1
Düsseldorf. Baustelle. Letztes Stockwerk eines Rohbaus. Beton und Eisen. Rohre. Krokisch und Huberts sitzen am Rand und lassen die Beine baumeln.
Huberts: Feierabend, endgültig.
Krokisch: Siehst du den Spasti dort. Da denk ich, der hats gut. Der hat eine, die sich um ihn kümmert, sonst könnt er ja nicht leben. Muß sich nicht sorgen. Kann in den Tag reinleben. Oder wenn ich die kleinen Jungs seh, auf dem Zeltplatz, wo ich haus. Da kann ich melancholisch werden. Wenn die erst ins Leben kommen, was das bereithält. –
Huberts: Für zehn Mark die Stunde, nee. Zehn Stunden schuften und mehr, nee. Feierabend. Endgültig.
Krokisch: Ist der letzte Tag hier, da hat man solche Gedanken. – Ich mach weiter. Habs mir ja selbst gewählt, was soll ich mich beklagen. Und solange Sonne ist, kann ich auf dem Zeltplatz wohnen, kann ich die Auslöse sparen. Und wenn es besser wird zuhause, finde ich dort einen Job. Spar ich dann weiter. Mach ich einen eigenen Betrieb auf, wenn genug Kapital da ist. Installationsbetrieb Udo Krokisch. Hab ich es geschafft.- So hab ich gedacht bis jetzt. –
Huberts: Und nun?
Krokisch: War ich beim Arzt. Der Schmerz in den Unterarmen, wenn ich ein Rohr anheb. Später reicht eine Schelle. Dann das Wochenende, am Montag geht es wieder. Am Dienstag schon nicht mehr. Sehnenscheidenverkürzung. Nicht Entzündung, Verkürzung. Ein Geburtsfehler. Die Sehne in meinen Unterarm weiß, weiß es von Anfang an: Ich darf nicht Installateur werden. Und nun bin ich einer.
Pause.
Huberts: Ich meld mich in die Nordsee, wenn ich wieder zuhause bin. Bohrinsel. Inserieren sie laufend. Alles Männer, echte Kerle. Vierzehn Stunden Arbeit, schlafen, und wieder Arbeit. Da herrscht Zucht. Weiber, wenn du Landgang hast. Kein Streß mit den Gefühlen. Genug Kohle ist dann da.
Krokisch: Nee.
Huberts: Was nee?
Krokisch: Puff, das isses nich.
Huberts: Ich hab den Rockzipfel losgelassen, da war ich acht. Da bin ich nur ab und zu noch nach Hause, um mir was zu essen zu holen. Da waren noch drei Plagen außer mir. Die Alte war total überfordert. Dann die Nicole, zwei Jahre war ich mit der zusammen. Dann hatte sie diesen Polen. Der hat schwarz gearbeitet bei uns, als sie das Messezentrum gebaut haben in Schkeuditz.
Krokisch: Wenn niemand auf mich warten würde, wenn ich nach Hause käm, das würd ich nicht aushalten.
Huberts: Nee, ich brauch keine Alte mehr.
Krokisch: Ohne Sandra – da könnt ich nich. Ich könnt bei keiner Nutte. Ich brauch ein Zuhause.
Huberts: Wenn ich dich reden hör, könnte ich melancholisch werden, Krokisch.
2
Leipzig-Grünau. Wohnzimmer von Krokischs. Sandra und Stefanie.
Sandra: Und da sind wir gegangen, der Frieder und ich, Arm in Arm, und haben mit den Hüften geschaukelt, ich nach links, wo hinter den Scheiben die Geschäftemacher ihren Scotch getrunken haben, und er nach rechts, wo die Boutiquen waren, Schaufensterpuppen mit Florentischen Hüten, angestrahlt vom Kunstlicht, und so Gras angedeutet und Fels, das wirkte warm wie im Sommer, und in den Passagen immerhin noch einige Leute, ein Uhr, da lieg ich im Bett, wenn Udo nicht im Westen ist auf den Baustellen, und da ist uns einer entgegengekommen, groß und schlank, schmales Gesicht und Brille, und da haben wir uns umgedreht, der Frieder und ich, die Hälse gebogen, Schwänin und Schwänin, und da sahen wir den Rücken von dem Großen, der hatte ein Kreuz, kann ich dir sagen, der Arsch schmal, und da hab ich gesagt, den will ich, und dann kam ein anderer, schwarz, bissel stämmig, bei dem hab ich nur dem Frieder zuliebe den Hals gebogen, und hab den Frieder sagen hören, den will ich, und da haben wir gelacht und einen Hopser gemacht, weil es echt geil war, und so ist es gegangen durch ganz Leipzig, und von jedem Mann, der uns entgegengekommen ist, hat einer sagen müssen, ob er ihn nimmt, oder der andere, der Frieder einmal und einmal ich.
Stefanie: Alle müßte man sie kriegen, die man sich ausguckt.
Sandra: Im Sommer, nicht so heiß, wenn sie lange Hosen anhaben, ich käm nicht durch die Hainstraße, wenn ich reden könnt‘, wie ich reden wollte, oder die Männer würden aussprechen, was sie denken, wenn sie den Kopf umdrehn nach mir.
Stefanie: Wie Mulle wie. (Pause) – Das möcht ich lesen können, was abläuft in dem seinen Kopf, wenn er dich durch die Bank gehen sieht auf den Hochhackigen, die du dir gekauft hast kürzlich bei Ladygörtz, oder am Schalter dich bücken, wenn du für Herrn Clemenceau die Depotauszüge raussuchst aus dem untersten Fach.
Sandra: Ach, der.
Es klingelt.
Stefanie: Wer ist das?
Sandra: Udo.
Stefanie: Und der klingelt?
Sandra: Immer. (Pause) – Vielleicht beugt er vor. Vielleicht will er einem, den ich hier hätt‘, die Chance geben abzuhauen durchs Fenster. Vielleicht könnt er das nicht ertragen, und es wär ihm lieber, wenn es so wär, daß ich einen hier hätt, er wüßte von nichts. Wenn der eine Ahnung hätte, wie ich ihm treu bin und den Mullhaupt abblitzen lass.
Stefanie: Machst du nicht auf?
Sandra: Er kommt alleine rein.
Krokisch kommt mit Reisetasche.
Sandra: Na?
Pause.
