker den östlichen Teil der Leipziger Straße zu erreichen. Hier bleibt er stehen, dreht sich um und schaut zurück zum Sanzeberg.

Ich erreiche den Sanzeberg gegen 11:45 Uhr. Wolf steht in diesem Augenblick unten auf freiem Land, steht wie ein Wanderer und schaut herauf zu uns. Dann läuft er weiter und verschwindet auf unsichtbaren Wegen zwischen den Einfamilienhäusern an der Leipziger Straße. – Auch ich schaue mich um: Das Plateau auf dem Sanzeberg abgesperrt mit Birkenknüppeln, hinter denen sich etliche Ermlitz-Wachauer und Leute aus der Umgebung versammelt haben. Unter einer Birke ein großer Mann im weißen Sommermantel. Geht hin und her zwischen Stativen mit Kameras, die er auf verschiedenen Punkte im Gelände ausrichtet. Eine Frau, auffällig geschminkt, macht ein paar Schritte in Schuhen mit hohen Absätzen, was schwierig ist auf dem lockeren Boden. Zündet sich eine Zigarette an. Vorn an der Absperrung die Enkeltochter der alten Christine Wolf mit dem kleinen Stiwi. Weitere Neugierige kommen. Einen von ihnen kenne ich: Herr Mundt, früher Ingenieur  im Kraftwerk Trachau. Er begrüßt zwei Siebzehnjährige, die mit Ferngläsern hinaus in die Landschaft schauen – auf Kaserne und Panzerübungsgelände jenseits der Leipziger Straße.

Erster Jugendlicher: Gucks dir an, lange siehst du das nicht mehr!

Zweiter Jugendlicher: Noch zehn  Minuten.

Erster Jugendlicher: Hallo, Onkel Eberhard. Im schwarzen Anzug zur Feier des Tages?

Herr Mundt: Ich bin auf Tour und grad vorbeigekommen. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Erster Jugendlicher: Auf Tour?

Herr Mundt: Das, was Arbeit heute ist, Jungs: Unterwegs sein. Leuten klar machen, was gut für sie ist.

Erster Jugendlicher: Handlungsreisender!

Herr Mundt: Erfaßt, Schlauberger!

Zweiter Jugendlicher: Und womit handeln Sie, Herr Mundt?

Herr Mundt: lacht Bedürfnis nach Sicherheit, Jungs. Das hat Konjunktur. Lebensversicherungen. Und ihr? Schule läuft?

Erster Jugendlicher: Ich bin raus. Mein Kumpel hier hält durch.

Herr Mundt: Soso.

Erster Jugendlicher: Ich bin in einem Geschäft, Onkel Eberhardt. Mit einem Freund.

Herr Mundt: Geschäft? Doch nicht mit dem, was du da rauchst?

Erster Jugendlicher: lacht Neenee, was Reelles.

Herr Mundt: Soso. – Was denn?

Erster  Jugendlicher: Wir haben einen Radioladen. – Guck nicht so, Onkel Eberhardt. Das bleibt kein Radioladen. Das wird was anderes.

Herr Mundt: Und was?

Zweiter Jugendlicher: Computer, Laptops. Es wird was mit Laptops.

Zweiter Jugendlicher: Sein Freund und er sind die ersten im Osten!

Herr Mundt: Nana! Wenn ihr die hundertsten wärt, wär das auch schon toll!

Erster Jugendlicher: Wieviel verdienst du, Onkel Eberhardt?

Herr Mundt: Mein lieber Herr Gesangsverein! Hör dir das an!

Erster Jugendlicher: Hey! In zwei Jahren steck ich dich in die Tasche! Meine Branche boomt!

Herr Mundt: Aber nicht du, wenn du das Zeug weiter rauchst!

Erster Jugendlicher: Wegsein ist das Leben!

Herr Mundt: Arbeit ist das Leben, das wirst du bald schon merken!

Erster Jugendlicher: Distanz, verstehst du – da geht alles leicht! Da seh ich, wie ich gehe – während ich doch in dem Augenblick eigentlich nur gehe! Multitasking, Onkel Eberhardt!

Herr Mundt: Multitasking? Haha, vielleicht kann ich von Euch noch was lernen, wie?!

Zweiter Jugendlicher: Neenee, dazu muß man jung sein.

Herr Mundt: Na hör dir das an!

Erzähler: Herr Mundt wendet sich überraschend an mich.       

Herr Mundt: Hören Sie das? Diese Jungs!? Das ist die neue Zeit!

Der Erzähler auf dem sanzeberg:                   Bitte? – Achja. – Sie scheinen ganz gut klarzukommen  ..

Herr Mundt: Wir kennen uns irgendwoher?

Der Erzähler auf dem sanzeberg: Ich kenn Sie noch als Ingenieur in Trachau.

Herr Mundt: Trachau? – Ach, der Ingenieur – den kenn ich gar nicht me …

Erster Jugendlicher: ruft Hehehehe! Guckt mal!

Erzähler: Jenseits der Leipziger Straße, zwischen von Panzern zerfahrenen Wegen, im abgesperrten Gelände, Wolf.

Herr Mundt: Ist der verrückt .. ?!

Erster Jugendlicher: Noch acht Minuten bis die Landschaft hier zum Himmel steigt!

Erzähler: Ich wende mich an die Jungs ..

Der Erzähler auf dem sanzeberg: Das Fernglas!

Herr Mundt: Lieber Gott! Man muß was machen!

Der herr im Mantel (schreit von der anderen Seite): Sieht den denn keiner!

Seine begleiterin: Wie schrecklich! Mein Gott!

Zweiter Jugendlicher: Die Bullen! Wo sind die Bullen?

Erster jugendlicher: Da drüben!

Zweiter jugendlicher: Die sehn den nicht!

Der Erzähler auf dem sanzeberg: Hier! Hier! Seht Ihr denn nicht!

Erzähler: Ich springe und rudere mit beiden Armen. Vergeblich. Die Polizeiposten, vor den Gärten an der Leipziger Straße, lehnen, soweit man das erkennen kann, unverändert an ihrem Wagen.

Und da sehe ich mich laufen. Rudernd mit beiden Armen den Sanzeberg hinunter, von Regengüssen ausgewaschene Rinnsale überspringend, stolpernd im Sand, verfolgt von Grasbüscheln, die ich lostrete mit meinen Landungen.

Ich laufe nicht wirklich.

In meiner Geschichte aber – weil das Eingebundensein in den Augenblick, weil der Wunsch nach Aufhebung der Überlegenheit über Wolf: Weil beides mich laufen sehen will – soll es so ein: Ich laufe, im Finale dieser wahren Begebenheit, den Sanzeberg hinab:

        Der den sanzeberg      hinunterlaufende         Erzähler:         Herr Wolf! Herr Wolf!                             

der Erzähler: Ich laufe, überspringe – während Wolf im Dunst dieses Sommertages für Augenblicke verschwindet – den Graben vor der Leipziger Straße; haste über den löchrigen Asphalt, laufe, an den letzten Gärten vorbei, hinaus auf das Übungsgelände, tauche – und erinnere mich an meine Dienstzeit – ab in die Panzerspuren, vor Augen dabei das abschätzige Lächeln eines Gefreiten, als die Rede wieder einmal auf Hauptmann Wolf kam.

        Stimme des gefreiten [off]:                   

        Der Wolf? Ein Wiedergänger! Und auf dem Friedhof geboren!   – Wieviel, Freunde? Zwanzig? Weg!

        Stimme Soldat [off]: Null ouvert! – Nur daß du dienst auf seinem Friedhof, Herr EK!

        Stimme  des gefreiten [off]: Noch drei Monate, mein         Freund! Noch drei Monate! – Was haben wir denn da? Die grüne Neun? Da gehen wir doch drunter, was Sprilli? – Und du, Dichter, was sagst du? Was sagt sein Spezi? Sein Verteidiger?! Du verstehst ihn! Siehst in ihn hinein, wie?

stimme Erzähler [off]:         Ich seh hinein, und er sieht heraus. Nur wird es uns nichts nützen.

Stimme Soldat [off]:            Was?! Was wird euch nichts nützen? Versteh ich nicht!

Stimme des gefreiten [off]: Laß mal gut sein, Sprilli.

Erzähler: Ich bin hinabgesprungen in eine weitere Panzerfahrrinne, und wenn ich herauskrieche, sehe ich ihn. Wolf geht durchs KdP. Ich stehe, schau mich um.  Drüben, bei den Polizeiposten, Bewegung.  Vorn Wolf. Hinter ihm die zerbrochene Schranke des Kontrollpunktes, Glasplitter, einsamer Fahnenmast.  

Langsam gehe ich weiter. Erreiche den Kontrollpunkt.  Wolf, den Rucksack in Händen, steht, mit dem Rücken zu mir, auf der Regimentsstraße.

Ich – in seinem Rücken – bewegungslos:

        Wolf und Der erzähler auf dem Kasernen­-

        gelände:

                          Wer nicht arbeit’

                          Soll nicht essen.

                          Wo

                          Hin?

                          Hierher ja.

                          Hinter alte Zäune

                          Wo die Zeit

                          Sich sammelte.

                          Hierher, ja

                          Wo Zeit

                          Sich weiter

                          Sammelt.

                          Stillsteht.

                          Heimat, ja.

                          Ihr Areal

                          – aufgebrochen

                          ausgeweidet:

                          Alte Hallen! –

                          Riesig.

                          Ort, der reglos

                          Alles löst

                          Und steht.

        Pause.

        Der erzähler auf dem Kasernen­gelände, Allein:

        Die Panzerwartungshalle.

        Pause.

        Der erzähler auf dem Kasernen­gelände, Allein:

                          Wir treten ein.

                          Ein Dach

                          Gestützt durch letzte Träger

                          Letzte Winkel

                          Gibt den Blick frei

                          Auf die Sonne.

                          Wir

                          In ihrem Licht

                          Unten

                          Treten an die Wand.

                          Die Zeit für uns

                          Steht nicht:

                          Vergeht!

                          Und auf dem Boden

                          Gras.

                          Wir

                          Müssen sehen:

                          Was man auf es warf:

                          Beton

                          Sprengt es hinweg

                          Und lebt.

                          So

                          Treten vor wir.

                          Stehen jetzt

                          Im Raum.

                          Bemalt

                          Um uns

                          Die Wände

                          Sprechen:

        Stimmen von Jugendlichen.

        Stimme:                          Du auch bist ein Faschist!

        Stimme:                          Bist eine rote Sau!

        Stimme:                          Tötet Nazis, wo ihr sie trefft!

        Stimme:                          Tötet alle Zecken!

        Stimme:                          Mit dem Abschied kommt Erinnerung.

        Stimme:                          Und nicht gelernt das Leben.

        Stimme:                          So lebet wohl.

        Stimme:                          Ficken wäre geil!

        Stimme:                          I did my time!

        Stimme:                          Ich tat es nicht.

        Stimme:                          Wer ist denn ich?

        Stimme:                          Ich bin ich.

        Stimme:                          Ich nicht.

        Stimme:                          Na und! Auf dieser Welt ist Platz für                                                                jede andre Welt.

        Stimme:                          Ist Platz für jedes Universum!

        Stimme:                          Haus steht neben Hütte, Villa über                                                                      Regenwurm. 

