Woyzeck 98

1

Düsseldorf. Baustelle. Letztes Stockwerk eines Rohbaus. Beton und Eisen. Roh­re. Krokisch und Huberts sitzen am Rand und lassen die Beine bau­meln.

Huberts: Feierabend, endgültig.

Krokisch: Siehst du den Spasti dort. Da denk ich, der hats gut. Der hat eine, die sich um ihn kümmert, sonst könnt er ja nicht leben. Muß sich nicht sorgen. Kann in den Tag reinleben. Oder wenn ich die kleinen Jungs seh, auf dem Zelt­platz, wo ich haus. Da kann ich melancholisch werden. Wenn die erst ins Leben kommen, was das bereithält. –

Huberts: Für zehn Mark die Stunde, nee. Zehn Stunden schuften und mehr, nee. Feierabend. Endgültig.

Krokisch: Ist der letzte Tag hier, da hat man solche Gedanken. – Ich mach wei­ter. Habs mir ja selbst gewählt, was soll ich mich beklagen. Und solange Sonne ist, kann ich auf dem Zeltplatz wohnen, kann ich die Auslöse sparen. Und wenn es besser wird zuhause, finde ich dort einen Job. Spar ich dann weiter. Mach ich einen eigenen Betrieb auf, wenn genug Kapital da ist. Installations­betrieb Udo Krokisch. Hab ich es geschafft.- So hab ich gedacht bis jetzt. –

Huberts: Und nun?

Krokisch: War ich beim Arzt. Der Schmerz in den Unterarmen, wenn ich ein Rohr anheb. Später reicht eine Schelle. Dann das Wochenende, am Montag geht es wieder. Am Dienstag schon nicht mehr. Sehnenscheidenverkürzung. Nicht Ent­zündung, Ver­kürzung. Ein Ge­burtsfehler. Die Sehne in meinen Unterarm weiß, weiß es von Anfang an: Ich darf nicht Installateur werden. Und nun bin ich einer.

Pause.

Huberts: Ich meld mich in die Nordsee, wenn ich wieder zu­hause bin. Bohr­in­sel. In­serieren sie laufend. Alles Männer, echte Kerle. Vier­zehn Stunden Ar­beit, schlafen, und wieder Arbeit. Da herrscht Zucht. Weiber, wenn du Land­gang hast. Kein Streß mit den Gefühlen. Genug Kohle ist dann da. 

Krokisch: Nee.

Huberts: Was nee?

Krokisch: Puff, das isses nich.

Huberts: Ich hab den Rockzipfel losgelassen, da war ich acht. Da bin ich nur ab und zu noch nach Hause, um mir was zu essen zu holen. Da waren noch drei Pla­gen außer mir. Die Alte war total überfordert. Dann die Nicole, zwei Jahre war ich mit der zusam­men. Dann hatte sie diesen Polen. Der hat schwarz ge­ar­beitet bei uns, als sie das Messezentrum ge­baut ha­ben in Schkeuditz.

Krokisch: Wenn niemand auf mich warten würde, wenn ich nach Hause käm, das würd ich nicht aushalten.

Huberts: Nee, ich brauch keine Alte mehr.

Kro­kisch: Ohne Sandra – da könnt ich nich. Ich könnt bei keiner Nutte. Ich brauch ein Zuhause.

Huberts: Wenn ich dich reden hör, könnte ich melancholisch werden, Kro­kisch.

2

Leipzig-Grünau. Wohnzimmer von Kro­kischs. Sandra und Stefanie.

Sandra: Und da sind wir ge­gangen, der Frieder und ich, Arm in Arm, und ha­ben mit den Hüften geschaukelt, ich nach links, wo hinter den Scheiben die Ge­schäfte­macher ihren Scotch getrunken haben, und er nach rechts, wo die Bouti­quen waren, Schaufenster­puppen mit Florentischen Hüten, angestrahlt vom Kunst­­licht, und so Gras angedeutet und Fels, das wirkte warm wie im Sommer, und in den Passagen immerhin noch einige Leute, ein Uhr, da lieg ich im Bett, wenn Udo nicht im Westen ist auf den Bau­stellen, und da ist uns einer entge­gen­gekommen, groß und schlank, schma­les Gesicht und Brille, und da haben wir uns umgedreht, der Frieder und ich, die Hälse gebogen, Schwänin und Schwänin, und da sahen wir den Rücken von dem Großen, der hatte ein Kreuz, kann ich dir sagen, der Arsch schmal, und da hab ich gesagt, den will ich, und dann kam ein anderer, schwarz, bissel stämmig, bei dem hab ich nur dem Frie­der zuliebe den Hals gebo­gen, und hab den Frieder sagen hören, den will ich, und da ha­ben wir gelacht und einen Hopser ge­macht, weil es echt geil war, und so ist es gegangen durch ganz Leipzig, und von jedem Mann, der uns entgegen­ge­kommen ist, hat einer sagen müssen, ob er ihn nimmt, oder der andere, der Frie­der einmal und einmal ich.

Stefanie: Alle müßte man sie kriegen, die man sich ausguckt.

San­dra: Im Sommer, nicht so heiß, wenn sie lange Hosen anhaben, ich käm nicht durch die Hainstraße, wenn ich reden könnt‘, wie ich reden wollte, oder die Männer wür­den aussprechen, was sie denken, wenn sie den Kopf umdrehn nach mir.

Stefanie: Wie Mulle wie. (Pause) – Das möcht ich lesen können, was abläuft in dem seinen Kopf, wenn er dich durch die Bank gehen sieht auf den Hoch­hacki­gen, die du dir gekauft hast kürzlich bei Ladygörtz, oder am Schalter dich büc­ken, wenn du für Herrn Clemenceau die Depotauszüge raussuchst aus dem un­ter­sten Fach.

Sandra: Ach, der.

Es klingelt.

Stefanie: Wer ist das?

Sandra: Udo.

Stefanie: Und der klingelt?

Sandra: Immer. (Pause) – Vielleicht beugt er vor. Vielleicht will er einem, den ich hier hätt‘, die Chance geben abzu­hauen durchs Fenster. Vielleicht könnt er das nicht ertragen, und es wär ihm lieber, wenn es so wär, daß ich einen hier hätt, er wüßte von nichts. Wenn der eine Ahnung hätte, wie ich ihm treu bin und den Mullhaupt abblitzen lass. 

Stefanie: Machst du nicht auf?

Sandra: Er kommt alleine rein.

Krokisch kommt mit Reiseta­sche.

Sandra: Na?

Pause.