Krokisch: Von letzten Sonntag bis jetzt – das ist Sonntagnachmittag und -nacht, das ist Montag, Dienstag, Mittwoch, Tag und Nacht, und Donnerstag; und Freitag bis gegen Zehn – exakt (er schaut auf die Uhr) 22.24 Uhr, das sind Einhundertsechsundzwanzig Stunden und sechsunddreißig Minuten, wenn ich bedenk, daß ich genau zwölf nach vier letzten Sonntag ins Auto gestiegen bin. Da war ich allein, ein Gefühl, als wär nicht nur das Wochenende, sondern alles vorbei, das Leben, das ich gekannt hab. Und schlaflos lieg ich auf meinem Zeltplatz in Wackerau, der menschenleer ist, gerädert steh ich am nächsten Morgen zwischen den Rohren auf dem Rohbau in Düsseldorf, und so die ganze Woche, verlassener Zeltplatz und hämmernder Rohbau, und am Freitag, die Knochen zerschlagen, hinterm Steuer wieder, und von Vorwegweiser zu Vorwegweiser, von Abfahrt zu Abfahrt, Dortmund, Hannover, Magdeburg. Halle, beginnt das Herz schneller zu schlagen, und endlich, endlich – der Wegweiser in die Heimat .. Und das soll die Begrüßung sein?
Sandra: Was ist mit deinem Arm? Warst du beim Arzt?
Krokisch: Krieg ich keinen Kuß?
Stefanie: Schönes Wochenende, ihr beiden.
Ab.
Sandra: Was guckst du so finster?
Krokisch: Ich hab mir das anders vorgestellt, wenn ich nach Hause komm. Nicht die hier .. dieses .. Flittchen.
Sandra: Ach, komm. (Sie küßt ihn.) – Was ist mit deinem Arm, Udo?
Krokisch: Wo ist der Kleine?
Sandra: Schläft schon.
3
Kasse vorm Stadion in Probstheida. Krokisch, Huberts. Sandra. Nationale.
Krokisch: Huberts ist Hool, Sandra. Einer von denen, die eine Eskorte kriegen, wenn sie einrücken auf dem Bahnhof in Chemnitz oder Plauen. Er war schon im Fernsehen .. –
Huberts: Eh, in Nordhausen. Die Schlacht dauerte drei Stunden, der Kameramann ging vor mit uns von Hauseingang zu Hauseingang.
Sandra: Ein Sport, wie. Life-Übertragung inclusive.
Krokisch (lacht): Die Verlängerung. Kommt vor im Fußball.
Huberts: Keine Verlängerung. Wenn du auf der Tribüne stehst .. du kannst brüllen wie du willst, du stehst immer neben dir .. du siehst dich, wie du den Arm vorwirfst Hinein hinein!, und dann hörst du dich schreien .. Da hast du das Gefühl, der muß weg, der da in dir noch hockt und dich sieht .. Dich wirklich vergessen, Sandra, kannst du erst, wenn deine Faust landet in der Visage von einem .. wenn du ihn fühlst, wie er schwitzt und stinkt, weil er rotiert und sich nicht mehr kennt, so wie du, wenn du nach Luft schnappst, solange sie dich im Griff haben, ehe ..
Sandra: Mann kann ja Angst kriegen vor dir, Huberts.
Krokisch: Keine Panik, Sandra, nirgendwo Hools heute. Huberts geht mit uns.
Nationale (mit Handzetteln und Listen): Todesstrafe für Sittlichkeitsverbrecher und Kinderschänder!
1. Stadionbesucher: Die versuchens mit allen Mitteln.
2. Stadionbesucher: Wo sie recht haben, haben sie recht.
Nationaler (vor Krokisch): Das Volksbegehren für die Todesstrafe gegen Sittlichkeitsverbrecher und Kinderschänder! Eintragen, Kumpel!
Krokisch: Nee.
Nationaler: Hier, Bilder von den kleinen Mädchen! Unschuldige Opfer!
Krokisch: Hörst du den Lärm? Es kann alles vorkommen in einem.
Nationaler: Und wenn es deine Frau erwischt?
Krokisch: Das wäre mein Ende. Aber – der Trieb ist nun einmal in der Welt.
Hinzukommender Nationaler: He, wie meinst du das!
Krokisch: Wie ich das meine? – Ich hab in der Giesag gearbeitet früher, war Betriebselektriker. Wenn ich nach Hause kam, hab ich gelesen. Geschichte. Altes Rom und so. Die berühmten Zustände. Das ging bis zwei Jahre nach der Wende, da stand ich auf der Straße. Das Arbeitsamt zahlte, ich hätte lesen können von Brot und Spielen und von der Knabenliebe und mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Der Muße pflegen, verstehst du. Eine Zeitlang wenigstens. Hab ich aber nicht. Ich mußte arbeiten. Der Trieb, verstehst du. Und jetzt ist mein Arm kaputt, und ich hab keine Ruhe, bis ich was Neues hab. Weil ich ein Heim brauch und eine Sicherheit. Dein Verbrecher hat auch so eine Unruhe, nur andersrum.
Nationaler: So was ist mir noch nicht vorgekommen.
Krokisch: Ja, am Ende ist alles eins.
Die beiden Nationalen: He, hier ist einer, der schändet kleine Mädchen!
Die Leute werden aufmerksam. Nationale rücken näher.
Sandra: Seid ihr verrückt!
Krokisch: Gib her, ich unterschreib.
Huberts: Ich war mal in Hamburg auf Montage. Da hab ich in Wilhelmsburg gewohnt. In der Straßenbahn, im Bus: Nur kanakisch. Und wenn du in einen Hauseingang rein bist, ist es herumgehuscht um dich wie Ratten. Das Licht hat nicht gebrannt, und du hast nichts ausmachen können, denn die Fratzen um dich waren schwarz wie die Nacht. Die gehören weggebracht und gegen die Perversen hab ich auch was. Gib her.
Nationaler: Danke, Kamerad.
Sie stehen weiter an der Kasse. Getöse im Stadion.
Krokisch: So ein Lärm, das ist unheimlich.
Sandra: Das ist die Wut, wenn man feig ist. Die würden nicht brüllen, wenn es nicht brüllen würde in ihnen.
Huberts: Das ist alles noch gefesselt und geknebelt.
Krokisch: Daß kann nicht raus, was in uns ist. Das versteht keiner.
4
Karl mit Stellenanzeigen.