        Stimme:                          Was kümmert das den Regenwurm?

        Stimme:                          Was kümmert es den Regenwurm, daß                                               Estrich in der Welt ist, ha!

        Stimme:                          Mann, seid ihr blöd!

        Stimme:                          Hauptsache glücklich!

        Stimme:                          Genau! Ich bin als Stino glücklich!

        Stimme:                          Fuck you.

        Stimme:                          Krüppel!

        Stimme:                          Und Rainer liebt Susanne.

        Stimme:                          Der schwule Rainer?!

        Stimme:                          Wer denn ist Susanne?

        Stimme:                          Susanne gibt es nicht.

        Stimme:                          Doch. Ich bin’s! Susanne! Hier, das bin                                                                  ich!

        Stimme:                          Hier das bin ich! Ich nur will die

        Stimme:                          Fotze Fotze Fotze!

        Stimme:                          Du hast sie immer nur gemalt.

        Stimme:                          An eine Wand!

        Stimme:                          Ha, an Kasernenwände!

        Stimme:                          Es gibt mehr Dinge zwischen Bild und

                                                  Bild, als Eure Schulweisheit sich                                                                        träumen läßt!

        Stimme:                          This way I did my time.

        Stimme:                          So fick dich.

        Stimme:                          Fickt euch alle!

        Stimme:                          This way only, I did my time, it’s true.

        Stimme:                          Ich auch.

        Stimme:                          Ihr seid mir Helden!

        Stimme:                          Friede unsrer Asche!

        Stimme:                          Sowieso auf dieser Welt ist Platz nur für                                         die Asche!

        Stimme:                          Wie lange noch!

        Stimme:                          Solange Kapital regiert.

        Stimme:                          Und keiner liebt mich!                                                    

        Stimme:                          Doch, ich liebe dich: Jeannette aus                                                          Ermlitz-Wachau!

        Stimme:                          Wo, Jeanette, liegt denn Ermlitz-                                                                 Wachau!

        Stimme:                          Ermlitz-Wachau, das ist hier!

        Stimme:                          Wo ist den hier?

        Stimme:                          Hier!

        Stimme:                          Hier bin ich nicht ich.

        Stimme:                          I still did my time.

        Stimme:                          Ich tat es eben nicht!

        Stimme:                          Wer ist denn ich?

        Stimme:                          Ich. 

        Stimme:                          Ich nicht.

        Stimme:                          Trotzdem: Mit dem Abschied kommt                                                                  Erinnerung.

        Stimme:                          Erinnerung.

        Stimme:                          This way I did my time.

        Stille. 

        Martinshorn in der Ferne. Kommt näher. dann sehr nah.         – Stille

Finis

Erzähler: Wenn ich in meiner Kindheit vor dem Weckerklingeln erwache, ist da auf der Straße ein vereinzeltes Wort gewesen.

Dann Fußgetrappel.

An solchen Tagen stehe ich auf und trete ans Fenster.

Unten, auf dem Bürgersteig, eine dunkle Schlange, grau in der faden Straßenbeleuchtung – Arbeiter, Pendler, unterwegs zum Bahnhof, von wo sie in die Maschinenfabriken nach Leipzig fahren.

Eine Stunde später ertönen in Ermlitz-Wachau die Sirenen, mit denen die Brikettfabriken ihren Arbeitsbeginn verkünden.

In der Kaserne rücken die Mannschaften, Panzersoldaten, mit müdem Gesang aus zum Essen.

In den 1960er Jahren wird der Werktag von der Bevölkerung meiner Heimatstadt in Brikettfabriken verbracht, im Tagebau, in der Kaserne und in den Maschinen- und Textilfabriken von Leipzig.

Schließen die Fabriken, ruhen sich die Menschen einen Tag lang aus. Heruntergelassene Jalousien, vom Kohlestaub dunkle Vorgärten in der Sonne, auf den Straßen kein Lebewesen.

Meine Kindheit, will mir scheinen, besteht aus stillen Straßen und vergessenen Winkeln in Hinterhöfen und auf Dachböden.

Aus Arbeit und Erschöpfung.

Ist ein anderes Leben vorstellbar?

Eines, das nicht schweigend verbracht wird? Nicht in geistiger Abwesenheit und nicht mit der Sehnsucht in ein anderes Dasein?

Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ereignet sich am 5. August 1993.

Aus der Tür ihres Hauses in der Torfstraße in Ermlitz-Wachau, mit einer Plastetüte Möhrenkraut und Kartoffelschalen in der Hand, tritt Frau Niedegk.

Gewohnheitsmäßig blickt sie an der Fassade des Nachbarhauses nach oben.

Frau Niedegk: Steck den Kopf rein, Christine, heut ist Sprengung!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was?

Frau Niedegk: Die Kaserne! Heut wird die Kaserne gesprengt! Sie gehen alle auf den Sanzeberg hinaus, da kann man gut sehen!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer ist auf dem Sanzeberg?

Frau Niedegk: Ganz Ermlitz und ganz Wachau, Christine. Deine Enkelin auch. Sie hat den Stiwi mit!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Um Gottes willen, der Junge!

Frau Niedegk: Ach iwo, da passiert schon nix! – Es gehen viele hinaus, Christine!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Deshalb ist die Straße so leer! Ich wunder mich schon!

Schritte von fern.

Frau Niedegk: Da kommt noch einer … – Hat’s scheinbar eilig.

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Will der auch zu der Explosion .. ?

Frau Niedegk: Nee …. – Neenee, Christine, das ist   ..

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer?

Frau Niedegk: Ach, nichts …

Die Alte Christine im Fenster: Was?

Frau Niedegk: Schon gut, Christine.

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer? Ich kann ihn nicht erkennen ..

Frau Niedegk: Dein Fleisch und Blut, Christine, dein Neffe ..  Der Frank, der bei den Panzern war ..

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Der Frank  .. ?!

Erzähler: Auf dem Bürgersteig gegenüber dem Haus Torfstraße 12 nähert sich ein etwa fünfzigjähriger Mann. Er ist groß, unrasiert und trägt – trotz der 26°C an diesem Sommertag – eine ölige Wattejacke. Über der Jacke einen olivgrünen, randvoll gefüllten Rucksack. – Er läuft schnell und mit gesenktem Kopf. Kräftig setzt sein Birkenknüppel auf auf den Granitplatten des Bürgersteigs.

Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

Wolf:                Herbst.

                          Der Gartentisch. 

                          Ich am Birnbaum. Sechzehn Jahre.  

                          Mein Vater kommt vom Brunnen

                          Geleert und abgedeckt 

                          Die letzten Blätter fallen

                          Nackte Äste 

                          Violett der Horizont

                          Die Luft ist rauchig

        Stimme Vater [off] :    Schlosser wirst du, Sohn. Mit Abitur.

        Dann Offizier.

        Stimme Jugendlicher Wolf  [off]:  Nein.

Errzähler: Wolf bleibt stehen, die Rechte auf den Birkenknüppel gestützt. Er schaut vor sich hin auf den Bürgersteig.

        Wolf:        Mein Vater, Bergmann, hebt die Schultern:  … Arbeit ist das halbe Leben, ihm ist sie das ganze. Schweigsam immer … Die Gedanken, was weiß ich wo, haben ja auch Zeit zu wandern, die Gedanken, an der Kohlepresse, wo der Dampf die Arbeit macht, und die Hydraulik, und die Hände nur die Ordnung halten, und der Kopf ist frei, zum Wandern, was weiß ich wohin, in die Vergangenheit, weil, das Leben hier ist Arbeit, daß er, bis er stirbt, was heimbringt  …

 Stimme Vater [off]:            Daß du einmal mehr heimbringst für die Familie, Kind, als ich -: Offizier!

  Stimme Jugendlicher Wolf  [off]: Nein.

  Stimme Vater [off]: Offizier, Punktum.

Errzähler: Wolf schaut auf. Frau Niedegk steht auf der Straße, ohne sich zu rühren. Endlich läuft Wolf, weit ausholend mit dem Knüppel, weiter.

        Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

  Wolf:        Der Gartentisch. Die Stühle angeklappt. 

                    Abgedeckt der Brunnen.             

                    Ich am Birnbaum: 

                    Sechzehn Jahre ..

Erzähler: Wolf zieht die Torfstraße hinab. Frau Niedegk leert ihr Möhrenkraut und die Kartoffelschalen in einen Aschekübel, der vorn an der Straße steht.

        Der Birkenknüppel, schwächer werdend. Stimme im         Hintergrund.

        Wolf:        Sechzehn Jahre!

                          Unbekannt

                          Dem Vater

                          Bald 

                          Fällt Schnee ….

Erzähler: Die alte Christine Wolf in ihrem Fenster im 2. Stock beugt sich zu Frau Niedegk hinunter.

Die alte Christine Wolf im Fenster: Mit dem is was! Man muß bei ihm zu Hause anrufen!

Frau Niedegk: Bei ihm zu Hause? Christine! Kriegst du denn nichts mehr mit in deiner Mansarde? Die Steffi wohnt alleine jetzt, er ist weg von zu Hause! Und die Tochter auch, studiert in Leipzig!

Erzähler: Sagt Frau Niedegk und schließt die Haustür hinter sich. Zurück bleibt die leere Torfstraße, auf die aus ihrem Fenster im 2. Stock die alte Christine Wolf hinunter guckt wie vordem. – Drei Straßen weiter, auf dem Schlackeplatz des BSV 07 Ermlitz-Wachau, Sektion Fußball, lassen zwei Siebzehnjährige die Motoren ihrer Mopeds aufheulen.

Erster Jugendlicher: Cool eh!  Was für ’n Klang!

zweiter Jugendlicher: brüllt gegen die auf Hochtouren laufenden Motoren Könnte immer Sprengung sein! Die Straßen menschenleer! Los!

Geräusch der davonjagenden Mopeds. dann  wieder näherkommend –  Crash. Kichern.

Erzähler: Sie wälzen sich hin und her zwischen den gestürzten Mopeds, rollen herum auf den Bauch. Während zwischen ihnen ein Joint hin und her geht, schauen sie über ihre Mopeds wie über eine Düne auf die Straße. – Dort steht Wolf.

zweiter Jugendlicher: Silo.

Erster Jugendlicher: Silo?

zweiter Jugendlicher: Haben die Landser gesagt zu den Offizieren. Tage zu dienen, soviel wie ein Silo Löcher hat.

Kichern.

zweiter Jugendlicher: Hab ich von meinem Alten. War Silo – wie der.

Pause.

Erster Jugendlicher: Kennst du den?

zweiter Jugendlicher: Vom Sehen. – In den Hallen war der. Ausbildungskompanie. Panzerschlosser. ’N ganz Scharfer … Einmal zu spät aus dem Ausgang hieß dreimal Sturmbahn! Rauf und runter! Und jetzt …. kichert ..

Erzähler: Sie schlagen mit der Stirn auf auf den Tanks ihrer Maschinen. Schließlich legt sich der Junge, dessen Vater Offizier war, auf den Rücken. Sein Freund beobachtet weiter die Straße, von wo Wolf seinen Blick über den Schlackeplatz, die Mopeds und die Jungs wandern läßt.

Erster Jugendlicher: Mann, wie der aussieht! Und stinkt! Ich riech’s bis hierher!

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Quatsch!