Krokisch: Von letzten Sonntag bis jetzt – das ist Sonntagnachmit­tag und  -nacht, das ist Montag, Dienstag, Mittwoch, Tag und Nacht, und Donnerstag; und Freitag bis gegen Zehn – exakt (er schaut auf die Uhr) 22.24 Uhr, das sind Ein­hundertsechs­und­zwan­zig Stunden und sechsunddreißig Minuten, wenn ich bedenk, daß ich ge­nau zwölf nach vier letzten Sonntag ins Auto gestiegen bin. Da war ich allein, ein Gefühl, als wär nicht nur das Wochenende, sondern alles vorbei, das Leben, das ich gekannt hab. Und schlaflos lieg ich auf mei­nem Zeltplatz in Wackerau, der menschenleer ist, gerädert steh ich am nächsten Morgen zwischen den Rohren auf dem Rohbau in Düsseldorf, und so die ganze Woche, verlassener Zeltplatz und hämmernder Roh­bau, und am Freitag, die Knochen zer­schlagen, hinterm Steuer wieder, und von Vorwegweiser zu Vor­wegweiser, von Abfahrt zu Abfahrt, Dortmund, Hannover, Magdeburg. Halle, beginnt das Herz schneller zu schlagen, und end­lich, endlich – der Wegweiser in die Heimat .. Und das soll die Be­grüßung sein?

Sandra:  Was ist mit deinem Arm? Warst du beim Arzt?

Kro­kisch: Krieg ich keinen Kuß?

Stefanie: Schönes Wochenende, ihr beiden.

Ab.

Sandra:  Was guckst du so finster?

Krokisch: Ich hab mir das anders vorgestellt, wenn ich nach Hause komm. Nicht die hier .. dieses .. Flittchen.

Sandra:  Ach, komm. (Sie küßt ihn.) – Was ist mit dei­nem Arm, Udo?

Krokisch: Wo ist der Kleine?

Sandra: Schläft schon.

3

Kasse vorm Stadion in Probstheida. Krokisch, Huberts. Sandra. Nationale.

Krokisch: Huberts ist Hool, Sandra. Einer von denen, die eine Eskorte kriegen, wenn sie einrücken auf dem Bahnhof in Chemnitz oder Plauen. Er war schon im Fernsehen .. –

Huberts: Eh, in Nordhausen. Die Schlacht dauerte drei Stunden, der Kamera­mann ging vor mit uns von Hauseingang zu Hauseingang.

Sandra: Ein Sport, wie. Life-Übertragung inclusive.

Krokisch (lacht): Die Verlängerung. Kommt vor im Fußball.

Huberts: Keine Verlängerung. Wenn du auf der Tribüne stehst .. du kannst brüllen wie du willst, du stehst immer neben dir .. du siehst dich, wie du den Arm vorwirfst Hinein hinein!, und dann hörst du dich schreien  .. Da hast du das Ge­fühl, der muß weg, der da in dir noch hockt und dich sieht .. Dich wirklich verges­sen, Sandra, kannst du erst, wenn deine Faust lan­det in der Visage von ei­nem .. wenn du ihn fühlst, wie er schwitzt und stinkt, weil er rotiert und sich nicht mehr kennt, so wie du, wenn du nach Luft schnappst, solange sie dich im Griff haben, ehe ..

Sandra: Mann kann ja Angst krie­gen vor dir, Huberts.

Krokisch: Keine Panik, Sandra, nir­gendwo Hools heute. Huberts geht mit uns.

Nationale (mit Handzetteln und Listen): Todesstrafe für Sittlichkeitsverbre­cher und Kinder­schänder!

1. Stadionbesucher: Die versuchens mit allen Mitteln.

2. Stadionbesucher: Wo sie recht haben, haben sie recht.

Nationaler (vor Krokisch): Das Volksbegehren für die Todes­strafe gegen Sitt­lichkeitsverbrecher und Kinderschänder! Eintragen, Kumpel!

Krokisch: Nee.

Nationaler: Hier, Bilder von den kleinen Mädchen! Unschuldige Opfer!

Krokisch: Hörst du den Lärm? Es kann alles vorkommen in einem.

Nationaler: Und wenn es deine Frau er­wischt?

Krokisch: Das wäre mein Ende. Aber – der Trieb ist nun einmal in der Welt.

Hinzu­kom­mender Nationaler: He, wie meinst du das!

Krokisch: Wie ich das meine? – Ich hab in der Giesag ge­arbei­tet früher, war Betriebs­elek­tri­ker. Wenn ich nach Hause kam, hab ich gelesen. Ge­schichte. Al­tes Rom und so. Die berühmten Zu­stände. Das ging bis zwei Jahre nach der Wen­de, da stand ich auf der Stra­ße. Das Arbeitsamt zahlte, ich hätte lesen kön­nen von Brot und Spielen und von der Kna­benliebe und mir die Sonne auf den Bauch schei­nen las­sen. Der Muße pflegen, verstehst du. Eine Zeitlang wenig­stens. Hab ich aber nicht. Ich mußte ar­beiten. Der Trieb, ver­stehst du. Und jetzt ist mein Arm ka­putt, und ich hab keine Ruhe, bis ich was Neues hab. Weil ich ein Heim brauch und ei­ne Si­cher­heit. Dein Verbrecher hat auch so eine Unru­he, nur andersrum.

Nationaler: So was ist mir noch nicht vorgekommen.

Krokisch: Ja, am Ende ist alles eins.

Die beiden Nati­o­na­len: He, hier ist einer, der schändet kleine Mädchen!

Die Leute werden aufmerksam. Nationale rücken näher.

Sandra: Seid ihr ver­rückt!

Krokisch: Gib her, ich unterschreib.

Huberts: Ich war mal in Hamburg auf Montage. Da hab ich in Wilhelmsburg gewohnt. In der Straßenbahn, im Bus: Nur kanakisch. Und wenn du in ei­nen Haus­eingang rein bist, ist es herumgehuscht um dich wie Ratten. Das Licht hat nicht gebrannt, und du hast nichts ausmachen können, denn die Fratzen um dich wa­ren schwarz wie die Nacht. Die gehören weggebracht und gegen die Per­ver­sen hab ich auch was. Gib her.

Nationaler: Danke, Kamerad.

Sie stehen weiter an der Kasse. Getöse im Stadion.

Krokisch: So ein Lärm, das ist unheimlich.

Sandra: Das ist die Wut, wenn man feig ist. Die wür­­den nicht brüllen, wenn es nicht brüllen würde in ihnen.

Huberts: Das ist alles noch gefesselt und gekne­belt.

Krokisch: Daß kann nicht raus, was in uns ist. Das versteht keiner.

4

Karl mit Stellenanzeigen.