Karl: Das ist Karl. Das ist Doktor Reinisch. Und das ist die Tür. Dr. Reinisch sagt: Tja, mein Lieber, ihr Arm .. das ist vorbei. Und nun die Tür. Der Himmel draußen zart, und mit diesem Schleier schon .. und die Stille .. und die Straßenbahnen fahren, wie sie in Karls Kindheit gefahren sind … Aber jetzt ist Herbst. Aber die Kindheit .. bleibt. Bleibt, wenn Karl die Johannisstraße hinuntergeht. Bleibt, Sonne und Spinnweben zwischen den Rhododendronblättern, auf dem Käthe-Kollwitzplatz, bleibt auf der Simmelstraße. Hier, vor dem Aldi, mit ihren Bierbüchsen im Staub vor dem Schaufenster, die Penner. Und Hausfrauen, die aus dem Auto steigen, auf Stöckelschuhen, wahre Schaufensterpuppen. Und Karl steht und guckt. Warum die hier einkaufen. – Lange Pause. – Sag, Karl, was hat dich das aushalten lassen, all die Jahre Wochenende für Wochenende auf der Autobahn, für zehn Mark die Stunde im aufstrebenden Beton unter dem blassen Himmel von Westfalen, Bayern, Würtemberg? – Ich sag es dir: Dein Glaube. Das Schild, das du gesehen hast in irgendeinem Hinterhof: Installationsbetrieb Karl Krokisch. – Pause. – Was zeichnet die Zeit jetzt aus? – Flexibilität? – Der schnelle Wechsel des Glaubens! – Pause. – Ein neuer Glaube muß her. Mein neuer Glaube heißt (er kichert): Außendienst. – Stampft auf. – Ja, ich will, ich will, ich will .. glauben .. Glauben an die Stellenanzeigen .. an ihn, den Hausverkäufer, an ihn, den Fachberater, an ihn, den Mann im Promotion-Team, an ihn, den Agenturmitarbeiter, und will glauben an die Familie, schattige Sonntage im Grünen, und so auch an ihn, meinen Jungen, der .. (klettert auf den Tisch) .. höher hinausgelangt einmal als ich, zuerst aber an einen, der sich noch nicht kennt, Hausverkäufer, Fachberater, Promoter .. (faltet die Hände, wringt sie) .. ja, an ihn, an ihn, den Namenlosen, aller Jobs Übervater, sitzend zur Rechten von Sandra, seinem Weib, von dannen er kommen wird, morgens, nach dem Beischlaf, von dem er nicht weiß, ob es der letzte …
Sandra steht unter der Tür.
Karl: Was siehst du mich so an?
Sandra – schweigt.
Karl: Ich kniee auf dem Tisch, na und.
Sandra: Du glaubst, daß ich dir untreu sein werde?
Karl: Ja.
5
Straße bei der Bank. Mullhaupt. Sandra kommt und will in die Bank.
Mullhaupt: Daß ich zuerst Sie sehe, Frau Krokisch – ein gutes Omen!
Sandra: Wieder da – wie war der Urlaub?
Mullhaupt: Sehr schön. Die Gegend von Pau ist einsam. Ein wenig zu einsam. Ich hätte einen lieben Menschen gebraucht. Sie wissen, meine Frau hat gerade ihr Geschäft aufgemacht in Hildesheim. Da ist sie jetzt, am Anfang, unabkömmlich. So bin ich alleine dort über die Hügel gewandert, von aménagement zu aménagement. Das Vorpyrenäenland, das ländliche Frankreich überhaupt, hat etwas von der Gegend hier. Nicht nur die Sorglosigkeit, nicht nur der Eindruck von Verfall. Nein, das etwas Ursprünglichere, die gewisse Bodenständigkeit. Wenn Sie so einen Hügel sehen, über den die Hühner laufen, die Bergziegen steigen, wissen Sie, daß in dem Anwesen oben die Welt noch in Ordnung ist. Da hat der paysan seine paysanne und die paysanne ihren paysan. Und da hab ich mich gesehen, Frau Krokisch, mit den Augen der Einheimischen, mich, Jürgen Mullhaupt, der ich in Hildesheim gemeldet bin, in Leipzig wohne, in Laguilharre im Département Pyrénées-Atlantiques relaxe, mich, den Bankfachmann, der ich Rom kenne, New York, Stockholm, und hab mich nicht mehr gekannt. Da war ich der moderne Mensch. Aber du suchst doch etwas anderes, habe ich mir gesagt, etwas, das deinem Hügel gleicht in Laguilharre. Sie verstehen, was ich meine, Sandra, wenn ich sage, ich habe meinen Hügel hier wiedergefunden. Sie sind … nein, keine paysanne, Sie sind die interessanteste Frau, die ich gesehen habe seit langem … Lassen Sie mich ihr Land besser kennenlernen, Sandra, lassen Sie mich sein Bewohner werden. In Hildesheim bin ich .. ja auch nicht zu Hause.
Sandra: Ich, Herr Mullhaupt, weiß nicht, ob ich irgendwo zuhause bin. Mein Vater kommt aus Oberschlesien, aus der Kohle, hier war er Rangierer auf dem Hauptbahnhof. Da habe ich ihm sonntags das Essen gebracht. Wenn er einen Wagen abkoppelte, schaute er auf zum Himmel, weil er der gleiche war wie über Krumlau, und Krumlau liegt bei Opole, und Opole liegt in Polen. Das war seine Heimat, sehr weit oben inzwischen, und deshalb hatte er die Flasche. Vielleicht, weil es so traurig war bei uns, Herr Mullhaupt, der Vater ein Säufer, die Mutter bei anderen Männern, und überhaupt, die Unfreiheit, wurde ich ein lustiges Kind. In weißer Bluse, Herr Mullhaupt, und mit Pionierhalstuch. Ein Kind, dem man beigebracht hatte, zuzuhören. Zu hören auch, was einer meint, wenn er sagt, daß er ein Land besser kenenlernen will. Den Säufer, meinen Vater, verstand ich gut. Keine Heimat – bei der Frau. Und da habe ich ihm sein Elixier gebracht ab und zu, das ihm zum Sakrament wurde dann. Ich war so – gut zu den Männern. Für einen, der heimatlos war in der Welt von Anfang an, Schauspieler, herabhängender Schnauzbart, traurig wie ein Hund, war ich fünf Jahre die Mama. Und Königin – auf den Feten hier im Theater. Kein Tisch, Herr Mullhaupt, auf dem ich nicht getanzt hab. Ja, und nun Sie .. Hier in dieser Sparkasse, an einem Schalter, den es nicht mehr gibt, eröffnete eines Tages einer ein Konto. Klempner war der, und verlangte Tag für Tag seine Auszüge – und immer von mir. Der macht seine Arbeit, dachte ich, und trinkt nicht. – (Pause) Wir waren in Mecklenburg letztes Jahr. Schöne Landschaft, noch immer. Aber daß mir das Herz aufginge in so einem Urlaub … (Pause.) Karl hintergehen, Herr Mullhaupt – das ist mir unmöglich.
