HALBTALENTE

Halbtalente (2000)

1

Punkmusik.

Off-Stimme Jakob: Mein Gott, das war mal deine Band. Klingen wie Nazis. Gut, daß du da raus bist. – Stimme hat er ja, der Gordon. Könnte auch singen. Macht er aber nicht. – Guck dir das Publikum an! Gefällt das einem? Gefällt keinem. Sitzen nur da. Der da. Dickes Gesicht, schwarzer Bart, kurzgehalten. Wamme. Vollkommen hilf­los. – Da denkst du an deinen Vater.  Annathal, wie er vorm Fernseher hockt. Wie er den Berg hinaufschiebt, prustet, Sonntagnachmittag, wenn sie spazieren gehen. Wirst du erleben, morgen schon. Und schweigen, weil du nichts reden kannst. Und Oma Erna aus Niederroda, und Onkel Jürgen.

Off-OFF-Stimme Oma Erna: Lieber Hans-Christoph, zu deinem Fünfzigsten wünschen wir dir ..          

Off-Stimme Jakob: Und Oma Bettina aus Oberstein.

Off-OFF-Stimme OMA Bettina: Na, mein lieber Sohn, trotz allem .. von deiner Mutter!

Off-Stimme Jakob: Und dein Vater, ein Mann von fünfzig, grient hilflos. Und Mittagessen gleich danach in der Krebsmühle, Reh, weil der Joachim doch, auch so ein Fossil, ein Jäger ist noch immer .. – Oje, der Spaziergang. Da wenden sie sich an dich.

Off-OFF-Stimme OMA Bettina: Na, und du, Jakob?

Off-Stimme Jakob: Ja, und ich?

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Ja, was treibst du?

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Musik mach ich.

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Ja, was für Musik.

Off-Stimme Jakob: Kein Punk, Oma, nein. Nein, ich bin konventionell. Schlager.  Jawohl, Schlager. Aber anders. Ein bißchen .. nein, schräg nicht. Ein bißchen .. fröhlich. – Achherje, fröhlich. Fröhlich, fröhlich. Das werden sie falsch verstehen. Oma Bettina! Da wird sie denken – Musikantenstadl. Und dich angucken.

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Johann Sebastian Bach, Jakob! Bach!

Off-Stimme Jakob: Werden wir hören am Abend, jawohl. Laurentiuskirche. Johannespassion. Obligatorisch an Karfreitag. Karfreitag und Vaters Geburtstag diesmal. Und in der vorletzten Reihe Bruder Robert. Wird sein Quasselmaul zum Dauer-0 aufreißen, der Chorknabe. Wird er nie verstehen das Gedröhne hier.

2

Punkmusik.

Off-Stimme Jakob: Der Fette da, der Irokese, mit der Freundin der, die aussieht wie ausgezehrt von vier Kindern, die sie nie gebären wird – ja, da sitzt sie, spitzes Gesicht, vor dem Sofa auf dem Erdboden, im Dreck, in Erdnußflips, mit ’ner grünen Strähne im Haar, und orange und fett er, und der Hund leckt das verschüttete Bier auf

.. – Zugedröhnt nur noch. Zugedröhnt sogar der Hund ..

Punkmusik.

Sänger Gordon: Wa Wa Wa Wa Was wird sein?

Off-Stimme Jakob: Kennst du noch. Kennst du bis zum Erbrechen. Gordons „Meisterwerk“. – `N ordentlicher Drive am Schlagwerk, das mußt du zugeben, und jetzt, sind sie fertig. Volles Licht. Gordon, mit nacktem Arm, nackter Oberkörper, zeigt auf die anderen. Brüllt irgendwas, und springt, springt, springt. Und Norbert über die

Bass­­saiten mit langen Krallen. Und hüpft auch. Und fangen nun an wieder, daß die Decke wackelt. Daß die Spitzhacken wackeln und die Schaufeln wackeln und die Grubenbahnsignale und das Stück Gleis. Jawohl, so sieht es aus hier. Tagebaugerät, aufgebammelt an der Decke. Das Gleis auch. Wenn das runterkommt. Die Vergangen­heit ist das, die Kohle – weißt du von Großcousin Gerhardt. Mit dem es zu Ende ist jetzt. Wie mit der Kohle. Und Wasser drauf deshalb, die Schwarze Elster. „Flutbett“. So heißt der Klub. Studentenklub, ja.

Off-off-Stimme Jakob: Nein, ich bin kein Student geworden. Nein, Mama, Musikant.

Off-Stimme Jakob: Und jetzt sind sie wirklich fertig. Kommen an die Bar, sehn mich und grienen. Norbert, Gordon, Andy. Klopfen mir auf die Schulter.

Klubatmosphäre.

NORBERT: Na geht’s nicht ohne, Schätzchen!

JAKOB: Ohne was?

Andy:  Ohne uns!