Karl: Das ist Karl. Das ist Doktor Reinisch. Und das ist die Tür. Dr. Rei­nisch sagt: Tja, mein Lieber, ihr Arm .. das ist vorbei. Und nun die Tür. Der Himmel draußen zart, und mit die­sem Schleier schon .. und die Stille .. und die Stra­ßen­bahnen fahren, wie sie in Karls Kindheit gefahren sind … Aber jetzt ist Herbst. Aber die Kindheit .. bleibt. Bleibt, wenn Karl die Johannisstraße hin­un­tergeht. Bleibt, Sonne und Spinnweben zwi­schen den Rhododendronblättern, auf dem Käthe-Kollwitzplatz, bleibt auf der  Simmelstraße. Hier, vor dem Al­di, mit ihren Bierbüchsen im Staub vor dem Schaufenster, die Penner. Und Hausfrauen, die aus dem Auto steigen, auf Stöckelschuhen, wahre Schaufenster­puppen. Und Karl steht und guckt. Warum die hier einkaufen. – Lange Pause. – Sag, Karl, was hat dich das aushalten las­sen, all die Jahre Wochen­ende für Wo­chen­ende auf der Auto­bahn, für zehn Mark die Stunde im aufstreben­den Beton unter dem blassen Himmel von Westfalen, Bayern, Würtemberg? – Ich sag es dir: Dein Glaube. Das Schild, das du gese­hen hast in irgendeinem Hinterhof: In­stallati­ons­be­­trieb Karl Kro­kisch. – Pause. – Was zeichnet die Zeit jetzt aus? – Flexi­bilität? – Der schnelle Wechsel des Glau­bens! – Pause. – Ein neuer Glaube muß her. Mein neuer Glaube heißt (er kichert): Außendienst. – Stampft auf. – Ja, ich will, ich will, ich will .. glauben .. Glauben an die Stellenanzeigen .. an ihn, den Hausverkäufer, an ihn, den Fachberater, an ihn, den Mann im Promo­tion-Team, an ihn, den Agenturmitarbeiter, und will glauben an die Familie, schattige Sonn­tage im Grünen, und so auch an ihn, meinen Jungen, der .. (klet­tert auf den Tisch) .. höher hinausgelangt einmal als ich, zuerst aber an einen, der sich noch nicht kennt, Hausverkäufer, Fachberater, Pro­moter .. (fal­tet die Hände, wringt sie)  .. ja, an ihn, an ihn, den Namenlo­sen, aller Jobs Übervater, sitzend zur Rechten von Sandra, seinem Weib, von dannen er kom­men wird, mor­gens, nach dem Bei­schlaf, von dem er nicht weiß, ob es der letzte …

Sandra steht unter der Tür.

Karl: Was siehst du mich so an?

Sandra – schweigt.

Karl: Ich kniee auf dem Tisch, na und.

Sandra: Du glaubst, daß ich dir untreu sein werde?

Karl: Ja.

5

Straße bei der Bank. Mullhaupt. Sandra kommt und will in die Bank.

Mull­haupt: Daß ich zuerst Sie sehe, Frau Krokisch – ein gutes Omen!

Sandra: Wieder da – wie war der Urlaub?

Mullhaupt: Sehr schön. Die Gegend von Pau ist einsam. Ein wenig zu ein­sam. Ich hätte einen lieben Menschen gebraucht. Sie wissen, meine Frau hat gerade ihr Geschäft aufge­macht in Hildesheim. Da ist sie jetzt, am Anfang, un­abkömmlich. So bin ich alleine dort über die Hügel gewandert, von aménage­ment zu aménagement. Das Vorpyrenäenland, das ländliche Frank­reich über­haupt, hat etwas von der Gegend hier. Nicht nur die Sorglosigkeit, nicht nur der Eindruck von Verfall. Nein, das etwas Ursprüng­lichere, die ge­wisse Bo­den­ständigkeit. Wenn Sie so einen Hügel sehen, über den die Hühner laufen, die Bergziegen steigen, wissen Sie, daß in dem Anwesen oben die Welt noch in Ordnung ist. Da hat der paysan seine paysanne und die paysanne ihren pay­san. Und da hab ich mich gesehen, Frau Krokisch, mit den Augen der Einheimi­schen, mich, Jürgen Mullhaupt, der ich in Hildesheim gemeldet bin, in Leipzig wohne, in Laguilharre im Département Pyrénées-Atlantiques relaxe, mich, den Bank­fachmann, der ich Rom kenne, New York, Stock­holm, und hab mich nicht mehr gekannt. Da war ich der moderne Mensch. Aber du suchst doch etwas an­deres, habe ich mir gesagt, etwas, das deinem Hügel gleicht in Laguil­harre. Sie verste­hen, was ich meine, Sandra, wenn ich sage, ich habe meinen Hü­gel hier wieder­gefunden. Sie sind … nein, keine paysanne, Sie sind die interes­santeste Frau, die ich gesehen habe seit lan­gem … Lassen Sie mich ihr Land bes­ser ken­nenlernen, Sandra, lassen Sie mich sein Bewohner wer­den. In Hildes­heim bin ich ..   ja auch nicht zu Hause.

Sandra: Ich, Herr Mullhaupt, weiß nicht, ob ich irgendwo zuhause bin. Mein Vater kommt aus Oberschlesien, aus der Kohle, hier war er Rangierer auf dem Hauptbahnhof. Da habe ich ihm sonntags das Essen gebracht. Wenn er ei­nen Wagen ab­koppelte, schaute er auf zum Himmel, weil er der gleiche war wie über Krum­lau, und Krumlau liegt bei Opole, und Opole liegt in Polen. Das war seine Hei­mat, sehr weit oben inzwischen, und deshalb hatte er die Flasche. Viel­leicht, weil es so traurig war bei uns, Herr Mullhaupt, der Vater ein Säufer, die Mutter bei ande­ren Män­nern, und über­haupt, die Unfreiheit, wurde ich ein lusti­ges Kind. In wei­ßer Bluse, Herr Mull­haupt, und mit Pionierhalstuch. Ein Kind, dem man beige­bracht hatte, zuzuhö­ren. Zu hören auch, was einer meint, wenn er sagt, daß er ein Land besser kenenlernen will. Den Säufer, meinen Va­ter, verstand ich gut. Keine Heimat – bei der Frau. Und da habe ich ihm sein Elixier gebracht ab und zu, das ihm zum Sakrament wurde dann. Ich war so – gut zu den Männern. Für einen, der heimatlos war in der Welt von Anfang an, Schauspieler, herabhängender Schnauzbart, traurig wie ein Hund, war ich fünf Jahre die Mama. Und Königin – auf den Feten hier im Theater. Kein Tisch, Herr Mullhaupt, auf dem ich nicht getanzt hab. Ja, und nun Sie .. Hier in dieser Spar­kasse, an einem Schalter, den es nicht mehr gibt, eröffnete ei­nes Tages einer ein Konto. Klempner war der,  und verlangte Tag für Tag seine Auszüge – und im­mer von mir. Der macht seine Arbeit, dachte ich, und trinkt nicht. – (Pause) Wir waren in Mecklen­burg letztes Jahr. Schöne Landschaft, noch immer. Aber daß mir das Herz auf­ginge in so ei­nem Urlaub … (Pause.) Karl hintergehen, Herr Mullhaupt – das ist mir un­möglich.