Mullhaupt: Sie müssen ihn nicht hintergehen, Sandra. Ich lade Sie ein nach Laguilharre. Sie beide.
Pause.
Sandra: Ich komme Ihnen wohl vor wie aus den Pyrenäen, wie.
6
Karl. Stefanie.
Karl: Drei Sachen, Stefanie. Multireinigungsgeräte, dann den Brockhaus, dann Tiefkühlware. Dreimal zu wenig Umsatz. Ich hatte einfach kein Glück. Als ich nach dem letzten Mal heim bin über die Felder bei Lindenthal, wo das Kühlhaus ist, hat mir das Herz gehämmert: Daß ich den Jungen hab. Und es hat weiter gehämmert von Anzeige zu Anzeige, die ich studiert hab. Hier drin, immer .. (schlägt sich vor die Brust.) … hier drin. Ein Sonnenstudio, das war das letzte, was ich probiert hab, mit Massage … (Plötzlich auf Knieen.) Wo ich jetzt bin, geht es um Geld, Stefanie . Zweihundert DM im Monat jetzt, die zahlt dein Mann, das macht er doch, oder? Am Ende, wenn du sechzig bist, hast du Zweihunderttausend, und ich, ich .. hilf mir, Stefanie … – ich muß, irgendwie .. irgendwie muß ich auf die Beine .. der Junge .. (Pause – kichert) Masseur, das hätte mir gefallen.
Stefanie: Ich hätte dich besucht, Karl, hättest du nur was Separates gehabt für deine Massage.
Karl: Keine Scherze, Stefanie, bitte.
Stefanie: Du bist zu ernst, Karl. Zweihunderttausend, sagst du?
Karl: Wenn du sechzig geworden bist, Stefanie .
Stefanie: Pah!
Karl: Aber Achtzigtausend schon mit achtunddreißig, Stefanie!
Stefanie: Mit achtunddreißig achtzigtausend DM, Karl, glatt auf die Hand …? Ein halbes Jahr Paris wäre das ja, wie ich es mir immer gewünscht hab .. – Unabhängig, Stefanie Kerpner unabhängig .. mit Topfhut und im Smokingkostüm .. und Paris, ach Paris … (Pause) – Diese Rentenversicherungsheinis sind alle Schwindler! Du zahlst und zahlst – weiß ich, was morgen sein wird? – Nee, Karl, – Multireinigungsgeräte, Brockhaus, Tiefkühlware, Versicherungen – alles dasselbe! Beim nächsten Mal – viermal zu wenig Umsatz! Du kannst es nicht. Das sag ich dir – als Freundin. (Pause) – Stefanie ist in der Bank?
Karl: Ja.
Stefanie: Dein Massagesalon, Karl, der könnte meine Phantasie anregen ..
Karl: Stefanie
7
Sandra. Karl mit Zeitung.
Sandra: Ja, ich habe eingewilligt, daß wir nicht in Urlaub fahren. Ja, ich begreifs, daß du dich genierst, wo ich nu das Geld nach Hause bring. Gut, ich versteh’s, daß du mit niemand reden kannst im Urlaub und sagen wer du bist. Bist arbeitslos eben und kein Klempner ..
Karl: Installateur.
Sandra: .. kein Installateur mehr. Aber du mußt auch mal auf mich gucken. Ich hab auch meinen Tag. Zehn Stunden in der Bank, das heißt zehn Stunden Kunstlicht. Das heißt zehn Stunden über den Teppich wackeln wie Dolly. Das schlägt aufs Gemüt. Das ist wie eine Schraubzwinge. Hier um den Kopf. Und vorm Computer immer. Und raus wieder und an den Schalter und ..
Karl: … und die Sonne geht auf. Der ganze Kundenbereich – soweit er männlich ist – vergißt seine Geschäfte. Das tut gut, nicht?
Sandra: Ach .. (Pause) Sagen will ich – ich hab ein Angebot, Karl. Für uns beide. Daß wir noch in Urlaub können. Nach Frankreich, und fast umsonst. Mein Chef, Karl, der .. –
Karl: Hör dir das an (liest vor aus der Zeitung): Sie sind ganz unten? Sie können sich nicht verstellen? Sie sind zu ehrlich, um den Leuten Dinge anzudrehen, die sie nicht brauchen? Dann sind Sie bei uns richtig. Lokale Flexibilität geboten. Anrufe heute … – Das ist wie für mich geschrieben, Sandra.
Sandra: Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt habe?
Karl: Ja, dein Chef ..
Sandra: Ich will in Urlaub, Karl, und nicht hiersitzen in meinen freien Tagen, nur weil du wieder mal was Neues anfängst!
Karl: Und ich, Sandra, will wissen, wer ich bin. Wie sonst soll ich bestehen neben deinem Chef?
Sandra: Karl ..!
Karl: Weißt du, wer du bist? – Es kann alles vorkommen in einem.
Sandra: Ja.
8
Straße vor einem italienischen Speiserestaurant. Gebietsleiter. Karl.
Gebietsleiter: Was ist ein Maurer, Herr Krokisch? Ein Maurer ist ein Mensch, der Häuser baut, abends sein Bier trinkt und am Wochenende einen Ausflug macht mit seiner Familie ins Grüne. – Wovon lebt er? – Richtig, von seiner Hände Arbeit. – Und was ist der Kleinunternehmer, der Sie werden wollten, Herr Krokisch? – Richtig, ein Kleinunternehmer ist ein Mensch, der Waschbecken anbringt, Heizungen installiert, seine Bücher führt und manchmal eine Idee haben muß, wie er neue Kunden gewinnt. Mit einem Bier abends ist es selten was, und der Ausflug ins Grüne, naja .. – Wovon lebt er? – Natürlich, von seiner Hände Arbeit ..und .. klopft sich gegen die Stirn .. ein bißchen auch von hier .. – Aber was ist ein Manager bei Mercedes, Herr Krokisch? Ein Mensch, der Autos baut? – Er fährt nicht mal eins, das macht sein Chauffeur. Sein Bier trinkt er bei einem Geschäftsessen, und im Grünen ist er auf dem Golfplatz mit dem General Manager von Chrysler, also im Dienst. – Wovon lebt er? – Richtig, von Ideen .. Geschäftsideen! – Unsere Idee, Herr Krokisch, halten Sie in Händen. Setzen Sie sie auf!