Off-Stimme Jakob: Ach, Norbert, Andy, ohne euch geht alles besser .. Ja; geht nur weiter, geht nur, geht .. – Stehst du hier jetzt, guckst in die Runde. Allgemeines Aufstehn. Nachfassen, Entleeren. Geräusch der altersschwachen Toilette – Abort. Abort Abort. Abgetrieben dein Baby ABFLUSS. Gespannt, was sie auflegen werden – „Les reines prochaines“. Das nun ist wirklich mal okay.

3

LES REINES PROCHAINES: „Opfer dieses Liedes“- Stimmengewirr.

Off-Stimme Jakob: ABFLUSS, die Band, deine ehemalige Band, beim Dienstbier. Du hier. Allein bist du nichts, ein Idiot. Bist du also unterwegs jetzt ..

Leiser werdende Musik.

Off-Stimme Jakob: .. Zigarettenqualm unter den Grubenlampen, schwankende Körper, Gleiten von Gesichtern im Nebel ..

Das Geräusch einer Autobahn in der Ferne.

Off-Stimme Jakob: .. die Nacht draußen kühl. Durchatmen. Klarer Märzhimmel. Durchatmen nochmal und nicht wissen wohin. Nach Hause. Ausschlafen. Ausgeschlafen nach Annathal. Ausgeschlafen ins Leben. Ab heute. Ab heute packst du’s. Packst deine Musik – traurig, lustig. – Packst es ab morgen. Denn du siehst da einen, siehst ihn kommen, klein, kleiner als du, fröhlicher Gang, Sandro Vogel: Langes Gesicht, breites Lächeln mit Zahnlücke, Verbrechervisage. Aber das täuscht, der ist ein wirklich Solider. Studiert und arbeitet. In den Zeitungen sein Foto: Sandro Vogel, Jungunternehmer aus Weißenberg.

Stimmen im Hintergrund, manchmal geht eine Tür auf, dann ist die Musik etwas lauter.

SANDRO: Hi, Jaques!           .              .

JAKOB: Ich heiße Jakob, Sandro.

SANDRO: (singt):   Frere Jaques! Frere Jaques!

dormez vous, dormez vous?

Sonnez les matines, sonnez les matines:

din don din, din don din        

Also gut, wenn du  auf deiner angestammten Identität bestehst: Dann sag ich Jakob zu dir, Jaques!

JAKOB: Ich wollte grade gehen, Bill.

SANDRO: Aber Jaques! Das ist ein zu ehrenvoller Name für mich! Der große Bill! – Bleibst du?

OFF-STIMME JAKOB: Kehrt also, und in der Wendung, wenn er deinen Arm packt, hast du eine befahrene Hauptstraße, siehst eine Glastür sich öffnen, Holzboden, eine Theke an der Bürozubehör verkauft wird, Kopiergeräte und Schneidetische, hochgewachsene Mädchen – Studentinnen mit Zeichenrollen. Und Studenten über Tabellen gebeugt. Die Kamera, ehrfürchtiger Blick eines Steinsetzers, fährt die Holztreppe hoch. Hier, in einem weiten Raum, Computer an Computer, eine Tischtennisplatte in der Mitte, sitzen, gehen sie, vier Mitarbeiter des Noch-Studenten Sandro Vogel, und Russischer Wein draußen am bröckelnden Mauerwerk, der über die Fensterfront hängt, und dem Raum etwas Täuschendes gibt. Atmosphäre stiller Museen, Landhäuser in der Weite irischer Wiesen.

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Wäre das nicht etwas für dich, Mama, dein Sohn Jakob, den sie Jaques nennen hier, angekommen in einer vernünftigen Arbeit?

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Dienstleister ist er, mein Jüngster. Mit IT kennt er sich ja aus, durch die Musik.

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Ja, Mama, vielleicht mach ich das ..

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Wenn du dich nur entscheiden würdest!

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Entscheiden, entscheiden .. Und was ist dann?

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Ach, Junge, mit deinem Hin und Her immer. Einmal Musik, einmal Afrika, und dies und das. Wie das Aprilwetter bist du, Sonne und Hagelschlag, und man findet sich nicht durch. Daß muß alles erst noch werden mit dir.

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Es ist schon, Mama, es ist: Ich bin.

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Du bist! Was bist du denn. – Recht wär es mir, wenn du unterkommen würdest bei deinem Freund.

4

Stimmengewirr und im Hintergrund noch immer „Opfer dieses Liedes„.

OFF-STIMME JAKOB: Das Bild hier, aufgenommen vom Pupillenspalier bierglashaltender Studenten: Du, großgewachsen, schwarzgelockt im dunklen Jackett, gehst hinein wieder, steigst die Treppen hinab neben dieser fröhlichen Visage Sandro, Informatiker, Student mit Neuer-Markt-Firma, solide im Kern, und zu allem Überfluß

wartet in seiner Wohnung am Kirchplatz ein Mädchen auf ihn. Alles hat der und dazu den Drang zum Singen, Geld auch ..

LES REINES PROCHAINES: „ Opfer dieses Liedes „. – Dann ist das Lied zu Ende. Klubatmosphäre.        

SANDRO: .. das macht zwei Becks, für meinen Kumpel hier und mich .. – Prost Jakob!

JAKOB: Prost Sandro!