Erster Jugendlicher: Quatsch? Weggesperrt gehört der!

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Wieso denn?

Erster Jugendlicher: Wieso denn! Wozu ist der gut?

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Mein Vater, Silo war der wie der … – Kichern. –  Und dann – tschingdarassa – Abzug der Armee aus Ermlitz-Wachau! Er bleibt hier, weil er das Haus hat! Aber – kein Geld mehr für den Weiterbau! Zwei Jahre läuft er rum wie mit’m Vorschlaghammer gepudert! Bis er einen neuen Job kriegt. Bei einer Zeitarbeitsfirma. Disponent. Schickt nun arme Schweine in den Westen zum Malochen! Lohn wird gezahlt, weniger als vorher, aber – die Kredite fließen wieder. – Kichern. – Das Haus wird weiter ausgebaut… – Kichern. –  Der Hausbau frißt ihn auf  –  mein Alter Pillen, daß er durchhält! – Kichern. –  Wozu ist das gut?

Erster Jugendlicher: Du erbst ein Haus!

Stille.

Erster Jugendlicher: Drehn wir noch ’ne Runde?

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Lieber nich …

Erster Jugendlicher: Hey?!

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: kichert Vielleicht brech ich mir den Hals!

Erzähler: Er hält den Joint hoch.

Erster Jugendlicher: Ach komm!

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Hey hey! Es soll alles dran sein an mir, wenn …

Erster Jugendlicher:  .. wenn was  .. ?

Jugendlicher, dessen Vater offizier war: .. wenn ich das Haus erb!

Kichern. – Dann  Stille.

Erzähler: Sie stehen auf und gehen, die Mopeds schiebend, ab. – Auch Wolf verläßt seinen Platz am Eingang des Ermlitz-Wachauer Sportplatzes. – Schnell und mit gesenktem Kopf läuft er zurück Richtung Stadt-Zentrum. Sein Birkenknüppel setzt kräftig auf auf den Granitplatten des Bürgersteigs.

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Sommerübung.

                          Abschuß auf Abschuß.

                          Schläge wie von Bomben.

                          Sandfontänen.

                          Draußen in der aufgewühlten Weite

                          Eine kleine Birke

                          Hat unterirdisch sich

                          Besonnen und gesammelt in der Winterruhe

                          Hat hervorgeguckt im Frühling

                          Jetzt ist Sommer

                          Was ich sehe ist

                          Folge meiner Hände Arbeit

                          Die ich gut mach:

        Stimme Vater [off]: Daß du was heimbringst, Kind, für die        Familie .. !

        Stimme Jugendlicher Wolf  [off]: Ja …

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Ja! Ja! Ja!

                          Und Abschuß:

                          Meine kleine Birke

                          Dunkler Stamm noch, dunkle Äste

                          Zersplittert

                          In der Sandfontäne

                          Lautlos

                          : Strebt nun auf gen Himmel

                          Und ich sehe: .. so kann was zersplittern, ja ..

                          Dreißig Jahre.

                          Dreißig Jahre

                          Heimweg aus dem Krieg.

                          Straßen

                          Unterm schwarzen Himmel.

                          Und am Horizont der Wald

                          Aus Brikettfabrikschornsteinen.

                          Längs des Heimwegs

                          Eisenzäune:

                          Dunkle Gärten.

                          Dunkle Fenster

                          Spiegeln:

                          Einen großen Mann

                          Mit Aktentasche und in Uniform

                          Der ich bin

                          Wolf, Frank

                          Leutnant Oberleutnant Hauptmann.

                          Lücken zwischen grauen

                          Aus dem

                          Letzten offnen

                          Krieg geschädigten

                          Fassaden.

                          Dann

                          Aus einer milden Ferne

                          Abendlicht:

                          Durchblick hier

                          Des Leutnants Oberleutnant Hauptmanns

                          Auf

                          Die andere Armee:

                          Brikettfabrikschornsteine.

                          Heimweg

                          Aus dem Krieg

                          Im Krieg.

                          Jeder Blick

                          Macht schweigsam.

                          Schweigen, das ist

                          Leben.

                          All die Jahre auf den Schultern.

        Stimme Frau [off]: Frank, wo bist du? Mit den Gedanken       immer sonstwo! Sag was!

                          Der Birkenknüppel.

        Wolf: All die Jahre auf den Schultern

                          All die Jahre.

Erzähler: Wolf geht vorbei an der geschlossenen Gaststätte „Volkshaus“, betritt die langgestreckte Ermlitz-Wachauer Ernst-Thälmann-Straße. Auf halbem Weg, hinter einem der Fenster der Förderschule „Janusz Korzcack“, das junge Gesicht eines Zivildienstleistenden. Eine Sekretärin in seinem Rücken verschiebt Magnetelemente auf einem Stundenplan.

Sekretärin: …  kriegt doch die Zähne nicht auseinander! Ein guter Schlosser, in Ordnung, aber ein Verkäufer, Autohausbesitzer! Davon hat er geredet! Der und ein Autohaus! Da mußt du umgehen können mit den Leuten! Reden! Und der, maulfaul wie er ist …! Neeneenee, eingebrochen wär der! Der wär nie der Mann gewesen dafür! Froh sein soll der, daß mein Mann diesen Škoda-Menschen noch abgefangen hat, als er rauskam bei ihm!  Er wollte ja nicht! Zögert und zögert! Und der Vertrag von Škoda mit den Bastigkeits fast schon unterschrieben!. – Wir, sag ich, wir haben das Grundstück! Und näher an der Stadt! Am Vergnügungspark, wenn es soweit ist! Und du bist Schlosser! – Nee, sagt er, neeneenee. Und zögert und zögert. – Aber nu, sag ich, nu is Fünf vor Zwölf! ! Nu geh mal raus auf die Straße! Daß du dastehst, wenn der Škoda-Mensch bei Bastigkeits die Tür hinter sich zu macht! Daß er dich sieht! Das ist wie mit deinen Zahnrädern, sag ich! Die liegen bei dir im Kasten, haben immer da gelegen, aber jetzt, wo’s eine andere Materialversorgung gibt, werden sie nicht mehr gebraucht. Oder nur ab und zu mal. Und da wird genommen, was vorne dran liegt! Was gesehen wird! Was rot angepinselt ist, so wie du es immer gemacht hast, wenn eins wichtig war von deinen Rädern! „Autohaus Kabitzke“ sag ich, „direkt am Freizeitpark Balstenaue“! Klingt dir das nicht in den Ohren? Ist das nichts? – Da ist er rausgegangen, mein Herr Kabitzke! Hat dem Škoda-Menschen unser Grundstück gezeigt an der Balstenaue! Nur, wie wir den Vertrag hatten, hat er wieder angefangen, der Gutmensch!. Daß es nicht recht war, mit dem Bastigkeit .. 

Erzähler: Die Sekretärin unterbricht die Arbeit an der Stundenplangraphik und tritt neben den Zivildienstleistenden.

Sekretärin: Nee, sag ich zu ihm, nee! Nu is gut! Wir haben jetzt den Vertrag und auf unserem Grundstück wird gebaut. Wir müssen auch sehen, wo wir bleiben in diesen Zeiten!

Erzähler: In diesem Moment läuft unten – schnell und mit gesenktem Kopf; lange Schritte begleitet von einem weitausholenden Aufsetzen des Knüppels  – Wolf vorbei.

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Dreißig Jahre Heimweg aus dem Krieg

                          Im Krieg!

                          Leben

                          Das ist Schweigen.

                          All die Jahre!

                          All die Jahre!

Sekretärin: Mein Gott .. ! Daß der wieder draußen ist! Der Wolf! Und in der Wattejacke bei dieser Wärme!

Erzähler: Sie geht zurück an die Wandgraphik.

Sekretärin von der Wandgraphik: Schauen Sie sich ihn ruhig an! Der war mal ’n ordentlicher Mensch! Ausbilder bei den Panzern!

Erzähler: Der Zivildienstleistende am Fenster schweigt.

Sekretärin: Wer sich nicht anpaßt, geht unter! So oder so. So ist das.

Der zivildienstleistende vom Fenster: In einer gerechten Welt ist Platz für jeden.

Erzähler: Die Sekretärin, eine Frau um die vierzig, schaut aufmerksam auf den jungen Zivildienstleistenden am Fenster.

Sekretärin: Gerechte Welt .. ?!

Erzähler: Der Zivildienstleistende nickt. Er geht zu einem Wischeimer, der in der Mitte des Sekretariats steht.

Sekretärin: aufgebracht Das sagen Sie! Weil Sie es sich leisten können! Weil sie ..

Erzähler: Der Zivildienstleistende senkt den Kopf und wischt den Boden. Die Sekretärin behält, was ihr auf der Zunge liegt und arbeitet weiter an ihrem Stundenplan. Ab und zu schaut sie auf den wischenden jungen Mann.

Sekretärin: Eines müssen Sie mir erklären, Josef: Warum leisten Sie Ihren Dienst im Osten?

Erzähler: Der Zivildienstleistende überhört die Frage.

Sekretärin: Warum sind Sie hier, Josef?

Erzähler: Der Zivildienstleistende Josef nimmt den Eimer und geht mit ihm auf den Flur hinaus. Er murmelt etwas, das die Sekretärin nicht versteht. – Inzwischen läuft Wolf die Ernst-Thälmann-Straße hinab. In den Ruß auf den Marmortreppen des Kulturhauses „Tatkraft“ haben Regentropfen aus kaputten Dachrinnen konzentrische Muster geschlagen. Unverändert über der Bergarbeiter- und Garnisonsstadt Ermlitz-Wachau steht der blasse Himmel des 5. August 1993. – Wolf biegt ab nach rechts. Links, weiß er, führt der Weg auf den Sanzeberg, von wo man den Blick hat auf die Kaserne, in der er gedient hat. Sein Birkenknüppel setzt auf auf Sand und Kohlestaub in trockenen Mulden am Straßenrand.

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: 1972:

                          Leutnant.

                          Rückkehr

                          Nach Ermlitz-Wachau.

                          Rückzug!

                          Tor abschließen!

                          Front begradigen!

                          Das Leben draußen: 

                          Dienst.

                          Was?

        Stimme: [off) Genosse Leutnant! Vierte Panzerwartungs­                    kompanie zum Waffenreinigungsappell angetreten!

        Stimme Wolf [off]: Danke. Rühren.

        Marschtritt; Gesang marschierender  Kolonnen in der

        ferne[off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘

       Und die alten Lieder singen

        Fühlen wir, es muß gelingen …

        Mit uns zieht …

        Die neue Zeit …

        Mit uns zieht …

        Die neue Zeit …

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Mit uns

                          Die neue Zeit!

                          Ich

                          Ziehe aus:

                          Zur Sommerübung.

                          Jahr für Jahr:

                          Sandfontänen

                          Schläge wie von Bomben

                          Marschtritt; Gesang

                          marschierender

                          Kolonnen in der

                          Ferne [off]:  Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘

                     Und die alten Lieder singen

                          Fühlen wir, es muß gelingen …

        Der Birkenknüppel.

        Wolf: Das ist draußen.

                          Drin, das ist:

                          Der Druck am Hals, der Preßstock

                          Kompaniechefzimmer.