Karl setzt sich eine Sonnenbrille auf, der Gebietsleiter legt ihm ein Blindenarmband an.
Gebietsleiter (hält eine Kollektion Abzeichen hoch): Was ist das?
Karl: Abzeichen!
Gebietsleiter: Sie können nicht verkaufen, Herr Krokisch, wenn Sie nicht blind sind! – zeigt einen Ledergürtel hoch – Was ist das?
Karl (betastet den Ledergürtel): Ledergürtel!
Gebietsleiter: Sie werden nichts verkaufen, Herr Krokisch, wenn sie spielen, daß Sie blind sind! – Bitte, stellen Sie sich hierhin! – Der Gebietsleiter holt aus und versetzt Karl einen Faustschlag. Karl geht zu Boden und steht wieder auf. Bravo, Herr Krokisch, kein Wimpernzucken, kein Ducken, kein Flackern, nichts! Ja, Sie müssen blind sein! Glaubwürdig sein! Echt sein! Das ist unsere Chance, Herr Krokisch, das ist unsere Idee! Den Leuten wird zu viel vorgemacht! Die wollen das nicht, dieses halbherzige „als ob ..“ – Die wollen das wirkliche Leben, das echte, unverfälschte! Also, Herr Krokisch, die Idee! Vom aufrechten Gang über die Handarbeit, Kopfarbeit, zur Idee! Der Mensch tritt zurück, wir sind nicht mehr Diener einer Idee, wir sind die Idee! – Müssen wir an unsere Idee glauben? Wir müssen nicht an unsere Idee glauben! Wir sind der Glauben! Sie werden keinen Erfolg haben, Herr Krokisch, wenn Sie spielen, daß Sie blind sind. Erfolg haben werden Sie, wenn Sie blind sind! Vergessen Sie alles, vergessen Sie Frau und Familie, vergessen Sie, wie der Baum aussieht vor Ihrem Fenster! Vergessen Sie den Globus, die Regenwälder, die weißen Strände von Sidney, den Golfplatz in Florida, die Manager von Mercedes und Chrysler, die 24 Stunden im Dienst sind! Aber was sind 24 Stunden, was ist die Zeit, gegen die Idee? Die Idee, Herr Krokisch, ist ewig! Sie sind die Idee! Nimm hin und verkaufe, spricht der Herr. (reicht ihm Ledergürtel etc.) Dies ist der Schweiß, den ein Familienvater in Malaysia für dich vergossen hat! Dies ist das Leben, das der namenlose Christus in Indien an dich verloren hat! Nimm hin also und verkaufe! Ja, verkaufen Sie, Herr Krokisch, und .. keine Angst, Bekannte zu treffen bei diesem Training, morgen sind wir in Kassel! In Düsseldorf, Hamburg, Berlin übermorgen! Eines Tages, Herr Krokisch, werden Sie Gebietsleiter sein und werden verdienen und werden glauben an was Sie verdienen, wie ich, denn zuletzt ist das Geld auch eine Idee!
Karl: Ich will mich nicht mehr kennen!
Er betritt, behängt mit Verkaufsartikeln, die Gaststätte.
9
Beim Italiener. Sandra. Mullhaupt.
Sandra: Der Frieder hat mir erzählt, seine Schwester. Die hatte einen, verlobt, der war bei der Polizei. Undercover bei den Autonomen. Der hat sich getrennt von der Schwester vom Frieder, er selbst wär ein Autonomer nach den Jahren, er könne nichts mehr anfangen mit ihr. Und lebte mit einer Punk-Frau dann, die hatte aber auch andere. Nun aber: die Punk-Frau, bei irgendwelchen Randalen, tritt einem unten rein, einem Polizisten, der, genau getroffen, erholt sich nicht wieder. Und jetzt: Der Undercover, der Freund ehemals von der Schwester vom Frieder, gibt die Freundin an auf seiner Dienststelle! – Muß sie angeben und ist nicht mehr haltbar bei den Autonomen und wird versetzt nach Norddeutschland. Als Undercover wieder. Jetzt aber – hör gut zu – zu den Nazis. Zwei Jahre, Jürgen, ist er dort, und – unglaublich – ein Nazi inzwischen.
Mullhaupt: Das ist der Job, Sandra. Den kannst du ganz machen oder gar nicht. – Sandra: Ich mein, wer bin ich nun? Polizist? Nazi? Chaot? – Jürgen, ich hätt nicht zu dir kommen dürfen. Ich komm mir vor wie .. wie dieser Undercover.
Mullhaupt: Sandra, du .. – In der Tür Karl mit Sonnenbrille, Blindenarmband und Kettchen mit Tierkreiszeichen.
Karl: Krebs, Stier, Jungfrau, Widder .. (am Tisch) Fische! Sie sind ein Fisch, junge Frau! Die im Sternenkreis der Fische Geborene, sagt man, besitzt die Fähigkeit zur Treue. Große Liebesfähigkeit, sagt man, Hingabe- und Opferbereitschaft befähigen sie, Schweres mit dem Partner durchzutragen, Geborgenheit ..
Mullhaupt (zu Sandra): Man kann nicht hingucken! Wie der zittert!
Karl: Wie .. ? Das Zittern, ja .. Ja, das ist nun so .. Lassen Sie sich nicht aus dem Konzept bringen davon, sehr geehrter Herr, es ist .. die Frauen .. die Menschen .. sind mir ein Rätsel, und vor dem Rätsel .. schauert mir .. – Geborgenheit also, um fortzufahren, kann die Fischfrau geben, Gefühlssinnigkeit und Treue – wo du hingehst, da will auch ich hingehen, ja … Der Partner einer solchen Dame (verbeugt sich gegen Mullhaupt) darf sich glücklich schätzen. Wollen Sie also ..
Sandra: Okay. Sie haben mein Sternbild erraten. Okay. – Sie sehen mehr, als Ihre Brille und Ihr Armband denken lassen, wie! Ja, ich war meinem Mann treu. Aber nicht, weil ich es als meine Pflicht ansah, mir auferlegt von irgendeinem Sternbild. Sondern weil – er mein Mann war. Doch hat alles seine Grenzen. Sie sind blind, ich hatte einen, der zuviel sah. Und wenn man einen hat, der nicht auf die Treue seiner Frau vertraut, sondern sie mit Eifersucht verfolgt …
Karl (zu Mullhaupt): Wie, Sie verfolgen Ihre Frau mit Eifersucht!