Mullhaupt: Sie müssen ihn nicht hintergehen, Sandra. Ich lade Sie ein nach Laguilhar­re. Sie beide.

Pause.

Sandra: Ich komme Ihnen wohl vor wie aus den Pyrenäen, wie.

6

Karl. Stefanie.

Karl: Drei Sachen, Stefanie. Multireinigungsgeräte, dann den Brockhaus, dann Tiefkühl­ware. Dreimal zu wenig Umsatz. Ich hatte einfach kein Glück. Als ich nach dem letzten Mal heim bin über die Felder bei Lindenthal, wo das Kühlhaus ist, hat mir das Herz gehämmert: Daß ich den Jungen hab. Und es hat weiter ge­häm­mert von Anzeige zu Anzeige, die ich studiert hab. Hier drin, im­mer .. (schlägt sich vor die Brust.) … hier drin. Ein Son­nen­studio, das war das letzte, was ich pro­biert hab, mit Mas­sage … (Plötzlich auf Knieen.) Wo ich jetzt bin, geht es um Geld, Stefanie . Zwei­hundert DM im Monat jetzt, die zahlt dein Mann, das macht er doch, oder? Am Ende, wenn du sechzig bist, hast du Zwei­hun­derttau­send, und ich, ich .. hilf mir, Stefanie  …  – ich muß, ir­gendwie .. ir­gend­wie muß ich auf die Beine .. der Junge .. (Pause – kichert) Masseur, das hätte mir gefallen. 

Stefanie: Ich hätte dich be­sucht, Karl, hättest du nur was Separa­tes gehabt für deine Massage.

Karl: Keine Scherze, Stefanie, bitte.

Stefanie: Du bist zu ernst, Karl. Zwei­hunderttau­send, sagst du?

Karl: Wenn du sechzig geworden bist, Stefanie .

Stefanie: Pah!

Karl: Aber Acht­zigtausend schon mit achtund­dreißig, Stefanie!

Stefanie: Mit achtund­dreißig acht­zigtausend DM, Karl, glatt auf die Hand …? Ein halbes Jahr Paris wäre das ja, wie ich es mir immer gewünscht hab .. – Un­ab­hängig, Stefanie  Kerpner unab­hängig .. mit Topfhut und im Smokingko­stüm .. und Paris, ach Paris … (Pause) – Diese Rentenversi­cherungsheinis sind alle Schwind­ler! Du zahlst und zahlst – weiß ich, was morgen sein wird? – Nee, Karl, – Multireinigungsgeräte, Brockhaus, Tiefkühlware, Versicherungen – alles dassel­be! Beim nächsten Mal – viermal zu wenig Umsatz! Du kannst es nicht. Das sag ich dir – als Freundin. (Pause) –  Stefanie ist in der Bank?

Karl: Ja.

Stefanie: Dein Massagesalon, Karl, der könnte meine Phan­tasie anregen ..

Karl: Stefanie

7

Sandra. Karl mit Zeitung.

Sandra: Ja, ich habe eingewilligt, daß wir nicht in Urlaub fahren. Ja, ich be­greifs, daß du dich genierst, wo ich nu das Geld nach Hause bring. Gut, ich ver­steh’s, daß du mit niemand reden kannst im Urlaub und sagen wer du bist. Bist ar­beitslos eben und kein Klempner ..

Karl: Installateur.

Sandra: .. kein Installateur mehr. Aber du mußt auch mal auf mich gucken. Ich hab auch meinen Tag. Zehn Stunden in der Bank, das heißt zehn Stunden Kunst­licht. Das heißt zehn Stunden über den Teppich wackeln wie Dolly. Das schlägt aufs Gemüt. Das ist wie eine Schraubzwinge. Hier um den Kopf. Und vorm Computer immer. Und raus wieder und an den Schalter und ..

Karl: … und die Sonne geht auf. Der ganze Kundenbereich – soweit er männ­lich ist – vergißt seine Geschäfte. Das tut gut, nicht?

Sandra: Ach .. (Pause) Sagen will ich – ich hab ein Angebot, Karl. Für uns bei­de. Daß wir noch in Urlaub können. Nach Frank­reich, und fast umsonst. Mein Chef, Karl, der  .. –

Karl: Hör dir das an (liest vor aus der Zeitung): Sie sind ganz unten? Sie kön­nen sich nicht verstellen? Sie sind zu ehrlich, um den Leuten Dinge an­zu­drehen, die sie nicht brauchen? Dann sind Sie bei uns richtig. Lokale Flexibilität gebo­ten. Anrufe heute … – Das ist wie für mich geschrieben, Sandra.

Sandra: Hast du überhaupt gehört, was ich ge­sagt habe?

Karl: Ja, dein Chef ..

Sandra: Ich will in Urlaub, Karl, und nicht hiersitzen in meinen freien Tagen, nur weil du wieder mal was Neues anfängst!

Karl: Und ich, Sandra, will wissen, wer ich bin. Wie sonst soll ich bestehen neben deinem Chef?

Sandra: Karl ..!

Karl: Weißt du, wer du bist? – Es kann alles vorkommen in einem.

Sandra: Ja.

8

Straße vor einem italienischen Speiserestaurant. Gebietsleiter. Karl. 

Gebietsleiter: Was ist ein Maurer, Herr Krokisch? Ein Maurer ist ein Mensch, der Häuser baut, abends sein Bier trinkt und am Wochenende einen Ausflug macht mit seiner Familie ins Grüne. – Wovon lebt er? – Richtig, von seiner Hände Arbeit. – Und was ist der Kleinunternehmer, der Sie werden wollten, Herr Krokisch? – Rich­tig, ein Kleinunternehmer ist ein Mensch, der Waschbecken anbringt, Hei­zun­gen installiert, seine Bücher führt und manchmal eine Idee haben muß, wie er neue Kunden gewinnt. Mit einem Bier abends ist es selten was, und der Aus­flug ins Grüne, naja .. – Wovon lebt er? – Natürlich, von seiner Hände Arbeit ..und .. klopft sich gegen die Stirn .. ein bißchen auch von hier .. – Aber was ist ein Manager bei Mercedes, Herr Kro­kisch? Ein Mensch, der Autos baut? – Er fährt nicht mal eins, das macht sein Chauffeur. Sein Bier trinkt er bei einem Ge­schäftsessen, und im Grünen ist er auf dem Golfplatz mit dem General Mana­ger von Chrysler, also im Dienst. – Wovon lebt er? – Richtig, von Ideen .. Geschäftsideen! – Unsere Idee, Herr Krokisch, halten Sie in Händen. Setzen Sie sie auf!