                          4. Panzerwartungskompanie.

                          Ich der lange Leutnant Oberleutnant Hauptmann

                          Laufe hin und her

                          Sitze

                          Hinterm Schreibtisch:

                          Wandern der Gedanken, Kreisen wie Gestirne:

                                                                                                               Kinderstimmen [off off]:

        Kinderferienlager Anhalt.

        Vier Gefährten, Freunde

        Wir

        Türmen

        Ziehen unter einem großen Himmel

        Übers Land

        Wohnen in versteckten Scheunen

        Über denen

        – ist es Morgen?

        ist es Abend? –

        Jetzt

        Und weiter

        Von einem Jetzt

        Zum anderen

        Der Augenblick steht, der

        – Gewalt aus Blau –

        Kopf um Kopf

        Uns in die Nacken reißt

        Und unsre Pfeile

        Abnimmt

        Aufnimmt

        Die nun

        Steigen

        Steigen

        Wenden

        Fallen

        Wir

        Mit erhobnen Armen

        Bloßen Händen

        Unten

        Fangen und Empfangen

        Die Wellen von der Welten

        Hintergrund!

                    Marschtritt; Gesang

                    Marschierender

                    Kolonnen in der

                    Ferne [off]:       

                    Mit uns zieht …

                    Die neue Zeit …

        Der Birkenknüppel.

        Wolf: murmelt.. Hundert Meter weiter

                          Auf der Straße ..

                          … wartet

                          Lange schon

                          Die Polizei.

        Birkenknüppel.

        Wolf: Dann Herbst

        Birkenknüppel.

        Wolf:        Und Herbst

        Birkenknüppel.

        Wolf:        Und wieder Herbst.

        Stimme vater [off]:      Schlosser wirst du, Sohn. Mit Abitur.

        Stimme Jugendlicher Wolf [off]:            Ja.

        Stimme Vater [off]:      Dann Offizier.

        Stimme Jugendlicher Wolf [off]:            Ja.

        Stimme Vater [off]: Daß du was heimbringst, Kind, für die   Familie!

        Stimme Jugendlicher Wolf [off]:            Ja.

        Birkenknüppel.

                                                 Marschtritt.

                                                  In der ferne scharfes Kommando [off]:                                                                    Ein Lied!

     Gesang marschierender  Kolonnen in der ferne [off]:                           Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘ …

                          Kinderstimmen [off off]:

                          Und unsre Pfeile

                          Weiter

                          Steigen

                          Steigen

                          Immer weiter

        Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Das ist draußen.

                          Drin, das ist:

                          Der Druck am Hals, der Preßstock

                          Kompaniechefzimmer.

                          4. Panzerwartungskompanie.

                          Was hin und her läuft

                          Sitzt und seine Bücher führt

                          Und wieder sitzt und

                          Wartet

                          Ist Leutnant

                          Und wird Oberleutnant

                          Hauptmann.

        Birkenknüppel.

                          Lachsfarben

                          Jeder Horizont

                          Seitdem

                          Unter jedem Himmel

                          Kriech ich

        Birkenknüppel.

                          Unter Stacheldraht.

        Stimme Frau [off]: Frank, wo bist du? Mit den Gedanken immer sonstwo! Sag was! Mein Gott, das steht und steht und      rührt sich nicht!  Was ist da am Fenster?

        Birkenknüppel.

        Wolf: Aufwärts jeder Blick

                          Seitdem

                          Ist  ..

                          Kinderstimmen [off off]:                                                                                                              Steigen

                          Steigen

                          Wenden

                          Fallen

                          Stimme Frau [off]:  Frank!

Erzähler: Wolf läuft auf der Leipziger Straße auf löchrigem Fahrdamm, biegt ein auf einen Seitenweg. Rechts und links Zäune, letzte Gärten. Dann weites, flaches Land. Quer auf einem Feldweg ein Polizeiwagen. Wolf kehrt um, tritt den Rückweg an über Feldweg und Leipziger Straße. Einmal – vielleicht, weil er Kinderstimmen hört – bleibt er stehen. Der Blick – aufwärts gerichtet in eine farblose Wolkendecke.

Er läuft weiter. Rechts, in der Ferne, die Silhouette der Stadt Leipzig. Ein Gefühl, Angst wie vor einem heraufziehenden Gewitter, beschleunigt seine Schritte, läßt ihn den Knüppel kräftig und schnell in den Sand stoßen. – Auf der Kreuzung Leipziger – Espenhainer Straße bleibt er erneut stehen. Die Ausfahrten nach Norden und Westen gesperrt durch Polizeiwagen. Zwei Beamte, ausgestiegen, steif und mißtrauisch vor dem Wohnhaus Espenhainer Straße.  – Hier steht er. Auf der Ernst-Thälmann-Straße, von der Stadt her, nähert sich ein BMW; aus dem Eingang zur Kleingartenanlage „Balstenaue“ treten drei angetrunkene Männer. Zwei von ihnen tragen Nylonanzüge. – Als sie Wolfs ansichtig werden, dreht der eine sich um. Bleibt, den Rücken Wolf zugekehrt, stehen.

Erster Mann: Was’ los?

Zweiter: Wolf!

Erster: Was?!

Zweiter: Der Wolf!

Erzähler: Der Mann – weiße Nylonkacke unter einem vom Alkohol verzeichneten Gesicht – blickt krampf­haft in die Obstbäume hinter den Zäunen der Kleingartenkolonie.

Zweiter: Er hat mich nach Schwedt geschickt! Eingeknastet!

Erster: Fünfzehn Jahre her! Vergiß es!

Zweiter: Vergessen? Die Hölle glatt vergessen?!

Dritter mischt sich ein Was für eine Hölle?

Erster: Er hat im Militärgefängnis gesessen..

pfiff durch die Zähne.

Dritter: Und warum?

Erster: Nach Freiheit zumute war ihm. Heiseres Lachen. Nach frischer Luft und Wind und Sonne, nicht wahr!

Zweiter: Kein Stacheldraht und keine Mannschaftsunterkünfte!

Erster: Abgehaun von Wache  … – Als Unteroffizier!

Dritter: Und der?

Erster: Der da .. Der jetzt abhaut, ja ..  War sein Vorgesetzter und hat ihn verknackt.

Zweiter: Er hätte mich nicht vors Militärgericht bringen müssen!

Erster: Das ist es, worüber er nicht hinwegkommt! Niemand hat von seinem Ausflug etwas gewußt außer dem da! – Wie hat er gesagt zu dir?

Zweiter: Denkst du mir ist nicht nach Freiheit zumute?! Aber Freiheit nimmt man sich nicht! Man erarbeitet sie! Durch Disziplin! Durch Arbeit! Durch lebenslange Arbeit!

Erzähler: Sie stehen, ratlos, stumm. Kehren zurück dann in die Kolonie, in ein eben verlassenes Gartenlokal. – Auf der Espenhainer Straße hat der BMW die Absperrung erreicht und einen Mann im weißen Sommermantel entlassen. Dieser, ein Handy am Ohr, steht vor den Polizisten, die ihn aufmerksam anschauen.

der Mann im Mantel:  … Nein, noch nicht …. Was ich mache? – Was machst du grade? Was .. ? – Oh, ich würd dir gern .. – Nein, du arbeitest! Ja, du hast am Wochenende Ausstellung. Jawohl, auch gestern hast du gearbei ..  – Hast du nicht! Im Cicadilly! Mit Max! Mein Gott, Max! Ausgerechnet Max! Es ist nicht, wie ich denke? Wie denk ich denn? – Eifersüchtig? Ich? Aber Lödilein .. ! – Ja, Freitag .. – Nein, gestern bin ich durch die Stadt gefahren .. Leipzig, ja … Ghetto .. Plattenbau .. mit Zigaretten an den Fenstern diese Weiber  .. wie im Kontakthof, ja, hahaha … arbeitslos …  Nein, die hatten keine Arbeit mehr, bevor wir kamen ..  Nein, keine Geliebte … Nein, hab ich nicht! .. Nein!  … Eifersüchtig ich? Kennst du die Szene aus .. mir fällt der Film nicht ein …,  wo die beiden unten poppen, und der andere guckt über die Klowand, und die kleine Fotze unten, während sie hoch und runter hopst auf ihrem Lover, lächelt rauf zu ihrem Freund .. Es ist nicht wie du denkst, haha  .. – Ja, hat sie gesagt … 

Frauenstimme: Hey, ich bin auch noch .. 

Erzähler: Aus dem Wagenfenster schaut eine Frau.

der Mann im Mantel: Wie ..? .. Eine Kollegin .. Du es geht los .. . Bis morgen … Ich dich auch ….

Erzähler: Der Mann im Mantel steckt das Handy weg und spricht die Polizisten an.

der Mann im Mantel: Führt diese Straße auf den Sanzeberg?

der grosse Wachtmeister: Sie führt vor den Sanzeberg, und dann müssen Sie dort die Treppen hinaufsteigen.

der kleine Wachtmeister: Aber die Straße ist gesperrt.

der Mann im Mantel: Und einen anderen Weg gibt es nicht?

der grosse

Wachtmeister: Zu Fuß durch die Kleingartenanlage „Balstenaue“. Dort drüben.

der kleine Wachtmeister: 10 Minuten und Sie sind da.

Erzähler: Der Herr im weißen Sommermantel nickt und lächelt seiner Begleiterin hinter der Frontscheibe des BMW zu. – Wendet sich wieder an die Polizisten.

der Mann im Mantel: Ich komme von dem Unternehmen, das Ihnen in Ermlitz-Wachau den Freizeitpark bauen wird!

Erzähler: Die beiden Polizisten schauen sich an.

der kleine Wachtmeister: Dann kommen Sie sozusagen zu Ihrer Sprengung!

der Mann im Mantel: Um alles zu dokumentieren, meine Herren. Das heutige Ereignis wird aufgenommen und festgehalten für die Zukunft! Da, die Kameras!

der kleine §Wachtmeister: Sie dokumentieren das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Epoche! Verstehe!

der Mann im Mantel: In Epochen zu denken haben Sie gelernt im Osten, ich weiß, ich hatte ….

Erzähler: Er lächelt seine Begleiterin an.

der Mann im Mantel: … Gelegenheit, mich kundig zu machen betreffs der Mentalität dieses Landstrichs. – Aber wissen Sie auch, was die neue Epoche Ihnen bringen wird?

der kleine Wachtmeister: Sie werden’s uns sagen!

der Mann im Mantel: Sie wird Ihnen Ihre geheimsten Träume erfüllen, meine Herren, Träume, die Sie noch nie zu träumen wagten!

der kleine Wachtmeister: So!

der Mann im Mantel: Nennen Sie mir einen Traum, und ich beweise Ihnen, daß dieser Traum nichts ist gegen das, was Sie in unserem Park erwartet!

der kleine Wachtmeister: So auf die Schnelle .. ?

der Mann im Mantel: Träume leben! Das ist unser Slogan! Den Alltag unter, hinter, neben sich lassen! Alles wird gelebt! Was nicht gelebt werden kann, wird nicht geträumt!

Erzähler: Der Mann im weißen Sommermantel lächelt und geht in die Kniee.

Die Wachtmeister: Stopp!

der grosse Wachtmeister: Was soll das?!

Erzähler: Der Mann im weißen Sommermantel läßt sich von seiner Begleiterin eine Kamera reichen..

