Amok (1997)
von Christian Martin
Regie: Mathias Neuber
Das Stück wirft Schlaglichter auf die Zeit der Grenzöffnung in Ungarn. Da ist Daniel und seine Freundin Maike, die sich prostituiert, weil sie mit 12 von ihrem Vater mißbraucht wurde, und auch gelegentlich – pikanterweise – Daniels Vater bedient.
Ensemble und Besetzung
Daniel: Sven Friedrich
Fratz: Stefan Weiß
Bomber: Christoph Rathert
Maike: Jutta Browarzyk
Jugendpfarrer: Christoph Rathert
Vater: Björn Brethauer
Mutter: Jutta Browarzyk
Technik: Nicole Kanter
Regie: Mathias Neuber
PREMIERE war am 15. Dezember 1997
LAUSITZER RUNDSCHAU – Dienstag, 27. Januar 1998 – PREMIERE: „AMOK“ IM WOHNHEIM 8
Gefeierte Wiedergeburt des Cottbuser Studententheaters „Bühne 8“
„Ich knall euch ab, wie räudige Hunde. Erst dich, dann dich, dich, dich … “ Die Pistole in den verkrampften Händen von Fratz wandert von einem zum anderen im Publikum. Sein Vater hat sich erhängt, seine Mutter ersäuft sich im Alkohol. Schicksale ostdeutscher Jugendlicher auf der „Bühne 8“. „Amok“ heißt das erste Stück des neuen Cottbuser Studententheaters.
Vor acht Jahren gestorben, erlebt es nun seine Wiedergeburt. – Das Kulturbüro des Studentenwerkes holte das vergessene Theater im Oktober 1996 in die Cottbuser Kulturlandschaft zurück. Im Keller des Studentenwohnheimes 8 in der Jamlitzer Straße wurde die Bühne eingerichtet, der Theater-Leiter Mathias Neuber engagiert und eine Handvoll Studenten für das Projekt „geködert“. Nach einem Jahr Aufbau- und Improvisationsphase meldete sich die „Bühne 8“ mit der Premiere von „Amok“, einem Drama von Christian Martin, zu Wort. „Das Stück hat vielleicht nicht so einen Sinn wie Hamlet, aber wie die spielen, ist faszinierend“, sagt Nicole Kanter, die zwei Wochen vor der Premiere prompt für die Technik verpflichtet wurde. „Von den Leistungen war ich echt überrascht.“ Das ist der Zuschauer auch, der hinter einer Studentenbühne noch unbeholfene Schauspielversuche vermutet. – Intensives Spiel – „So intensiv habe ich noch nie Theater gespielt“, gesteht Sven Friedrich, der Daniel, die Hauptfigur im Stück verkörpert. „Text auswendig lernen, und das ganze versuchen zu spielen, das ist nicht. Der Anspruch ist hoch. Regisseur Mathias Neuber spart nicht an Kritik. „Alle körperlichen Szenen sind durchweg zu lasch. Stefan, wie du deine Mutter schlägst, das ist zu lasch.“ Einen Tag vor der dritten Aufführung am vergangenen Donnerstag ist der Dramaturg mit der ersten Probe nicht zufrieden. „Das ekstatische Tanzen, das ist der Punkt, um euch körperlich frei zu machen, das wird euch durch die Inszenierung helfen.“ Die neun Studenten haben sich um ihren „Lehrer“ geschart, nicken, lachen, überlegen, wie sie ihren Ausdruck verbessern können. Kurz vor 22.00 Uhr: „Ich glaube, wir müssen noch mal ran“, sagt der Cottbuser, der am Leipziger Literaturinstitut Dramatik studierte und später im Staatstheater arbeitete. Bei der zweiten Probe ist er zufriedener: „Es macht Spaß, mit Studenten zu arbeiten.“ – Für „Amok“ nehmen Zuschauer auf 40 blauen, harten Stühlen in der Mitte des Theater-Raumes Platz. Schwarze Wände, Mülltonnen, ein Bücherregal, das Tarnnetz, das Kreuz, die Lichtanlage und eine hölzerne Bühne, die entlang der vier Wände verläuft – „Mehr nicht“, zeigt Mathias Neuber auf das Reich der „Bühne 8“. Ein passender Ort für Fratz, Daniel, Bomber und Maike, deren unglaubliche Geschichte „Amok“ erzählt. Im letzten Jahr der DDR verzweifelt der 16jährige Daniel an den Prinzipien seiner Eltern und bringt sie am Ende um. – „Bonzenratte“, „Spitzel“, „Stasischwein“ nennt ihn Fratz, weil Daniel durch gute Beziehungen seiner Eltern zur Partei einen EOS-Platz bekommt. Daniel sucht Halt bei „asozialem Gesindel“ (Eltern): bei Maike, die er liebt, die sich aber prostituiert, bei Fratz, der zum Nazi wird und bei Bomber, der Boxer werden will, niedergeschlagen wird und sich Fratz anschließt. Die Gruppe zerfällt. Alles, woran er sich halten will, bricht weg. – Vergewaltigung, Mord, Homosexualität, Gewalt – „da ist alles reingepackt, was an Klischees da ist“ sagt Mathias Neuber, der den Stoff für das erste Bühnenstück wählte. „Ich hab was gesucht, was zu uns passen könnte, womit wir uns auseinandersetzen können.“ Auf einer dürftigen Textgrundlage bauten die Studenten auf. „Wir haben uns das Leben dazu ausgedacht“, sagt Jutta Browarzyk, die phnatastisch sowohl Maike als auch die Mutter von Daniel spielt. Der Zuschauer ist in „Amok“ nicht nur starrer Betrachter, er ist Statist. Mal in der Kirche, mal auf dem Müllplatz, mal im Schlafzimmer von Daniel – es ist aufregend, die Geschichte und die tollen schauspielerischen Leistungfen der Studenten zu erleben.