Karl setzt sich eine Sonnenbrille auf, der Gebietsleiter legt ihm ein Blindenarm­band an.  

Gebietsleiter (hält eine Kollektion Abzeichen hoch): Was ist das?

Karl: Abzeichen!

Gebietsleiter: Sie können nicht verkaufen, Herr Kro­kisch, wenn Sie nicht blind sind! – zeigt einen Ledergürtel hoch – Was ist das?

Karl (betastet den Ledergürtel): Ledergürtel!

Gebietsleiter: Sie werden nichts verkaufen, Herr Krokisch, wenn sie spielen, daß Sie blind sind! – Bitte, stellen Sie sich hierhin! – Der Gebietsleiter holt aus und versetzt Karl einen Faustschlag. Karl geht zu Bo­den und steht wieder auf. Bravo, Herr Krokisch, kein Wimpernzucken, kein Ducken, kein Flackern, nichts! Ja, Sie müssen blind sein! Glaubwürdig sein! Echt sein! Das ist unsere Chance, Herr Krokisch, das ist unsere Idee! Den Leuten wird zu viel vorgemacht! Die wollen das nicht, dieses halbherzige „als ob ..“ – Die wol­len das wirk­liche Leben, das echte, unverfälschte! Also, Herr Krokisch, die Idee! Vom aufrechten Gang über die Handarbeit, Kopfarbeit, zur Idee! Der Mensch tritt zurück, wir sind nicht mehr Diener einer Idee, wir sind die Idee! – Müssen wir an unsere Idee glauben? Wir müssen nicht an unse­re Idee glauben! Wir sind der Glauben! Sie wer­den kei­nen Erfolg haben, Herr Krokisch, wenn Sie spielen, daß Sie blind sind. Erfolg ha­ben wer­den Sie, wenn Sie blind sind! Ver­gessen Sie alles, ver­gessen Sie Frau und Fa­milie, vergessen Sie, wie der Baum aussieht vor Ihrem Fenster! Verges­sen Sie den Globus, die Regenwälder, die weißen Strände von Sidney, den Golfplatz in Florida, die Manager von Mer­ce­des und Chrysler, die 24 Stunden im Dienst sind! Aber was sind 24 Stunden, was ist die Zeit, ge­gen die Idee? Die Idee, Herr Krokisch, ist ewig! Sie sind die Idee! Nimm hin und verkaufe, spricht der Herr. (reicht ihm Ledergür­tel etc.) Dies ist der Schweiß, den ein Familienvater in Malaysia für dich vergossen hat! Dies ist das Leben, das der namenlose Christus in Indien an dich verloren hat! Nimm hin al­so und ver­kaufe! Ja, verkaufen Sie, Herr Krokisch, und .. keine Angst, Be­kannte zu treffen bei diesem Training, morgen sind wir in Kassel! In Düsseldorf, Ham­burg, Berlin übermorgen! Eines Ta­ges, Herr Krokisch, werden Sie Gebietsleiter sein und werden verdienen und wer­den glauben an was Sie verdie­nen, wie ich, denn zuletzt ist das Geld auch eine Idee!

Karl: Ich will mich nicht mehr kennen!

Er betritt, behängt mit Verkaufsartikeln, die Gaststätte.

9

Beim Italiener. Sandra. Mull­haupt.


Sandra: Der Frieder hat mir erzählt, seine Schwester. Die hatte einen, verlobt, der war bei der Polizei. Undercover bei den Autono­men. Der hat sich getrennt von der Schwester vom Frieder, er selbst wär ein Autonomer nach den Jahren, er könne nichts mehr anfangen mit ihr. Und lebte mit einer Punk-Frau dann, die hatte aber auch andere. Nun aber: die Punk-Frau, bei irgendwelchen Ran­dalen, tritt einem unten rein, einem Polizisten, der, genau ge­troffen, erholt sich nicht wieder. Und jetzt: Der Undercover, der Freund ehemals von der Schwester vom Frieder, gibt die Freundin an auf seiner Dienst­stelle! – Muß sie angeben und ist nicht mehr haltbar bei den Autonomen und wird ver­setzt nach Norddeutschland. Als Un­dercover wieder. Jetzt aber – hör gut zu – zu den Nazis. Zwei Jahre, Jür­gen, ist er dort, und – unglaublich – ein Nazi in­zwi­schen.

Mullhaupt: Das ist der Job, Sandra. Den kannst du ganz ma­chen oder gar nicht. – Sandra: Ich mein, wer bin ich nun? Polizist? Nazi? Chaot? – Jürgen, ich hätt nicht zu dir kommen dürfen. Ich komm mir vor wie .. wie dieser Un­dercover.

Mullhaupt: Sandra, du .. – In der Tür Karl mit Sonnenbrille, Blindenarmband und Kettchen mit Tierkreis­zeichen.

Karl: Krebs, Stier, Jungfrau, Widder .. (am Tisch) Fische! Sie sind ein Fisch, junge Frau! Die im Sternen­kreis der Fi­sche Geborene, sagt man, be­sitzt die Fä­higkeit zur Treue. Große Lie­besfähig­keit, sagt man, Hingabe- und Opfer­be­reit­schaft befä­hi­gen sie, Schweres mit dem Partner durch­zu­tra­gen, Ge­bor­gen­heit ..

Mullhaupt (zu Sandra): Man kann nicht hin­gucken! Wie der zittert!

Karl: Wie .. ? Das Zittern, ja .. Ja, das ist nun so .. Lassen Sie sich nicht aus dem Kon­zept brin­gen davon, sehr geehrter Herr, es ist .. die Frauen .. die Men­schen .. sind mir ein Rät­sel, und vor dem Rätsel .. schauert mir .. – Gebor­gen­heit also, um fortzufahren, kann die Fisch­frau geben, Ge­fühlssinnigkeit und Treue – wo du hin­gehst, da will auch ich hingehen, ja  … Der Partner ei­ner solchen Da­me (verbeugt sich gegen Mull­haupt) darf sich glücklich schätzen. Wollen Sie al­so .. 