Die Wachtmeister: Stopp stopp stopp!

der Mann im Mantel: Zu spät, meine Herren! – Hier! Ihr Porträt! Es wird prangen auf den Prospekten von „Semiramis“! „Semiramis“ – größter deutscher Freizeitpark! Und darunter die Headline: „Dies sind die Beamten, die am Anfang einer neuen Ära über ihren Schatten sprangen!

der kleine Wachtmeister: Über unsere Schatten?

der Mann im Mantel: Ein Gefallen, meine Herren, um den ich Sie bitte! Oder soll ich wirklich mein Equipment 2 km weit schleppen? Es ist doch vollkommen ungefährlich da hinten an diesem .. wie heißt er doch? ..  Sanzeberg!

Erzähler: Die Wachtmeister sehen sich betreten an.

der grosse Wachtmeister: Wir hätten da doch einen Traum!

der Mann im Mantel: Welchen!

der grosse Wachtmeister: Daß jeder sich an Recht und Ordnung hält! Auch wenn es Mühe macht!

der kleine Wachtmeister: Das machte – sozusagen – die Polizei überflüssig!

Erzähler: Lächelnd wendet der Herr im weißen Sommermantel sich an seine Begleiterin.

der Mann im Mantel: Siehst du! Das mein ich! Der Osten, wenn er träumt, träumt preußisch! – Nichts für ungut, meine Herren; wir werden uns noch verstehen! Wo, sagten Sie, ging der andere Weg lang?

der grosse Wachtmeister: Da drüben.

der kleine Wachtmeister: Da, wo drüber steht, „Balstenaue“.

der Grosse Wachtmeister: Sie lassen Ihren BMW stehen und gehen zu Fuß durch die Kleingartenkolonie.

der kleine Wachtmeister: Zehn Minuten, und Sie sind da!

der Mann im Mantel: Danke auch, die Herren! Danke!  Trotzdem danke!

Sich entfernende Schritte.

der kleine Wachtmeister: Arschloch!

Erzähler: Die Wachtmeister schaun dem Herrn im Mantel und seiner Begleiterin nach, wie sie beladen mit Kameras im Durchlaß unter einem schmiedeeisernen Rundbogen mit dem Wort „Balstenaue“ verschwinden.

Dann geht ihr Blick wieder geradeaus, die lange Flucht der Ernst-Thälmann-Straße entlang, wo in der Ferne, bevor er ihren Augen entschwindet, Wolf noch einmal einbiegt auf die Torfstraße. – Zögerlicher setzt sein Birkenknüppel auf auf den Pflastersteinen des gewundenen und engen Bürgersteigs. Schließlich bleibt er stehen.

       Dünner Gesang weniger Stimmen [off]:
       Einigkeit und Recht und Freiheit
       Für das deutsche Vaterland!
       Danach laßt uns alle streben
       Brüderlich mit Herz und Hand!
       Einigkeit und Recht und Freiheit
       Sind des Glückes Unterpfand –
       Blüh im Glanze dieses Glückes,
       Blühe, deutsches Vaterland.

        Stimme  Wolf [off – scharf]:  Was?

        Stimme [off]: Genosse Hauptmann! Vierte         Panzerwartungskompanie zur Ausbildung angetreten!

        Stimme  Wolf [off – scharf]:  Danke. Links um! Ausrücken! –         in Lied!

        Marschtritt; Gesang marschierender  Kolonne und         Stimme   Wolf[off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘

Und die alten Lieder singen    

        Fühlen wir, es muß gelingen …

        Mit uns zieht …

        Die neue Zeit …

        Sich entfernender Marschtritt. Grölende Menschenmenge off]:        Recht und Einigkeit und Freiheit           

Fürr das deutsche Vaterland !

                    Birkenknüppel.

                    Wolf:                   Rückzug!

                                                  Tor abschließen.

                                                  Front begradigen!

                    Grölende Menschenmenge [off]:         

                    Recht und Einigkeit und Freiheit

                    Für das deutsche Vaterland !

        Birkenknüppel.

        Wolf: Das ist draußen.

                          Drin, das ist:

                          Hinter meiner Glastür.

                          [leiser] Vor dem Glas:

                          Balkon.

                          Beton

                          Die Häuserzeile gegenüber.

                          Dann das Land und dann

                          Die Stadt:

                                                                                                               Grölende

                                                                                                               Menschenmenge [off off]:

                                                                                                                           Recht und Einigkeit und Freiheit

                                                                                                                           Für das deutsche Vaterland !]

        Birkenknüppel.

        Wolf: Draußen, ja

                          Drinnen

                          Stille.

                          Ruhig

                          An der Wand

                          Die Uhr:

        Stimme Wolf [off off – sehr fern] :        Sandfontänen.

        Schläge wie von Bomben.

        In der aufgewühlten Weite

        Eine kleine Birke

        Hat unterirdisch sich

                                                                                                               Besonnen und gesammelt in der        

                                                                                                               Winterruhe

        Hat hervorgeguckt im Frühling

        Jetzt ist Sommer

        Was ich sehe ist

        Folge meiner Hände Arbeit

        Die ich gut mach:

        Daß  du was heimbringst, Kind, für die Familie

        Abschuß!                                                                                     Meine kleine Birke

        Dunkler Stamm noch, dunkle Äste

        Zersplittert

        In der Sandfontäne

        Lautlos

        : Strebt nun auf gen Himmel

        Und ich sehe: .. so kann was zersplittern, ja ..

        Dreißig Jahre.

        Dreißig Jahre

        Heimweg aus dem Krieg.

        Straßen

        Unterm schwarzen Himmel.

        Und am Horizont der Wald

        Aus Brikettfabrikschornsteinen.

        Heimweg aus dem Krieg

        Im Krieg.

        Jeder Blick

        Macht schweigsam.

        Schweigen, das ist

        Leben.

        All die Jahre auf den Schultern

        All die Jahre.

        Weiter!

        Weiter!

        Weiter!

.       Dunkle Gärten.

        Dunkle Fenster.

        Lücken zwischen

        Sinkenden

        Fassaden.

        Dann

        Aus einer milden Ferne

        Abendlicht

        All die Jahre

        All die Jahre

Stimme Frau [off]: Frank! Mein Gott, Frank!          Das steht  und steht am Fenster und rührt sich nicht! Frank! Was soll nun werden?

        Birkenknüppel.

        Wolf: Was werden soll?

                          Gehen

                          Übers Land.

                          Über mein Land.

                          Panzerübungsland und Kohlegruben.

                          Gehen

                          Immer Gehen

                          Über’s Land

                          Das ich jetzt genau wie früher

                          Sehe:

                          Wüste!

        Birkenknüppel.

        Marschtritt.

        Marschierende  Alte  Kameraden [off]:          

        Was  Grübelst du Genosse!

        S’war die Zeit!

        Kaserne und Fabrik

        Und die Wunden in der Landschaft

        Tagebau und Panzerübungsplatz

        Was wollten wir denn machen!

        Das war die Bedingung

        Kinder, daß

        Wir der Familie was

        Nach Hause bringen!

        Marschtritt, sich entfernend

        Birkenknüppel.

        Wolf: Die alten Kameraden!

                          Die

                          – als sie es waren

                          Auch Genossen hießen! –

                          Marschiern

                          Aus der Kaserne!

                          Marschieren in ein Land, das wieder

                          Groß ist!

                          Marschieren in die Welt

                          Und grüßen

                          – Augen rechts! –

                          Und sagen:

                          Marschtritt.

                          Marschierende   Alte  Kameraden [off]:   

                          Mit uns zieht

                          Die neue Zeit

                          Ein jeder muß

                          Sehen wo er bleibt!

                          Marschtritt, sich entfernend. – Aufkommender Wind.

        Birkenknüppel.

        Wolf: Gehen.

                          Gehen.

                          Wind.

        Wolf: Stehen.

                          Platz vor der Kaserne, vor

                          Der neuen Obrigkeit:

  Redner [vom Wind  hinweggetragene  Worte]:                Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Ich spreche hier für das Neue Forum zu euch.                              Mitbürgerinnen und Mitbürger!

 Ihr habt euch versammelt, um dem Auszug beizuwohnen der  Soldaten, die das Bild unserer Stadt für zwei Jahrhunderte          geprägt haben! Für viele von Euch nicht leicht, denn die     Schließung des Standortes Ermlitz-Wachau bedeutet         Arbeitsplatzverluste!

Schon durch die Schließung der Brikettkraftwerke Tatkraft     und Sonne – ebenfalls angesiedelt in unserer Region seit      zweihundert Jahren – sind Arbeitsplätze vernichtet worden!

        Damals Vollbeschäftigung und heute Arbeitslosigkeit?

        Waren die Zeiten früher besser?

 Früher – als Königlich Sächsische Armee, Reichswehr,         Wehrmacht und Nationale Volksarmee hier ihre Rekruten   drillten?

 Früher – als unter einem fahlem Himmel und in der         Morgenkälte unsere Väter, Großväter und Urgroßväter Tag für Tag hinauszogen in die Brikettfabriken nach Borna, Wachau, Zeithain?

„Leben!“ hörte ich einen Ermlitz-Wachauer sagen im         Dezember 1989: „Jetzt will ich leben!“

        Aber – könnt ihr das?!

        Können wir das?!

        Mit unsrem Hintergrund?

        Leben?

        Von einem Tag auf den andren leben?

        Wie war es denn?

        Wo haben wir unser Dasein gefristet?

        Unter schwarzen Himmeln!

        An den Ufern verseuchter Flüsse!

 Im Angesicht von Schauder und Leere, die uns anwehten,      wenn wir einen Spaziergang einmal weiter ausdehnten als bis               Wachau hinaus!

  Dann nämlich standen wir – und stehen wir noch heute! – am    Rand einer Wüste!

Einer Wüste, die jene Zeit uns hinterlassen hat, in der wir Anhängsel von Waffen und Maschinen waren!

        Und diese Wüste, Ermlitz-Wachauer, ist noch immer in uns!

                          Wind und fahnenklirren.

        redner [off]:

        Wie war es!

        Wir sind aneinander vorbeigegangen!

        Wir haben nebeneinander hergelebt!

        Das war – von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr – unsere         Gegenwart!

        Wir haben die Augen verschlossen!

        Tief in uns drin haben wir in einer Wüste gehockt!

                          Wind und fahnenklirren.

        Stimme Wolf [off]:      So ist es!

                    fahnenklirren – dann  Stille

        Redner [off] :                

        Kommen wir da raus!

        Kommen wir an jetzt in der Gegenwart!

        Kommen wir miteinander an bei uns!

        Wagen wir – daß es anders wird mit uns! – Demokratie!

        Stimme Frau [off]: Mein Gott! Das steht und steht am Fenster      und rührt sich nicht!

        Was siehst du da?!

                          Marschtritt.

                          Marschierende Alte Kameraden [off]:      

                          Genau!

                          Was

                          Siehst du da

                          Genosse!

                          Wir

                          – Augen rechts und Stechschritt –

                          Ziehen weiter

                          In Irgendsoein Asien!

                          Besetzen irgendeinen

                          Balkan!

                          Mit uns zieht

                          Die neue Zeit

                          Ein jeder sieht da

                          Wo er bleibt!