Vicky Radunz
CAUZ (Studentenzeitung – Heft 13, Januar / Februar 1998)
Amok im Wohnheim VIII (Das Studententheater bühne 8 hatte Premiere)
Endlich: Cottbus hat ein eigenes Studententheater. Und was für eines. Am 15.12.1997 war Premiere mit „Amok“ von Christian Martin. Das Stück wirft Schlaglichter auf die Zeit der Grenzöffnung in Ungarn. Da ist Daniel und seine Freundin Maike, die sich prostituiert, weil sie mit 12 von ihrem Vater mißbraucht wurde, und auch gelegentlich – pikanterweise – Daniels Vater bedient. Seine Eltern verschaffen Daniel aufgrund guter Beziehungen zur Partei einen EOS-Platz und sind (gleichwohl oder deshalb?) stolz auf die schulischen Leistungen ihres Sohnes. Nebenbei macht der Vater noch „wichtige Geschäfte“ mit dem Westen über Giftmüllfässer, zunächst von VEB Altöl und dann von BASF. Da ist Fratz, dessen Vater sich erhängte und dessen Mutter sich im Alkohol ersä¤ufte, der seine eigenen Chancen ausmißt (kommste nicht nach Oxford, treib Boxsport) und schließlich zum Nazi wird. Und da ist Bomber, der in der Tat Boxer werden will, natürlich k.o. geschlagen wird und sich schließlich Fratz anschließt. Daniel bringt am Ende seine Eltern um. Das alles klingt nach den klassischen Klischees aus der Psychokiste. Die fragmentarische Sprache des Stückes und die unglaublich phantasievolle und dichte Inszenierung ergeben jedoch ein glaubwürdiges, beängstigendes und keineswegs klischeemäßiges Bild dieser Menschen – und eben ihrer Amokläufe. Regisseur Mathias Neuber hat innerhalb eines guten Jahres in augenscheinlich liebevoller und sicher auch mühevoller Arbeit aus interessierten Laien Künstlerinnen und Künstler gemacht und eine erstklassige Ensembleleistung aus ihnen herausgekitzelt. Das wird bereits in der ersten Szene deutlich: eine Gruppe schwarz vermummter Menschen auf gespielten Motorrädern „fährt“ an den Wänden des Spielsaales um die Zuschauer herum, bis sie schließlich auf der Müllhalde nach fieser Musik fies abtanzen, wobei Maike von Bomber buchstäblich durchgefickt (es gibt hier keinen passenderen Ausdruck) wird. Das gespielte Motorradfahren könnte lächerlich wirken – tut es aber nicht. Die Szene ist von Anfang an beängstigend und bleibt es auch, bis schließlich die Bullen kommen. Ähnlich unheimlich wirken die licht- und tontechnisch verfremdeten und in doppeltem Sinn traumhaften Szenen, in denen u.a. der Boxkampf von Bomber, die Bedienung Daniels Vater durch Maike (sie läßt ihn ihre Stiefel lecken), eine von statischen Polizisten niedergeknüppelte Demonstration und die saufende Mutter von Fratz, der diese schließlich niederschlägt, dargestellt werden. Diese Szenen leben vom präzisen Zusammenspiel der Darsteller miteinander und mit der von Nicole Kanter zuverlässig und punktgenau eingesetzten Technik. Auch wenigstens ein Teil der durchweg guten Einzelleistungen sei hervorgehoben: Stefan Weiß spielt den Fratz, nein, ist mit dieser Figur präsent, daß es einem den Atem verschlägt. In einer Szene versucht Fratz Daniel mit hohlen Phrasen und brutalem Gerede für sich zu gewinnen – erfolglos. Der sonst so brutal wirkende Fratz bricht zusammen und schreit seine ganze Verzweiflung gen Himmel – großartig. Sven Friedrich ist als Daniel der Wunsch nach Wärme und die Abscheu vor der elterlichen Scheinwelt ins Gesicht geschrieben. In einer Szene weint er – er weint wirklich. Bomber, der augenscheinlich am wenigstens kapiert, was Sache ist, wird von Christoph Rathert mit einem herrlich blöden Gesicht dargestellt, und man wundert sich, wie derselbe Darsteller auch den Jugendpfarrer, der sich in Daniel verliebt hat, so wahrhaftig geben kann. Björn Brethauer stellt ernsthaft und ohne Eitelkeit einen so widerlichen Vater dar, daß sich einem der Magen umdreht. Und schließlich: Jutta Browarzyk. Sie spielt sowohl Maike als auch die Mutter von Daniel (eine systemtragende Lehrerin), zwei Charaktere, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Unvergeßlich ist z.B., wie Maike mit Daniel in dessen Zimmer ist und ihm – ganz Mensch, ganz armseliges Mädchen – den Mißbrauch durch ihren Vater offenbart. Als sie aber die Stimme Daniels Vaters vernimmt, der sich anschickt, ins Zimmer zu treten, verfällt sie schlagartig wieder zurück in ihre Nuttenrolle – und zwar nur durch eine kleine Ãnderung des Gesichtsausdrucks und der Körperhaltung. Große Kunst offenbart sich eben oft in kleinen Details.
Claus Leitzke, Berlin