Sandra: Okay. Sie haben mein Sternbild erraten. Okay. – Sie sehen mehr, als Ihre Brille und Ihr Armband denken lassen, wie! Ja, ich war meinem Mann treu. Aber nicht, weil ich es als meine Pflicht ansah, mir auferlegt von ir­gendeinem Stern­bild. Sondern weil  – er mein Mann war. Doch hat alles seine Grenzen. Sie sind blind, ich hatte einen, der zuviel sah. Und wenn man einen hat, der nicht auf die Treue seiner Frau vertraut, sondern sie mit Eifersucht ver­folgt …

Karl (zu Mull­haupt): Wie, Sie verfolgen Ihre Frau mit Eifersucht!

Sandra: Das ist nicht mein Mann, Mensch! Das ist der, dem ich in die Arme getrieben worden bin von der Eifersucht meines Mannes!

Pause.

Karl: Darf ich Ihnen etwas erzählen, ganz kurz. Mein Großvater. Der saß in der Reichs­bahnkasse auf dem Bahnhof in Böhlitz-Ehren­berg. Fassonschnitt, Sei­ten­scheitel, Uniform, ein Vor­kriegsdeutscher wie aus dem Film. War er aber nicht, sondern mein Großvater. Er saß in seiner Kas­se hinter vergitterten Fenstern und draußen trieb der Wind den Staub über die Rampe. Mein Großva­ter spitzte seine Stifte, rechnete die Konten hoch und runter, schrieb seine Berichte auf Blau­pa­pier, und wenn er fertig war, ging er über die Gleise nach Hause in einen Wohn­kasten neben dem Bahn­hof. Hohe Räume, aber dunkel. Da lebte meine Groß­mut­ter, ein Mensch, nicht ausrichtbar, wie er von den Zahlenkolonnen gewohnt war. So sah er weg, wenn sie mit Leidensmiene aus dem Fen­ster sah. Und war doch nur der Staub draußen. Und er zu schwach, ihr zu verbieten, hin­auszu­ge­hen durch den Staub, in den Palmengarten am Königspark und ins Café Kreisler am Augustusplatz im letzten Mai im Frieden. – Blind, jawohl, wurde er vor dem Krieg noch, eine Familienkrankheit. Dia­betis mellitus. Um ihn her die Leute schickten sich an, die Welt zu erobern, die aber bricht zusam­men über ihnen, Leipzig eine Wüste, Skelette nur von Häu­sern, rauchge­schwärzt, in den Stra­ßen To­te, die, die leben Schatten ihrer selbst. Am blinden Großvater geht das vorbei, was er zuletzt sah, war der Frieden. Vom Bild jedoch kann man nicht leben. Die Groß­mutter, seine Frau, für einen Sack Kar­tof­feln, kriecht in den Jeep eines Ameri­kaners. Und das ist nicht das letzte Bett, die letzte Matratze draußen, die sie aufsucht. In meinem Großvater aber leuchtet klar ihr Gesicht wie der Au­gust­usplatz im letzten Mai im Frieden. Vom Fleisch gefal­len, ihr Gesicht wie Leder, die Finger gelb vom Nikotin, bleibt sie für ihn, die sie war. Und er lernt Blindenschrift und sitzt hinter einem Fen­ster in der Blin­denschule in seinem Frieden und schafft ihr wieder eine Existenz. So blieben sie zu­sammen. Ein Fossil, dieser blinde Großvater, werden Sie sagen, in Zeiten, wo alles aus­einan­derfällt, ja ..

Ab.

Mullhaupt: Was war das denn?

Sandra: Ich kenne den nicht.

Mullhaupt: Ziemlich abgehoben seine Rede.

„… die in den Szenen 10 und 11 vorbereitete historische Sicht …“

à nicht hat gefunden,

à stattdessen Zwischenbilanz: Krokisch passt sich an die neuen Anforderungen an, in dem er ihnen genügt als der, der er war: ein Arbeiter, der treu und redlich seine Arbeit tut. Das trifft nun auf die Forderung, das, was er tut, ganz zu tun, als der, der er in diesem Tun ist. Und der ganz zu sein.

Sandra erfüllt eine andere Anforderung der neuen Arbeitswelt: Das zu liefern, was der Markt fordert. Im Unterschied zu Krokisch, spielt sie, was sie tut. Spiel heißt, sie ist sich bewusst, dass sie auch was anderes spielen könnte. Wenn anderes verlangt wäre. Zu spielen, oder zu sein, was nicht verlangt ist, fällt ihr nicht ein? Dann sollte es im Hintergrund erahnbar werden?

12 – Karl Einnahmen als ‚blinder‘ Verkäufer sind nicht hoch; er hält am Ziel, wie­der eine (nicht: seine) Identität zu finden, fest; im Hintergrund aber auch Lust: Verschiedene Identitä­ten auszuprobieren (Blindenschrift lernen – sehender Blinder)

13 – Sandra bekommt Kündigung von Mullhaupt; Mullhaupt lobt ihre Stimme (war gut für die Bank!), rät ihr, es mit Telefondiensten zu versuchen (dies durchaus anzüglich)

14

Stehkneipe. Karl und Ronny (ebenfalls ein ‚Blinder‘) vorn. Hinten martialisch aussehende junge Männer. Dort ist auch der Ausgang. – Andere Gäste.

Ronny: Du bist sicher, daß es die sind, die gestern im Schweitzerhaus waren?

Karl: Ich erkenne sie wieder. Der mit der Tätowierung auf dem Arm. Sturmwehr. Und du ohne Brille. Ohne Armband. Dein Feierabend, ich weiß. Der bringt uns in die Bredouille, dieser Feierabend.

Karl möchte abhauen, getraut sich aber nicht, da er, wenn er zum Ausgang will, an ihnen vorbei muß. Sinniert, daß der, der Angst hat, von den Auslösern der Angst gerochen wird. Außerdem: Ein Krüppel lädt immer dazu ein, ihm übel mitzuspielen. Das liegt im Menschen. Zivilisation hat das übertüncht, aber die dort sind nicht zivilisiert. Ein vorgehaltenes Bein, etc., und die ganze, bisher aufrechterhalten Identität als Blinder könnte hin sein. Ronny schlägt vor, auf dem Klo abzuwarten. Karl lehnt das ab, weil er dort endgültig in der Falle säße. Lieber hier warten. Hier sind Menschen, die vielleicht helfen, wenn es ernst wird. Ronny glaubt nicht daran. Er selbst würde sich immer raushalten, wenn es einem anderen an den Kragen geht. Die Blicke der „Krieger“ herüber zu den beiden werden bedrohlicher.

Ronny: Ich verpiß mich, kommst du mit?

Karl: Nein.