 

                     Marschtritt, sich entfernend. – Fahnenklirren.
                     Dünner Gesang weniger  Stimmen [off]:                                     Einigkeit und Recht und Freiheit
                     Für das deutsche Vaterland!
                     Danach laßt uns alle streben
                     Brüderlich mit Herz und Hand!

Erzähler: Wolf steht auf der Torfstraße, gesenkter Blick, mit der rechten Hand auf den Knüppel gestützt. Im Aufschauen sieht er vier Häuser weiter seine Tante Christine in ihrem Fenster im 2. Stock. Er wendet den Blick, geht los, biegt ein in die Mittelstraße, von wo es über das Kino „Weltecho“ zurückgeht auf die Ernst-Thälmann-Straße. Er überquert den Fahrdamm und erreicht über ein Brachland mit ausrangierten Maschinen­teilen die Grubenbahn aus dem Tagebau Weißenhain. – Auf der Torfstraße schaut die alte Frau Wolf weiter aus dem Fenster. Schließlich – es ist zehn nach halb elf – tritt Frau Niedegk aus der Haustür. Sie geht zu einem Audi, der am Straßenrand parkt.

Frau Niedegk: Na, Christine, Zeit Mittag zu machen!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Der Frank war hier.

Frau Niedegk: Noch einmal!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Er hätt mich sehen müssen.

Frau Niedegk: Er hat sich geschämt vor dir!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was hat er?

Frau Niedegk: Schon gut, Christine.

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Mir tät das nicht gefallen, wenn ich seine Frau wär! Den ganzen Tag durch die Stadt laufen!

Erzähler: Frau Niedegk wendet sich ab und verstaut mehrere Klappboxen im Kofferraum. Dann dreht sie sich um.

Frau Niedegk: Ich hab’s dir schon mal gesagt, Christine: Er wohnt nicht mehr zu Hause!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Den ganzen Tag durch die Stadt laufen! Herregott!

Frau Niedegk: Sie haben ihn in die Psychiatrie eingewiesen nach der Sache in Baden-Baden!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Ich versteh so schlecht, Frau Niedegk!

Frau Niedegk: Wieso er jetzt draußen ist – frag lieber nicht!

Pause.

Frau Niedegk: Christine? Alles in Ordnung?

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Jaja.

Pause.

Frau Niedegk: Ich muß. Nachmittagsschicht im Allkauf! Und der Mann kommt! Aus Stuttgart! Und will es aufgeräumt haben! Alles am Platz und eingekauft! Na, Hauptsache Arbeit! Sei froh daß du alt bist, Christine, und dein Dach überm Kopf hast! Man kommt nicht mehr zum Luftholen!

Zuklappende Hecktür, Schritte ums auto.

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Es ist nicht schön, wenn man zu nichts mehr nutze ist!

Frau Niedegk: Du hast dein Leben lang genug gearbeitet, Christine!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was?

Frau Niedegk: Weißt du, was ich mir wünsche, Christine? Im Lotto gewinnen und das Geld einfach ausgeben! Muß man denn immer zu etwas nutze sein!

Die Alte Christine Wolf im Fenster: Unredlich Geld macht nicht glücklich!

Frau Niedegk: Ach, Christine!

Autotür, startendes auto.

Erzähler: Es ist der 5. August 1993, und auch ich fahre nach Ermlitz-Wachau. Im Bus versuche ich mich an die Panzergrenadierkaserne 13 des ehemaligen Panzerregimentes „Wilhelm Pieck“ zu erinnern: An den Bohnerwachs- und Waffenölgeruch auf ihren Fluren und in den Stuben, an die vielen stillen Sonntagvormittage, an Detonationen und Tagesablaufpläne. Und ich erinnere mich an durchzechte und erschöpfte Nächte, in denen wir gegen das Leben, das wir führen mußten, aufbegehrt hatten. – Es ist gegen elf, als ich in Ermlitz-Wachau aus dem Bus steige. Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn von Schwelle zu Schwelle. Zögernd sticht sein Birkenknüppel ein in den Schotter zwischen den Schienen.

                    Stimme Frau [off]:                        

                    Hier!

                    Extraverdienst durch ..

                    Nein, hier!

                    Wach- und Sicherheitspersonal.

                    Voraussetzung: Flexibilität

                    Auftragsvermittlung § 34 a

                    Was bedeutet das?

                    Frank?!

                    Frank, hörst du mir zu?

                    Du mußt was machen!

        Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.

        Wolf: Arbeit ..

                          Arbeit, ja.

                          Arbeit ist das halbe Leben.

                    Stimme Vater [off off]:

                    Schlosser

                    Wirst du, Sohn!

                    Birkenknüppel.

        Wolf: Als Schlosser

                          In der Grube Zeithain

                          Abgelehnt.

        Stimme Frau [off]:

        Hier! Arbeitsvermittlung Teutec

        Sucht

        Erfahrene

        Bauschlosser und Schweißer

        Gelsenkirchen

        Bewerbung unter …

        Birkenknüppel.

        Wolf: Schlosser ..

                          In einem Gelsenkirchen  ..

                    Marschtritt.

                    Die  Alten  Kameraden [off]:      

                    Was zögerst du

                    Genosse!            

                    Wir

                    – der Balkan       

                    hat nicht Brot für alle! –

                    Ziehn jetzt weiter

                    In irgendeine

                    Zeitarbeit.

                     Andere Alte  kameraden [off]: 

                    Wir 

                    – Kapital

                    vermehrt den Volkswohlstand! –

                    In irgendein

                    Finanzgeschäft!

                    Alle [off]:           

                    Mit uns zieht

                    Die neue Zeit

                    Ein jeder sieht da

                    Wo er bleibt!

Marschtritt, sich entferndend. – Das Innere eines wagens auf     stark befahrener Autobahn.

                    Autoradio [off]:                             

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Redner [ off off]:                           

                    Tief in uns drin haben wir in einer Wüste gehockt!

                    Kommen wir da raus!

                    Kommen wir an jetzt in der   Gegenwart!

        Birkenknüppel.

        Wolf: Jawohl!

                          Kommen wir jetzt an, haha!

                    Autoradio [off]:

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Birkenknüppel.

        Wolf: Jawohl!

                          Jawohl!

                          Autobahnkreuz Frankfurt.

                          Bis in den Ruhrpott

                          Dreihundert Kilometer.

                          Kommen wir jetzt an, haha!

                          Stimme [off]: Kerl, die Fuge!

                          Stimme Wolf [off]: Ich bin kein Maurer.

                          Stimme [off]: Hier wird gemacht, was angewiesen                                                                     wird!

                          Stimme Wolf [off]:  Ja.

                          Stimme [off]: Also!

                          Stimme Wolf [off]: Ja.

                          Stimme [off]: Siehst du!

                          Und Montag  Düsseldorf!

                          Stimme Wolf [off]: Ja.

         Birkenknüppel.

        Wolf: Rückzug.

                          Front begradigen und

                          Sitzen!

                          Hinter einem Lenkrad:

                          Sicherheit der Armaturen!

                          Das Innere eines wagens auf stark befahrener                                                                  Autobahn.

                          Autoradio [off]:

                          Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                          Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Redner [off off]:                            

                    Wo wolltet ihr leben!

                    Unter diesem schwarzen Himmel?! An den Ufern                      verseuchter Flüsse, im Angesicht von Schauder und                      Leere, die euch anwehten, wenn ihr einen Spaziergang                      weiter ausdehntet als bis Wachau hinaus …. ?

                    Dann nämlich standet ihr – und stehen wir noch heute!                                                         – am Rand einer Wüste!

                    Einer Wüste, die jene Zeit uns hinterlassen hat, in der                     wir Anhängsel von Waffen und Maschinen waren!

                    Und diese Wüste, Ermlitz-Wachauer, ist noch immer in                      uns!

        Birkenknüppel.

        Wolf: Jawohl!

                          Jawohl!

                    Autoradio [off]:

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Birkenknüppel.

        Wolf: Rückzug!

                          Sitzen

                          Ausruhn!

                          Draußen

                          Fahrtwind!

                    Autoradio [off]:                             

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:

                    He, Kommunist!

                    Wo guckst du hin?!

                    Ich hab dich nicht geordert

                    Daß du in die Landschaft guckst!

                    Denn wer bezahlt mir

                    Deine Arbeitszeit?!

                    Ich auch muß

                    Überleben!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Stimme: [off] Also!  Kelle in die Hand!

                    Und Mörtel! Den Buckel krumm gemacht!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Stimme[off]:     

                    Und Montag Augsburg!

                    Bewehrungsstahl

                    Schweißen im Akkord!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme Wolf  [off – murmelt]:     Ja und ja und ja!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:     Daj mi mlotek!

                    Stimme wolf [off]: Was?                                             

                    Stimme [off]: Das Chammer, Kumpel!

                    Stimme wolf[off]: Hier!

                    Stimme[off]: Mensch, schnell!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme Wolf [off – murmelt]      Ja und ja!

                    Stimme [off]:    Was du immer sprechen!?

                    Stimme Wolf [off]:

                    Dich geht das nichts an.

                    Du kennst das nicht:

                    Aufstehn

                    Pflichterfüllung

                    Niederlegen.

                    Und wieder Aufstehn.

                    Und sich selber

                    Hören …

                    Stimme [off]: Sich selber .. ?

                    Stimme Wolf [off]:

                     .. hören.

                    Ja.                                                                 

                    Die Gedanken:

                    Stimmen!

                    In einer Zelle

                    Einer

                    Uniform.

                    Stimme [off]:    Ein Witz, wie?

                    Stimme wolf [off]:                         Kein Witz.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Autoradio [off]:

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Birkenknüppel.

        Wolf: Rückzug:

                          Sitzen.

                          Ausruhn.

                          Draußen

                          Fahrtwind.

                          Schweigen jetzt.

        Autoradio [off]:           

        Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Redner [off off]:

        Waren die Zeiten früher besser? – Früher – als Königlich   Sächsische Armee, Reichswehr, Wehrmacht und Nationale ^                    Volksarmee hier ihre Rekruten drillten?

                    Marschtritt.

                    Die  Alten Kameraden [off]:       

                    Was 

                    Beschwert Ihr Euch

                    Genossen!

                    Wir

                    – geglückte Transaktionen

                    hinter uns! – 

                    Ziehn inzwischen

                    In ein anderes Finanzgeschäft!

                    Andere Alte kameraden [off]:   

                    Wir 

                    – Zeitarbeit                                                                                                                 liegt hinter uns! –

                    In einen fernen

                    Landstrich

                    In irgendwas

                    Was wir nicht waren!

                    Alle [off]:           

                    Mit uns zieht

                    Die Zeit

                    Ein jeder sieht da

                    Wo er bleibt!

        Marschtritt, sich entfernend. – Das Innere eines wagens auf     stark befahrener Autobahn.

        Autoradio [off]:

        Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off – näherkommend]:  He, Wolf!

                                                           Was stehst du

                                                           Guckst über Dächer?!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Und was ist das für eine Naht?

                                                  Stimme wolf [off]:        Was?

                                                  Stimme [off]: Was das für eine Naht ist?

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Mensch, was ist mit dir!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme wolf [off]:

                    Ich denke nach:

                    Es ist das Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:     Was ..?!

                                                  Es ist .. was?!

                                                  Dafür, Kerl

                                                  Hat man dich nicht bezahlt

                                                  Daß du mir

                                                  Im Zeitdruck

                                                  Spinnst!