Sandra: Das ist nicht mein Mann, Mensch! Das ist der, dem ich in die Arme getrieben worden bin von der Eifersucht meines Mannes!
Pause.
Karl: Darf ich Ihnen etwas erzählen, ganz kurz. Mein Großvater. Der saß in der Reichsbahnkasse auf dem Bahnhof in Böhlitz-Ehrenberg. Fassonschnitt, Seitenscheitel, Uniform, ein Vorkriegsdeutscher wie aus dem Film. War er aber nicht, sondern mein Großvater. Er saß in seiner Kasse hinter vergitterten Fenstern und draußen trieb der Wind den Staub über die Rampe. Mein Großvater spitzte seine Stifte, rechnete die Konten hoch und runter, schrieb seine Berichte auf Blaupapier, und wenn er fertig war, ging er über die Gleise nach Hause in einen Wohnkasten neben dem Bahnhof. Hohe Räume, aber dunkel. Da lebte meine Großmutter, ein Mensch, nicht ausrichtbar, wie er von den Zahlenkolonnen gewohnt war. So sah er weg, wenn sie mit Leidensmiene aus dem Fenster sah. Und war doch nur der Staub draußen. Und er zu schwach, ihr zu verbieten, hinauszugehen durch den Staub, in den Palmengarten am Königspark und ins Café Kreisler am Augustusplatz im letzten Mai im Frieden. – Blind, jawohl, wurde er vor dem Krieg noch, eine Familienkrankheit. Diabetis mellitus. Um ihn her die Leute schickten sich an, die Welt zu erobern, die aber bricht zusammen über ihnen, Leipzig eine Wüste, Skelette nur von Häusern, rauchgeschwärzt, in den Straßen Tote, die, die leben Schatten ihrer selbst. Am blinden Großvater geht das vorbei, was er zuletzt sah, war der Frieden. Vom Bild jedoch kann man nicht leben. Die Großmutter, seine Frau, für einen Sack Kartoffeln, kriecht in den Jeep eines Amerikaners. Und das ist nicht das letzte Bett, die letzte Matratze draußen, die sie aufsucht. In meinem Großvater aber leuchtet klar ihr Gesicht wie der Augustusplatz im letzten Mai im Frieden. Vom Fleisch gefallen, ihr Gesicht wie Leder, die Finger gelb vom Nikotin, bleibt sie für ihn, die sie war. Und er lernt Blindenschrift und sitzt hinter einem Fenster in der Blindenschule in seinem Frieden und schafft ihr wieder eine Existenz. So blieben sie zusammen. Ein Fossil, dieser blinde Großvater, werden Sie sagen, in Zeiten, wo alles auseinanderfällt, ja ..
Ab.
Mullhaupt: Was war das denn?
Sandra: Ich kenne den nicht.
Mullhaupt: Ziemlich abgehoben seine Rede.
„… die in den Szenen 10 und 11 vorbereitete historische Sicht …“
à nicht hat gefunden,
à stattdessen Zwischenbilanz: Krokisch passt sich an die neuen Anforderungen an, in dem er ihnen genügt als der, der er war: ein Arbeiter, der treu und redlich seine Arbeit tut. Das trifft nun auf die Forderung, das, was er tut, ganz zu tun, als der, der er in diesem Tun ist. Und der ganz zu sein.
Sandra erfüllt eine andere Anforderung der neuen Arbeitswelt: Das zu liefern, was der Markt fordert. Im Unterschied zu Krokisch, spielt sie, was sie tut. Spiel heißt, sie ist sich bewusst, dass sie auch was anderes spielen könnte. Wenn anderes verlangt wäre. Zu spielen, oder zu sein, was nicht verlangt ist, fällt ihr nicht ein? Dann sollte es im Hintergrund erahnbar werden?
12 – Karl Einnahmen als ‚blinder‘ Verkäufer sind nicht hoch; er hält am Ziel, wieder eine (nicht: seine) Identität zu finden, fest; im Hintergrund aber auch Lust: Verschiedene Identitäten auszuprobieren (Blindenschrift lernen – sehender Blinder)
13 – Sandra bekommt Kündigung von Mullhaupt; Mullhaupt lobt ihre Stimme (war gut für die Bank!), rät ihr, es mit Telefondiensten zu versuchen (dies durchaus anzüglich)
14
Stehkneipe. Karl und Ronny (ebenfalls ein ‚Blinder‘) vorn. Hinten martialisch aussehende junge Männer. Dort ist auch der Ausgang. – Andere Gäste.
Ronny: Du bist sicher, daß es die sind, die gestern im Schweitzerhaus waren?
Karl: Ich erkenne sie wieder. Der mit der Tätowierung auf dem Arm. Sturmwehr. Und du ohne Brille. Ohne Armband. Dein Feierabend, ich weiß. Der bringt uns in die Bredouille, dieser Feierabend.
Karl möchte abhauen, getraut sich aber nicht, da er, wenn er zum Ausgang will, an ihnen vorbei muß. Sinniert, daß der, der Angst hat, von den Auslösern der Angst gerochen wird. Außerdem: Ein Krüppel lädt immer dazu ein, ihm übel mitzuspielen. Das liegt im Menschen. Zivilisation hat das übertüncht, aber die dort sind nicht zivilisiert. Ein vorgehaltenes Bein, etc., und die ganze, bisher aufrechterhalten Identität als Blinder könnte hin sein. Ronny schlägt vor, auf dem Klo abzuwarten. Karl lehnt das ab, weil er dort endgültig in der Falle säße. Lieber hier warten. Hier sind Menschen, die vielleicht helfen, wenn es ernst wird. Ronny glaubt nicht daran. Er selbst würde sich immer raushalten, wenn es einem anderen an den Kragen geht. Die Blicke der „Krieger“ herüber zu den beiden werden bedrohlicher.
Ronny: Ich verpiß mich, kommst du mit?
Karl: Nein.
Wenn Ronny weg ist, Anmarsch der „Krieger“. Die Rede des Wortführers geht darüber, daß „Atze“ gesagt hätte, es würde ihm nichts ausmachen, einen Blinden aufzuklatschen. Er, „Bombe“, hätte da Skrupel. Wär aber nicht gut, so’n Skrupel. Warum? Da gäbe es zwei Möglichkeiten. Von der ersten wolle er noch nicht reden. Die zweite hinge zusammen mit dem, der da drüben säße. Er solle mal rübergucken.