Wenn Ronny weg ist, Anmarsch der „Krieger“. Die Rede des Wortfüh­rers geht darüber, daß „Atze“ gesagt hätte, es würde ihm nichts ausmachen, einen Blinden aufzuklat­schen. Er, „Bombe“, hätte da Skrupel. Wär aber nicht gut, so’n Skrupel. Warum? Da gäbe es zwei Möglichkeiten. Von der ersten wolle er noch nicht reden. Die zweite hinge zusammen mit dem, der da drüben säße. Er solle mal rübergucken.

(Karl hat tatsächlich den Impuls hinzugucken, besinnt sich aber. )

Der Wortführer: Gutgut, er sei ja blind, er sähe ja nichts. So müsse er es ihm eben er­zählen. Der dort drüben säße sei Redakteur im Offenbacher Tagblatt. Das wäre für ihn die Story, wenn er zusehen könne wie Skins sich über alle Schranken der Zivilisation hinwegsetzten und einen Blinden zu Matsch machten. Er freue sich schon, daß zu lesen. Die unterkühlte Entrüstung .. Es könne aber auch sein, daß sie, die Verfemten, recht hätten mit ihren Aktionen, wie schon so oft. Daß sie gar keine Bedürftigen gejagt hätten, sondern welche, die sich diesen Status erschlichen hätten. Daß es Blinde gäbe, die abends eine Blindenbrille trügen, und tagsüber nicht. Er könne sich jetzt entschei­den. Entweder er setze seine Brille ab und lasse sich in die Augen schauen, oder er bekomme eine Faust auf diese Brille. Könne sein, daß in der Faust dann ein paar Glassplitter steckten, aber in dem Auge auch … Vielleicht mache ihm dies aber nichts aus, da er ja sowieso blind … – Karl bekommt es mit der Angst und nimmt die Brille ab. Karl muß die Tätowierung auf dem Unterarm vorlesen. Laut und deutlich. Sturmwehr gegen Eindringlinge, Asylbe­trüger, Schmarotzer am deutschen Volk, ergänzt der Wortführer. – In der Kneipe Stille. Der enttarnte Karl – Der Redakteur kommt herüber und fragt, für wen Karl arbeite. Da Karl schweigt, fordern ihn die „Krieger“ auf, auszupacken. Dem Redakteur gelingt es merkwürdig schnell, sie zu beruhigen. Karl will nicht hier reden. Der Redakteur fordert Karl auf, sein Hotel zu nennen. Karl tut es. Der Redakteur kündigt für den nächsten Tag seinen Be­such an.

15

Tiefe Scham über den nicht bestandenen Test, das erzwungene Outing als Sehender – außerdem sind die Umsätze weiter zurückgegangen, Karl sinniert, daß man seine Unehrlichkeit und Verstellung spürt – er blendet sich deshalb selbst, um in sei­nem Job zu überzeugen

Der Redakteur tritt heraus: Lassen Sie mich zuerst etwas zu Herrn Krokisch sagen …  – Rede über seine Arbeitsauffassung in der DDR und Nach-DDR, Übertra­gung auch auf Lassen Sie mich es ruhig einmal „Arbeit“ nennen … Als gelernter … (2 Kollegen un­tereinander: „Jetzt stellt er sich wieder als Historiker vor.“) … Als gelernter Historiker würde ich sa­gen …  Vorstellung Krokisch als des alten Typs von Arbeiter, der Klarheit des Verhältnisses zu sei­nem Brotherrn brauchte, der nur in der Wahrhaftigkeit seine Identität haben konnte. Deshalb hat er die Enttarnung vom Vorabend nicht vertragen. Solch ein Typ konnte nur in der DDR überleben. An dieser Stelle Auftritt Krokisch: mit dickem Verband um die Augen, der von Blut durchnäßt ist .. – Die Philister aber waren die Herren im Lande Israel und nicht Gott, der Herr. Der Herr aber war der Herr Simsons, und Simson wußte es nicht. Und wußte nicht, was das für eine Kraft war, als er … (Beispiele seiner Taten, immer eingeleitet mit: Und wußte nicht, was das für eine Kraft war, als er …) – Und wußte nicht den Plan Gottes, seinen Herrn, als Delila ihn verriet an die Herren im Lande, die Philister, und ihm seine Kräfte nahm, die Kraft die … ( … mehrere Beispiele) – ... Und wußte nicht, daß er bestimmt war, in den Tod zu gehen mit allen Philistern im Tempel ihres Gottes Dagon. Und war so ein williges Werkzeug in der Hand der Philister, seiner Herren, die ihm eine Arbeit zuwiesen auf seinem Feld, das er bestellte, und zur Ruhe kam, und zu Geld und Ansehen. – Krokisch läßt sich vom Arzt zurückführen in sein Krankenzimmer. – Weiter wie gehabt.

verworfene Szene: 15

Krankenhausflur. Vor einer Tür drängen sich Journalisten und Reporter. Der Redakteur aus der vorigen Szene und ein Arzt.

Redakteur: Wenn ich Sie um mehr Ruhe bitten dürfte. Er  ..

Verschiedene Reporter: Wieso haben gerade Sie ihn gefunden? Waren Sie an einer Story dran?

Redakteur: Bewahren Sie doch Ruhe bitte!

Arzt: Wenn Sie sich doch in die Halle bemühen würden. Der Kranke braucht wirk­lich Ruhe.

Redakteur: (zum Arzt) Es hat keinen Zweck.

Arzt (zum Redakteur): Beeilen Sie sich.

Redakteur (zu den versammelten Journalisten): Bevor ich auf die der Tat vor­ausgehenden Einzel­hei­ten zu sprechen komme, lassen Sie mich etwas zu dem Mann sagen. Er heißt Karl Joachim Michael Krokisch, ist Drücker oder ar­beitet im Außendienst, wie Sie wollen. Er war Installateur, bevor eine Krankheit, eine Allergie ge­gen Metall, ihn zwang den erlernten Beruf aufzugeben. Er ist verhei­ratet, hat einen Sohn. Er ist ge­boren am 27. März 1968 in Leipzig. Er ist 30 Jahre alt und jetzt bei vollem Bewußtsein; ich habe mit ihm gesprochen. Ein Leben lang ist er äußerst pflicht­bewußt gewesen. Anfangs hat er bei einem pri­vaten Klempner­meister gearbeitet. Unter den unorgani­sierten Verhältnissen ei­nes großen metall­verarbeitenden Betriebes, in dem er als Betriebshandwerker gearbeitet hat, hat er, wie er sagt, gelit­ten. Über den Zusam­menbruch und die Abwicklung dieses Werkes hat er Genugtuung empfunden, auch wenn danach für ihn eine schwierige Zeit begann. Nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit fand er wieder eine Anstellung, war er als Zeitarbeiter unter­wegs in ganz Deutschland, bis die er­wähnte Allergie ihn aus der Bahn warf. Er geriet nun an ein dubioses Unterneh­men, das Billigartikel in Gaststätten ver­kauft. Dazu müs­sen die Verkäufer kör­perliche Gebrechen vortäuschen, unter an­de­rem Blindheit. Herr Krokisch war ein gewissenhafter Mensch, ich sagte es schon, ja …

Im Rücken des Redakteurs öffnet sich die Tür und Karl erscheint. Er trägt einen Verband über den Au­gen, der von Blut durchnäßt ist und hält eine Blindenbibel in der Hand..