                                                  Wissen willst

                                                 Was es ist!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Montag München

                                                 Hörst du?!

                                                 Wolf?!

                    Stimme Wolf [off]: Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau. – dann Stille. –                                    Autotür.

        Birkenknüppel.

        Wolf: Sitzen!

                          Sitzen!

                          Ausruhn!

                          Sitzen

                          Ausruhn

                          Denken.

                          Ja.

                          Das Ja.

                          Und der es spricht

                          In einem Herbst

                          An einem Birnbaum

                          Sechzehn Jahre ..

                          Und es spricht

                          – mit einer 

                          Aktentasche

                          und dem

                          Frühstücksbrot

                          In einem Parka

                          unterwegs

                          in einem Auto

                          auf die

                          Building-Sites

                          Europas –

                          Ist …..

        Birkenknüppel.

                    Startendes Auto.

                    Autoradio [off]:                             

                    Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                   

                    Marschtritt.

                    Die  Alten Kameraden [off]:       

                    Was grübelt ihr

                    Genossen!

                    Wir

                    – in fernen Ländern

                    die Geschäfte

                    glücken! –

                    Ziehn jetzt ein

                    In  große Häuser!

                    Stehn im Knast

                    Im Grab

                    Mit einem Bein

                    Wie alle!

                    Andere Alte kameraden [off]:   

                    Wir

                    – lang hinter uns

                    die Zeit! –

                    Ziehen

                    Alt und angstvoll

                    Durch die eignen Wüsten

                    Gehn

                    Allein durch

                    Ferne Horizonte!

        Alle [off]: Nur wer sich ändert

                                                  Bleibt sich treu!

                                                  Jaja!

                                                  Jaja!

                                                  Jaja!

                          Marschtritt, sich entfernend.

                          Autoradio [off]:

                          Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                          fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn

                          Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                          Stimme wolf  [off – murmelt]:  

                          Das Ja.

                          Und der es  spricht

                          In einer Angst

                          Vor fernen Himmeln

                          Geht

                          – ein Tier –

                          In einer Uniform

                          Von Aufstehn

                          Pflichterfüllung

                          Niederlegen!

                          Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                          Stimme [off –  näherkommend]:

                          Mensch, was redest du!

                          Stehst

                          Guckst über Dächer wieder!

                          Hinter eurer Mauer

                          Ging das:

                          Spinnen!

                          Hier nicht!

                          Hier ist kein Reservat

                          Für Über-Dächer-Gucker!

                          Du bist jetzt in der Welt

                          Und die will Taten sehn!

                          Für Spinner

                          Gibt’s das Reservat

                          Das Ghetto

                          Das bezahlt der Staat:

                          Sechshundert Stütze!

        Stimme wolf [off]:       Jawohl.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Montag Baden-Baden!

        Stimme Wolf [off]:      Ja.

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

Stimme (sehr fern): Ja und wieder Ja – und Nein? Sehen Sie, Herr Doktor, manchmal hat einer ’en Charakter, so’ne Struktur ..

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme wolf [off murmelt]:       

                    Ja, manchmal hat einer

                    So’n Sklavencharakter!

                    Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme [off]:    Du quatschtst so, Wolf.

                                                  Du krank

                                                  Ich gesehen immer.

                                                  Und jetzt

                                                  wieder über Dächer guckst!

                          Stimme (sehr fern): Ja und wieder Ja ..

                    Stimme wolf [off]:  

                    Die Gedanken, Pole ..

                    Nur das Tier sagt

                    Immer

                    Ja …

Erzähler: Es ist der 5. August 1993. Bis zur Sprengung der Kaserne des Panzerregimentes „Wilhelm Pieck“ verbleiben dreißig Minuten. – Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn, nimmt zwei Schwellen mit einem Schritt. Hart schlägt sein Birkenknüppel auf auf den Schotter zwischen den Schienen.

        Birkenknüppel.

        Wolf: Seht Ihr

                          Das Tier 

                          Den Domestik

                          Der ich bin

                          Wie er 

                          Durch Sand und Eisen

                          Durch die befohlne

                          Wüste

                          Läuft 

                          Über 

                          Von Panzerketten aufgeschobne 

                          Hügel? 

                          Da!

                          Da oben steht er!

                          Unten

                          Sie!

                          Seine

                          Kaserne!

                          Mit einem Ausguck

                          Auf den Himmel

                          Auf die fernen

                          Horizonte

                          Seine alte

                          Buchte:

                          Heimat!

        Birkenknüppel.             

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

        Stimme (sehr fern): Sehen Sie, Herr Doktor, .. Sehn Sie, mit der     Natur … das is, wie soll ich doch sagen .. 

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

                    Stimme  wolf [off murmelt]:  

                          Natur!

                          Das is Struktur .. !

                          Sklavenstruktur!

                          Da kann man  gar nichts machen!

                          Gar nichts! 

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau. Schweißbrenner im             Vordergrund.

                          Stimme wolf [off murmelt]:

                                                  Da läßt sich

                                                  Nichts mehr machen!

        Schweißbrenner aus. – Stille im Vordergrund. Hinten Hämmern und Schweißen.

                          Stimme [off schreit]:

                          He, verrückt, was!

                          Weg von der Kante!

                          Du vom Haus fällt!

                          Stimme wolf [off murmelt]:  

                    Da läßt sich

                    Nichts mehr machen!

                    Gar nichts mehr!                             

        Hämmern und Schweißen auf dem Bau.

        Stimme: [off- ruft von fern)  Ist der verrück??

Laufschritt – näher kommend.

        Stimme: ([off]: Was ist mit dem?

        Stimme  des Polen[off]:

        Steht an der Kante.

        Guckt  ..

Hämmern  und Schweißen auf dem Bau. – Stille.

        Stimme [off]:  Geh langsam hin!

        Atmen eines mannes.  

        Stimme des  Polen [off  – von ferne]:

        Okay.

        Hier er ist.

Stille.

        Stimme [off]:

        Gut.

        Führ ihn runter.

        Soll dann

        Aufhörn hier.

Erzähler: 5. August 1993. Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn von Schwelle zu Schwelle. Bleibt stehen, schaut in den Kohlendreck und auf das Gras zwischen den Schienen.

        Stimme [off off – sehr fern]:

        Soll aufhörn hier.

        Soll gehen.

        Hier sind die Papiere.

Stimme Frau  [off]:

Was sitzt du am Tisch den ganzen Tag und redest kein Wort!

        Stimme [off off – sehr fern]:

        Führ ihn langsam

        Die Leiter

        Runter.

Stimme Frau  [off]:

Hier die Tabletten. Der Tee.

        Stimme [off off – sehr fern]:

                          Steht an der Kante.

                          Guckt ..

Stimme Frau  [off]:             

Frank ..?! Die Tabletten?

Wieso nimmst du die  Tabletten nicht? – Frank .. ?!

        Stimme [off off – sehr fern]:

        Steht und

        Guckt ..

Stimme Frau  [off]: Frank ..!

Erzähler: Wolf steht still im Gleisbett der stillgelegten Weißenhainer Grubenbahn.

        Wolf:                               Ja, so’n Charakter!

                                                  So’ne  Struktur!

                                                  Und so ein

                                                  Widerspruchsgeist auch:

                                                  Will springen!

                                                  Guckt in den Abgrund ..

                                                  Und nun?

                                                  Was nun?

Erzähler: Er läuft los; läuft mit kleinen, schnellen Schritte von Schwelle zu Schwelle.

        Der Birkenknüppel.

        Wolf:                               Irgendwer

                                                  – wer ist es? –

                                                  Sagt:

                                                  Was nicht arbeit’

                                                  Soll nicht essen!

                                                  Also:

                                                  Durchs Haus die Treppe runter!

                                                  Auf die Straße!

                                                  Zwischen Häuserwänden

                                                  Betonierten Winkeln                                  

                                                  Auf die Ausfallstraße!

                                                  Freies Feld

                                                  In Aussicht!

                                                  Noch aber

                                                  Giebel rechts

                                                  Und Giebel links

                                                  Erkaltete ..

Erzähler: Der Birkenknüppel vor ihm in der Luft wie eine eine Lanze.

        Wolf:                                Brikettfabrikschornsteine!

Erzähler: Kreisend nun der Birkenknüppel in seiner Hand …

        Wolf:                               Keine Arbeit mehr!

Erzähler: .. kreisend der Knüppel vor ihm, über ihm .. – Er tanzt.

        Wolf:                               Keine Arbeit!

                                                  Keine Arbeit!

Erzähler: So läuft er, tanzt er, läßt den Knüppel kreisen. – Auf Höhe der Kleingartenkolonie, „Balstenaue“ verläßt er das Gleisbett um über die Ermlitzer Äcker den östlichen Teil der Leipziger Straße zu erreichen. Hier bleibt er stehen, dreht sich um und schaut zurück zum Sanzeberg.

Ich erreiche den Sanzeberg gegen 11:45 Uhr. Wolf steht in diesem Augenblick unten auf freiem Land, steht wie ein Wanderer und schaut herauf zu uns. Dann läuft er weiter und verschwindet auf unsichtbaren Wegen zwischen den Einfamilienhäusern an der Leipziger Straße. – Auch ich schaue mich um: Das Plateau auf dem Sanzeberg abgesperrt mit Birkenknüppeln, hinter denen sich etliche Ermlitz-Wachauer und Leute aus der Umgebung versammelt haben. Unter einer Birke ein großer Mann im weißen Sommermantel. Geht hin und her zwischen Stativen mit Kameras, die er auf verschiedenen Punkte im Gelände ausrichtet. Eine Frau, auffällig geschminkt, macht ein paar Schritte in Schuhen mit hohen Absätzen, was schwierig ist auf dem lockeren Boden. Zündet sich eine Zigarette an. Vorn an der Absperrung die Enkeltochter der alten Christine Wolf mit dem kleinen Stiwi. Weitere Neugierige kommen. Einen von ihnen kenne ich: Herr Mundt, früher Ingenieur  im Kraftwerk Trachau. Er begrüßt zwei Siebzehnjährige, die mit Ferngläsern hinaus in die Landschaft schauen – auf Kaserne und Panzerübungsgelände jenseits der Leipziger Straße.

Erster Jugendlicher: Gucks dir an, lange siehst du das nicht mehr!

Zweiter Jugendlicher: Noch zehn  Minuten.

Erster Jugendlicher: Hallo, Onkel Eberhard. Im schwarzen Anzug zur Feier des Tages?

Herr Mundt: Ich bin auf Tour und grad vorbeigekommen. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Erster Jugendlicher: Auf Tour?

Herr Mundt: Das, was Arbeit heute ist, Jungs: Unterwegs sein. Leuten klar machen, was gut für sie ist.

Erster Jugendlicher: Handlungsreisender!

Herr Mundt: Erfaßt, Schlauberger!

Zweiter Jugendlicher: Und womit handeln Sie, Herr Mundt?

Herr Mundt: lacht Bedürfnis nach Sicherheit, Jungs. Das hat Konjunktur. Lebensversicherungen. Und ihr? Schule läuft?

Erster Jugendlicher: Ich bin raus. Mein Kumpel hier hält durch.

Herr Mundt: Soso.

Erster Jugendlicher: Ich bin in einem Geschäft, Onkel Eberhardt. Mit einem Freund.