(Karl hat tatsächlich den Impuls hinzugucken, besinnt sich aber. )
Der Wortführer: Gutgut, er sei ja blind, er sähe ja nichts. So müsse er es ihm eben erzählen. Der dort drüben säße sei Redakteur im Offenbacher Tagblatt. Das wäre für ihn die Story, wenn er zusehen könne wie Skins sich über alle Schranken der Zivilisation hinwegsetzten und einen Blinden zu Matsch machten. Er freue sich schon, daß zu lesen. Die unterkühlte Entrüstung .. Es könne aber auch sein, daß sie, die Verfemten, recht hätten mit ihren Aktionen, wie schon so oft. Daß sie gar keine Bedürftigen gejagt hätten, sondern welche, die sich diesen Status erschlichen hätten. Daß es Blinde gäbe, die abends eine Blindenbrille trügen, und tagsüber nicht. Er könne sich jetzt entscheiden. Entweder er setze seine Brille ab und lasse sich in die Augen schauen, oder er bekomme eine Faust auf diese Brille. Könne sein, daß in der Faust dann ein paar Glassplitter steckten, aber in dem Auge auch … Vielleicht mache ihm dies aber nichts aus, da er ja sowieso blind … – Karl bekommt es mit der Angst und nimmt die Brille ab. Karl muß die Tätowierung auf dem Unterarm vorlesen. Laut und deutlich. Sturmwehr gegen Eindringlinge, Asylbetrüger, Schmarotzer am deutschen Volk, ergänzt der Wortführer. – In der Kneipe Stille. Der enttarnte Karl – Der Redakteur kommt herüber und fragt, für wen Karl arbeite. Da Karl schweigt, fordern ihn die „Krieger“ auf, auszupacken. Dem Redakteur gelingt es merkwürdig schnell, sie zu beruhigen. Karl will nicht hier reden. Der Redakteur fordert Karl auf, sein Hotel zu nennen. Karl tut es. Der Redakteur kündigt für den nächsten Tag seinen Besuch an.
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Tiefe Scham über den nicht bestandenen Test, das erzwungene Outing als Sehender – außerdem sind die Umsätze weiter zurückgegangen, Karl sinniert, daß man seine Unehrlichkeit und Verstellung spürt – er blendet sich deshalb selbst, um in seinem Job zu überzeugen
Der Redakteur tritt heraus: Lassen Sie mich zuerst etwas zu Herrn Krokisch sagen … – Rede über seine Arbeitsauffassung in der DDR und Nach-DDR, Übertragung auch auf Lassen Sie mich es ruhig einmal „Arbeit“ nennen … Als gelernter … (2 Kollegen untereinander: „Jetzt stellt er sich wieder als Historiker vor.“) … Als gelernter Historiker würde ich sagen … Vorstellung Krokisch als des alten Typs von Arbeiter, der Klarheit des Verhältnisses zu seinem Brotherrn brauchte, der nur in der Wahrhaftigkeit seine Identität haben konnte. Deshalb hat er die Enttarnung vom Vorabend nicht vertragen. Solch ein Typ konnte nur in der DDR überleben. An dieser Stelle Auftritt Krokisch: mit dickem Verband um die Augen, der von Blut durchnäßt ist .. – Die Philister aber waren die Herren im Lande Israel und nicht Gott, der Herr. Der Herr aber war der Herr Simsons, und Simson wußte es nicht. Und wußte nicht, was das für eine Kraft war, als er … (Beispiele seiner Taten, immer eingeleitet mit: Und wußte nicht, was das für eine Kraft war, als er …) – Und wußte nicht den Plan Gottes, seinen Herrn, als Delila ihn verriet an die Herren im Lande, die Philister, und ihm seine Kräfte nahm, die Kraft die … ( … mehrere Beispiele) – ... Und wußte nicht, daß er bestimmt war, in den Tod zu gehen mit allen Philistern im Tempel ihres Gottes Dagon. Und war so ein williges Werkzeug in der Hand der Philister, seiner Herren, die ihm eine Arbeit zuwiesen auf seinem Feld, das er bestellte, und zur Ruhe kam, und zu Geld und Ansehen. – Krokisch läßt sich vom Arzt zurückführen in sein Krankenzimmer. – Weiter wie gehabt.
verworfene Szene: 15
Krankenhausflur. Vor einer Tür drängen sich Journalisten und Reporter. Der Redakteur aus der vorigen Szene und ein Arzt.
Redakteur: Wenn ich Sie um mehr Ruhe bitten dürfte. Er ..
Verschiedene Reporter: Wieso haben gerade Sie ihn gefunden? Waren Sie an einer Story dran?
Redakteur: Bewahren Sie doch Ruhe bitte!
Arzt: Wenn Sie sich doch in die Halle bemühen würden. Der Kranke braucht wirklich Ruhe.
Redakteur: (zum Arzt) Es hat keinen Zweck.
Arzt (zum Redakteur): Beeilen Sie sich.
Redakteur (zu den versammelten Journalisten): Bevor ich auf die der Tat vorausgehenden Einzelheiten zu sprechen komme, lassen Sie mich etwas zu dem Mann sagen. Er heißt Karl Joachim Michael Krokisch, ist Drücker oder arbeitet im Außendienst, wie Sie wollen. Er war Installateur, bevor eine Krankheit, eine Allergie gegen Metall, ihn zwang den erlernten Beruf aufzugeben. Er ist verheiratet, hat einen Sohn. Er ist geboren am 27. März 1968 in Leipzig. Er ist 30 Jahre alt und jetzt bei vollem Bewußtsein; ich habe mit ihm gesprochen. Ein Leben lang ist er äußerst pflichtbewußt gewesen. Anfangs hat er bei einem privaten Klempnermeister gearbeitet. Unter den unorganisierten Verhältnissen eines großen metallverarbeitenden Betriebes, in dem er als Betriebshandwerker gearbeitet hat, hat er, wie er sagt, gelitten. Über den Zusammenbruch und die Abwicklung dieses Werkes hat er Genugtuung empfunden, auch wenn danach für ihn eine schwierige Zeit begann. Nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit fand er wieder eine Anstellung, war er als Zeitarbeiter unterwegs in ganz Deutschland, bis die erwähnte Allergie ihn aus der Bahn warf. Er geriet nun an ein dubioses Unternehmen, das Billigartikel in Gaststätten verkauft. Dazu müssen die Verkäufer körperliche Gebrechen vortäuschen, unter anderem Blindheit. Herr Krokisch war ein gewissenhafter Mensch, ich sagte es schon, ja …
Im Rücken des Redakteurs öffnet sich die Tür und Karl erscheint. Er trägt einen Verband über den Augen, der von Blut durchnäßt ist und hält eine Blindenbibel in der Hand..