Karl: Die Philister aber waren die Herren im Lande und nicht Gott, der Herr. Der Herr aber war der Herr Simsons, und Simson wußte es nicht. Und wußte nicht, und erfuhr es nie, daß er dem brüllenden Löwen begegnen und ihn zerrei­ßen sollte mit bloßen Händen auf dem Weg nach Timna und liegen­lassen um zu einer Frau zu ge­hen. Und wußte nicht und erfuhr nie die Süße seiner Kraft, weil auf dem Rückweg von Timna nun kein Kadaver eines Löwen am Weg liegen und kein Bienenvolk darin sein konnte, daß er von ihrem Honig aß. Vom Freßer kommt Fraß, und vom Starken kommt Süßes, jawohl. Furchtbar gegen die Phi­lister hätte Simson sein sollen und von 300 Füchsen jeweils 2 an den Schwän­zen zusam­menbin­den und eine Fackel in den Knoten stecken und die Fackeln anzünden und die Füchse loslassen sol­len auf die Getreidefelder der Philister. Und ein furchtbarer Held, ein Monster hätte Simson sein und 1000 Philister er­schlagen sollen mit dem Unterkieferknochen eines Esels, und die beiden Torflü­gel des Stadttores in Gaza herausreißen samt Pfosten und Riegel, als die Philister das Haus umstellten, in dem er bei der Prostituierten lag. Aber Simson tat es nicht, denn er erkannte Gott, den Herrn nicht, der der Herr Simsons war. Und die Philister waren die Herren im Lande. Und Simson kannte nur sie, und nicht seinen Gott, der der wirkliche Herr war. Und wußte nicht den Plan Gottes, sei­nes Herrn, als Delila ihn verriet an einen der Herren im Lande, und ihm die Kraft nahm, die er nicht hatte kennenlernen dürfen, die Kraft, die den brüllenden Löwen zerriß auf dem Weg nach Timna, ihn 1000 Philister erschlagen ließ mit dem Unterkieferknochen eines Esels bei Lehi und das Stadttor herausreißen in Gaza. Und ihm das Augenlicht nahm, damit er nicht seiner Kraft doch noch ge­wahr würde. Und wußte es also nicht, daß er be­stimmt war, alle Philister in den Tod zu schicken im Tem­pel ihres Gottes Dagon, indem er dessen Säulen zer­brach, die die Säulen der Welt waren, die er kannte.

16

Sandra in ihrer Wohnung: arbeitet in der Telefon-Sex-Branche

Notiz: Im Nachdenken über die frivole Rede von Mullhaupt (Szene 13) kommt Sandra darauf, daß diese Herren – und nicht irgendwelche armen Schlucker – es sind, die Telefonsex konsumieren. Wieso soll sie die nicht abzocken? Sollen sie bezahlen für den Schein. – Wenn es klingelt, und ein Kunde dran ist, füttert sie den Kleinen (???)

17

Straßensperre an einer Tankstelle irgendwo in Deutschland: Hooligans mit Huberts werden durch­sucht – ein dickes Auto mit einem reichgekleideten Blinden kommt an der Straßensperre an – der Blinde beschimpft aus dem Auto (aus dem off) den Fahrer als untüchtig, weil er die Sperre nicht vorausgeahnt und umfahren hat – Erzählung des von der Polizei festgehaltenen Huberts über deutsche Tugenden  – der Blinde (Karl) steigt aus und engagiert – indem er die letzte Station seiner Lebensgeschichte erzählt (wie er als Musical-Darsteller seiner selbst / seiner Geschichte zu Geld kam / das Libretto hatte der Redakteur aus Offenbach geschrieben) – Huberts an Stelle des untüchtigen Fahrers

18 – Hotelzimmer, Telefon: Karl läßt Huberts (um sich von den deutschen Tugenden zu befreien) eine Sex-Nummer wählen  – hört, wie eine professionelle Sandra Telefonsex mit Huberts hat

Epilog

Karl und Sandra, Komödianten.

Karl: Warum haben wir das Stück gespielt?

Sandra: Weil wir Kohle brauchen.

Karl: Und warum so eins?

Sandra: Wie – so eins?

Karl: Mit Mann und Frau. Familiär.

Sandra: Weil wir Frau und Mann sind. Wir haben uns kennengelernt, als wir diesen Beruf gelernt haben ..

Karl: … den des Komödianten ..

Sandra: … der uns gerade mal so noch ernährt …

Karl: … und …?

Sandra: … und nun sind wir Frau und Mann.

Pause.

Karl: Und warum etwas über einen, der keine Arbeit hat?

Sandra: Weil wir keine Arbeit haben.

Karl: Kein Theater will uns.

Sandra: Also haben wir uns selbst ein Stück … 

Karl: .. schreiben lassen.

Sandra: Eins über eine Frau und einen Mann, weil wir Mann und Frau sind, und der Mann ist arbeitslos, weil wir arbeitslos sind.

Karl: Und die Frau?

Sandra: Geht fremd.

Karl: Ein Stück also über eine Frau und einen Mann, weil wir Mann und Frau sind, und der Mann ist arbeitslos, weil wir arbeitslos sind, und die Frau geht fremd, weil wir … –

Sandra: .. Kohle brauchen. Nur deshalb.

Karl: Ja, Liebe muß drin sein in so einem Stück.

Sandra: Und ein Happyend.

Karl: Kohle für uns.

Sandra: Nein, ein richtiges. Hier auf der Bühne.

Karl: Also ein Stück über eine Frau und einen Mann, weil wir Mann und Frau sind, und der Mann ist arbeitslos, weil wir arbeitslos sind, und die Frau geht fremd, weil wir Kohle brauchen und ein Happyend, das heißt, wir kriegen die Kohle, weil es ein Happyend gibt, das heißt Mann und Frau versöhnen sich wieder und haben Arbeit alle beide, und alles ist, wie es einmal gedacht war am Anfang, na ob das gut gehen kann …

Sandra: Es ging gut, Mensch, die Leute haben bezahlt und sind da – da! Sind sie!