Herr Mundt: Geschäft? Doch nicht mit dem, was du da rauchst?

Erster Jugendlicher: lacht Neenee, was Reelles.

Herr Mundt: Soso. – Was denn?

Erster  Jugendlicher: Wir haben einen Radioladen. – Guck nicht so, Onkel Eberhardt. Das bleibt kein Radioladen. Das wird was anderes.

Herr Mundt: Und was?

Zweiter Jugendlicher: Computer, Laptops. Es wird was mit Laptops.

Zweiter Jugendlicher: Sein Freund und er sind die ersten im Osten!

Herr Mundt: Nana! Wenn ihr die hundertsten wärt, wär das auch schon toll!

Erster Jugendlicher: Wieviel verdienst du, Onkel Eberhardt?

Herr Mundt: Mein lieber Herr Gesangsverein! Hör dir das an!

Erster Jugendlicher: Hey! In zwei Jahren steck ich dich in die Tasche! Meine Branche boomt!

Herr Mundt: Aber nicht du, wenn du das Zeug weiter rauchst!

Erster Jugendlicher: Wegsein ist das Leben!

Herr Mundt: Arbeit ist das Leben, das wirst du bald schon merken!

Erster Jugendlicher: Distanz, verstehst du – da geht alles leicht! Da seh ich, wie ich gehe – während ich doch in dem Augenblick eigentlich nur gehe! Multitasking, Onkel Eberhardt!

Herr Mundt: Multitasking? Haha, vielleicht kann ich von Euch noch was lernen, wie?!

Zweiter Jugendlicher: Neenee, dazu muß man jung sein.

Herr Mundt: Na hör dir das an!

Erzähler: Herr Mundt wendet sich überraschend an mich.       

Herr Mundt: Hören Sie das? Diese Jungs!? Das ist die neue Zeit!

Der Erzähler auf dem sanzeberg:                   Bitte? – Achja. – Sie scheinen ganz gut klarzukommen  ..

Herr Mundt: Wir kennen uns irgendwoher?

Der Erzähler auf dem sanzeberg: Ich kenn Sie noch als Ingenieur in Trachau.

Herr Mundt: Trachau? – Ach, der Ingenieur – den kenn ich gar nicht me …

Erster Jugendlicher: ruft Hehehehe! Guckt mal!

Erzähler: Jenseits der Leipziger Straße, zwischen von Panzern zerfahrenen Wegen, im abgesperrten Gelände, Wolf.

Herr Mundt: Ist der verrückt .. ?!

Erster Jugendlicher: Noch acht Minuten bis die Landschaft hier zum Himmel steigt!

Erzähler: Ich wende mich an die Jungs ..

Der Erzähler auf dem sanzeberg: Das Fernglas!

Herr Mundt: Lieber Gott! Man muß was machen!

Der herr im Mantel (schreit von der anderen Seite): Sieht den denn keiner!

Seine begleiterin: Wie schrecklich! Mein Gott!

Zweiter Jugendlicher: Die Bullen! Wo sind die Bullen?

Erster jugendlicher: Da drüben!

Zweiter jugendlicher: Die sehn den nicht!

Der Erzähler auf dem sanzeberg: Hier! Hier! Seht Ihr denn nicht!

Erzähler: Ich springe und rudere mit beiden Armen. Vergeblich. Die Polizeiposten, vor den Gärten an der Leipziger Straße, lehnen, soweit man das erkennen kann, unverändert an ihrem Wagen.

Und da sehe ich mich laufen. Rudernd mit beiden Armen den Sanzeberg hinunter, von Regengüssen ausgewaschene Rinnsale überspringend, stolpernd im Sand, verfolgt von Grasbüscheln, die ich lostrete mit meinen Landungen.

Ich laufe nicht wirklich.

In meiner Geschichte aber – weil das Eingebundensein in den Augenblick, weil der Wunsch nach Aufhebung der Überlegenheit über Wolf: Weil beides mich laufen sehen will – soll es so ein: Ich laufe, im Finale dieser wahren Begebenheit, den Sanzeberg hinab:

        Der den sanzeberg      hinunterlaufende         Erzähler:         Herr Wolf! Herr Wolf!                             

der Erzähler: Ich laufe, überspringe – während Wolf im Dunst dieses Sommertages für Augenblicke verschwindet – den Graben vor der Leipziger Straße; haste über den löchrigen Asphalt, laufe, an den letzten Gärten vorbei, hinaus auf das Übungsgelände, tauche – und erinnere mich an meine Dienstzeit – ab in die Panzerspuren, vor Augen dabei das abschätzige Lächeln eines Gefreiten, als die Rede wieder einmal auf Hauptmann Wolf kam.

        Stimme des gefreiten [off]:                   

        Der Wolf? Ein Wiedergänger! Und auf dem Friedhof geboren!   – Wieviel, Freunde? Zwanzig? Weg!

        Stimme Soldat [off]: Null ouvert! – Nur daß du dienst auf seinem Friedhof, Herr EK!

        Stimme  des gefreiten [off]: Noch drei Monate, mein         Freund! Noch drei Monate! – Was haben wir denn da? Die grüne Neun? Da gehen wir doch drunter, was Sprilli? – Und du, Dichter, was sagst du? Was sagt sein Spezi? Sein Verteidiger?! Du verstehst ihn! Siehst in ihn hinein, wie?

stimme Erzähler [off]:         Ich seh hinein, und er sieht heraus. Nur wird es uns nichts nützen.

Stimme Soldat [off]:            Was?! Was wird euch nichts nützen? Versteh ich nicht!

Stimme des gefreiten [off]: Laß mal gut sein, Sprilli.

Erzähler: Ich bin hinabgesprungen in eine weitere Panzerfahrrinne, und wenn ich herauskrieche, sehe ich ihn. Wolf geht durchs KdP. Ich stehe, schau mich um.  Drüben, bei den Polizeiposten, Bewegung.  Vorn Wolf. Hinter ihm die zerbrochene Schranke des Kontrollpunktes, Glasplitter, einsamer Fahnenmast.  

Langsam gehe ich weiter. Erreiche den Kontrollpunkt.  Wolf, den Rucksack in Händen, steht, mit dem Rücken zu mir, auf der Regimentsstraße.

Ich – in seinem Rücken – bewegungslos:

        Wolf und Der erzähler auf dem Kasernen­-

        gelände:

                          Wer nicht arbeit’

                          Soll nicht essen.

                          Wo

                          Hin?

                          Hierher ja.

                          Hinter alte Zäune

                          Wo die Zeit

                          Sich sammelte.

                          Hierher, ja

                          Wo Zeit

                          Sich weiter

                          Sammelt.

                          Stillsteht.

                          Heimat, ja.

                          Ihr Areal

                          – aufgebrochen

                          ausgeweidet:

                          Alte Hallen! –

                          Riesig.

                          Ort, der reglos

                          Alles löst

                          Und steht.

        Pause.

        Der erzähler auf dem Kasernen­gelände, Allein:

        Die Panzerwartungshalle.

        Pause.

        Der erzähler auf dem Kasernen­gelände, Allein:

                          Wir treten ein.

                          Ein Dach

                          Gestützt durch letzte Träger

                          Letzte Winkel

                          Gibt den Blick frei

                          Auf die Sonne.

                          Wir

                          In ihrem Licht

                          Unten

                          Treten an die Wand.

                          Die Zeit für uns

                          Steht nicht:

                          Vergeht!

                          Und auf dem Boden

                          Gras.

                          Wir

                          Müssen sehen:

                          Was man auf es warf:

                          Beton

                          Sprengt es hinweg

                          Und lebt.

                          So

                          Treten vor wir.

                          Stehen jetzt

                          Im Raum.

                          Bemalt

                          Um uns

                          Die Wände

                          Sprechen:

        Stimmen von Jugendlichen.

        Stimme:                          Du auch bist ein Faschist!

        Stimme:                          Bist eine rote Sau!

        Stimme:                          Tötet Nazis, wo ihr sie trefft!

        Stimme:                          Tötet alle Zecken!

        Stimme:                          Mit dem Abschied kommt Erinnerung.

        Stimme:                          Und nicht gelernt das Leben.

        Stimme:                          So lebet wohl.

        Stimme:                          Ficken wäre geil!

        Stimme:                          I did my time!

        Stimme:                          Ich tat es nicht.

        Stimme:                          Wer ist denn ich?

        Stimme:                          Ich bin ich.

        Stimme:                          Ich nicht.

        Stimme:                          Na und! Auf dieser Welt ist Platz für                                                                jede andre Welt.

        Stimme:                          Ist Platz für jedes Universum!

        Stimme:                          Haus steht neben Hütte, Villa über                                                                      Regenwurm. 

        Stimme:                          Was kümmert das den Regenwurm?

        Stimme:                          Was kümmert es den Regenwurm, daß                                               Estrich in der Welt ist, ha!

        Stimme:                          Mann, seid ihr blöd!

        Stimme:                          Hauptsache glücklich!

        Stimme:                          Genau! Ich bin als Stino glücklich!

        Stimme:                          Fuck you.

        Stimme:                          Krüppel!

        Stimme:                          Und Rainer liebt Susanne.

        Stimme:                          Der schwule Rainer?!

        Stimme:                          Wer denn ist Susanne?

        Stimme:                          Susanne gibt es nicht.

        Stimme:                          Doch. Ich bin’s! Susanne! Hier, das bin                                                                  ich!

        Stimme:                          Hier das bin ich! Ich nur will die

        Stimme:                          Fotze Fotze Fotze!

        Stimme:                          Du hast sie immer nur gemalt.

        Stimme:                          An eine Wand!

        Stimme:                          Ha, an Kasernenwände!

        Stimme:                          Es gibt mehr Dinge zwischen Bild und

                                                  Bild, als Eure Schulweisheit sich                                                                        träumen läßt!

        Stimme:                          This way I did my time.

        Stimme:                          So fick dich.

        Stimme:                          Fickt euch alle!

        Stimme:                          This way only, I did my time, it’s true.

        Stimme:                          Ich auch.

        Stimme:                          Ihr seid mir Helden!

        Stimme:                          Friede unsrer Asche!

        Stimme:                          Sowieso auf dieser Welt ist Platz nur für                                         die Asche!

        Stimme:                          Wie lange noch!

        Stimme:                          Solange Kapital regiert.

        Stimme:                          Und keiner liebt mich!                                                    

        Stimme:                          Doch, ich liebe dich: Jeannette aus                                                          Ermlitz-Wachau!

        Stimme:                          Wo, Jeanette, liegt denn Ermlitz-                                                                 Wachau!

        Stimme:                          Ermlitz-Wachau, das ist hier!

        Stimme:                          Wo ist den hier?

        Stimme:                          Hier!

        Stimme:                          Hier bin ich nicht ich.

        Stimme:                          I still did my time.

        Stimme:                          Ich tat es eben nicht!

        Stimme:                          Wer ist denn ich?

        Stimme:                          Ich. 

        Stimme:                          Ich nicht.

        Stimme:                          Trotzdem: Mit dem Abschied kommt                                                                  Erinnerung.

        Stimme:                          Erinnerung.

        Stimme:                          This way I did my time.

        Stille. 

        Martinshorn in der Ferne. Kommt näher. dann sehr nah.         – Stille

Finis