Karl: Die Philister aber waren die Herren im Lande und nicht Gott, der Herr. Der Herr aber war der Herr Simsons, und Simson wußte es nicht. Und wußte nicht, und erfuhr es nie, daß er dem brüllenden Löwen begegnen und ihn zerreißen sollte mit bloßen Händen auf dem Weg nach Timna und liegenlassen um zu einer Frau zu gehen. Und wußte nicht und erfuhr nie die Süße seiner Kraft, weil auf dem Rückweg von Timna nun kein Kadaver eines Löwen am Weg liegen und kein Bienenvolk darin sein konnte, daß er von ihrem Honig aß. Vom Freßer kommt Fraß, und vom Starken kommt Süßes, jawohl. Furchtbar gegen die Philister hätte Simson sein sollen und von 300 Füchsen jeweils 2 an den Schwänzen zusammenbinden und eine Fackel in den Knoten stecken und die Fackeln anzünden und die Füchse loslassen sollen auf die Getreidefelder der Philister. Und ein furchtbarer Held, ein Monster hätte Simson sein und 1000 Philister erschlagen sollen mit dem Unterkieferknochen eines Esels, und die beiden Torflügel des Stadttores in Gaza herausreißen samt Pfosten und Riegel, als die Philister das Haus umstellten, in dem er bei der Prostituierten lag. Aber Simson tat es nicht, denn er erkannte Gott, den Herrn nicht, der der Herr Simsons war. Und die Philister waren die Herren im Lande. Und Simson kannte nur sie, und nicht seinen Gott, der der wirkliche Herr war. Und wußte nicht den Plan Gottes, seines Herrn, als Delila ihn verriet an einen der Herren im Lande, und ihm die Kraft nahm, die er nicht hatte kennenlernen dürfen, die Kraft, die den brüllenden Löwen zerriß auf dem Weg nach Timna, ihn 1000 Philister erschlagen ließ mit dem Unterkieferknochen eines Esels bei Lehi und das Stadttor herausreißen in Gaza. Und ihm das Augenlicht nahm, damit er nicht seiner Kraft doch noch gewahr würde. Und wußte es also nicht, daß er bestimmt war, alle Philister in den Tod zu schicken im Tempel ihres Gottes Dagon, indem er dessen Säulen zerbrach, die die Säulen der Welt waren, die er kannte.
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Sandra in ihrer Wohnung: arbeitet in der Telefon-Sex-Branche
Notiz: Im Nachdenken über die frivole Rede von Mullhaupt (Szene 13) kommt Sandra darauf, daß diese Herren – und nicht irgendwelche armen Schlucker – es sind, die Telefonsex konsumieren. Wieso soll sie die nicht abzocken? Sollen sie bezahlen für den Schein. – Wenn es klingelt, und ein Kunde dran ist, füttert sie den Kleinen (???)
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Straßensperre an einer Tankstelle irgendwo in Deutschland: Hooligans mit Huberts werden durchsucht – ein dickes Auto mit einem reichgekleideten Blinden kommt an der Straßensperre an – der Blinde beschimpft aus dem Auto (aus dem off) den Fahrer als untüchtig, weil er die Sperre nicht vorausgeahnt und umfahren hat – Erzählung des von der Polizei festgehaltenen Huberts über deutsche Tugenden – der Blinde (Karl) steigt aus und engagiert – indem er die letzte Station seiner Lebensgeschichte erzählt (wie er als Musical-Darsteller seiner selbst / seiner Geschichte zu Geld kam / das Libretto hatte der Redakteur aus Offenbach geschrieben) – Huberts an Stelle des untüchtigen Fahrers
18 – Hotelzimmer, Telefon: Karl läßt Huberts (um sich von den deutschen Tugenden zu befreien) eine Sex-Nummer wählen – hört, wie eine professionelle Sandra Telefonsex mit Huberts hat
Epilog
Karl und Sandra, Komödianten.
Karl: Warum haben wir das Stück gespielt?
Sandra: Weil wir Kohle brauchen.
Karl: Und warum so eins?
Sandra: Wie – so eins?
Karl: Mit Mann und Frau. Familiär.
Sandra: Weil wir Frau und Mann sind. Wir haben uns kennengelernt, als wir diesen Beruf gelernt haben ..
Karl: … den des Komödianten ..
Sandra: … der uns gerade mal so noch ernährt …
Karl: … und …?
Sandra: … und nun sind wir Frau und Mann.
Pause.
Karl: Und warum etwas über einen, der keine Arbeit hat?
Sandra: Weil wir keine Arbeit haben.
Karl: Kein Theater will uns.
Sandra: Also haben wir uns selbst ein Stück …
Karl: .. schreiben lassen.
Sandra: Eins über eine Frau und einen Mann, weil wir Mann und Frau sind, und der Mann ist arbeitslos, weil wir arbeitslos sind.
Karl: Und die Frau?
Sandra: Geht fremd.
Karl: Ein Stück also über eine Frau und einen Mann, weil wir Mann und Frau sind, und der Mann ist arbeitslos, weil wir arbeitslos sind, und die Frau geht fremd, weil wir … –
Sandra: .. Kohle brauchen. Nur deshalb.
Karl: Ja, Liebe muß drin sein in so einem Stück.
Sandra: Und ein Happyend.
Karl: Kohle für uns.
Sandra: Nein, ein richtiges. Hier auf der Bühne.
Karl: Also ein Stück über eine Frau und einen Mann, weil wir Mann und Frau sind, und der Mann ist arbeitslos, weil wir arbeitslos sind, und die Frau geht fremd, weil wir Kohle brauchen und ein Happyend, das heißt, wir kriegen die Kohle, weil es ein Happyend gibt, das heißt Mann und Frau versöhnen sich wieder und haben Arbeit alle beide, und alles ist, wie es einmal gedacht war am Anfang, na ob das gut gehen kann …
Sandra: Es ging gut, Mensch, die Leute haben bezahlt und sind da – da! Sind sie!