SANDRO: Wann singen wir, Bruder?

JAKOB: Wann du willst. Nach Ostern.

SANDRO: Und was? Hast du was?

JAKOB: Vielleicht.

OFF-STIMME JAKOB:  Du stehst und hörst, hörst deine Musik, ein bißchen .. nein, schräg nicht. Ein bißchen.. fröhlich. Achherje, fröhlich. Fröhlich, fröhlich. Wie die Brassband fröhlich in „Underground“

Klubatmosphäre.

JAKOB: Kennst du „Underground“, Sandro?

SANDRO: Den Film? Der in Jugoslawien spielt? Brekovic?

JAKOB: Ja, den ..

OFF-STIMME JAKOB:  Also: Wie die Brassband fröhlich in „Underground“: Schmerzhaft aussichtslos, Züge übers Land, die Feste – Schlachtereien! – feiern wie sie fallen: Verzweifelt. Und, Bruder, immer lustig: das Leben: die Musik. – Der Titel: Manchmal musst du schreien .. -Das ist so ein Rhythmus, Sandro .. langsam, drängend ..

Klubatmosphäre. Lachen und Schreien.

OFF-STIMME JAKOB: Wie die Brassband fröhlich .. Wenn es nur mal so wär .. Trotzdem: Etwas will da raus, hast du gewußt, als du fertig warst, sich mit etwas verbünden ..

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Etwas ..? – Sich verbünden ..? – Womit denn verbünden .. ?

SANDRO: Also hast du einen Song?  „

JAKOB: Ja. Aber er ist nicht fertig.

SANDRO: Laß erst mal hören!           

JAKOB: Er ist noch nicht so gut.

SANDRO: Du bist zu anspruchsvoll.

JAKOB: Es muß erst stimmen. – Nach Ostern, Sandro. Wenn ich zurück bin.

SANDRO: Wo bist du Ostern?

JAKOB: Zu Hause. Mein Vater hat Geburtstag.

Tumult: Kreischen, Anfeuerungsrufe.

OFF-STIMME JAKOB: So redet ihr… – Studenten auf der Bühne: Männerarme, die Frauenarme ziehen .. Der Dicke mit dem kurzgehaltenen Bart .. Und hinten schieben andere .., SIE kreischt, windet sich, dreht den Kopf, kreischt ins Café, ihr Gesicht, du siehst es: Verdorben. – Jetzt gibt sie nach, steht auf der Bühne.

Gelächter. Klatschen. Dann Musik: LES REINES PROCHAINES: „Ich bin das Zebra“.

JAKOB: Was soll das werden, Sandro?

SANDRO:  Ich weiß nicht .. `ne Playback-Show …

5

Gelächter. Klatschen. – LES REINES PROCHAINES: „Ich bin das Zebra„.

OFF-STIMME JAKOB: Das ist Musik .. ! – Dein Titel .. ? .. : MANCHMAL MUSST DU SCHREIEN.. Du hast ihm nicht davon erzählt, hast es für dich behalten .. Du bist zu ernst .. Sitzt hier und denkst und hörst und prüfst. – Und die hört nicht auf, jetzt jault sie .. Zum Gotterbarmen. Tänzelt, das mag angehn, haucht obszön ins Mikrofon.

Gelächter, Klatschen.

OFF-STIMME JAKOB: .. sie steckt das Mikrofon zurück. Steigt, nicht ganz sicher, von der Bühne. Ihr Fleisch wird aufgefangen von dem Dicken mit dem schwarzen Bart. Du guckst Sandro an. Der grient, was hierher paßt, was nach Kaschemme aussieht, Tingeltangel, oben zahnlos wie er ist. Ach, Sandro, wenn du wüßtest .. – Siehst aus, als würdest du auf alles spucken, als könnten sie dich alle mal. Siehst aus, als wärst du wirklich, wie du heißt: Der Vogel. Der lockere Vogel! Freier! Vogelfrei! Sie lieben dich dafür! Dabei .. – keiner ist wie du im Hafen. Da kannst du es dir leisten: Singen, nebenbei. Ach, was soll ich dir von meinem Lied erzählen: Das ist alles noch nicht – Wirklichkeit.   

6

Schlagartig: ACDC – Dann Raum für Off-Stimme Jakob.

OFF-STIMME JAKOB: Du willst das nicht. Nicht heute. Nicht dieses Mädchen, das jetzt  hier steht, nicht dieses In-die-Ohren-Schreien ..

Schlagartig: ACDC.

SANDRO (schreit): Jakob, das ist Anna.

Raum für Off-Stimme.

OFF-STIMME JAKOB: Und gibst dir doch Mühe – selbst das Bargestänge brummt, vibriert, schwingt mit – etwas zu verstehen.     

ACDC.

SANDRO (schreit- und so durch die ganze Szene): Was schleppst du da mit dir rum, Anna?

ANNA (wie Sandro): Plakate.

SANDRO: „Neues Leben nach der Kohle. Vom Sandrohrwurm zur Blauracke. Silbergras und Sandheide.“ Was ist das?          

ANNA: Eine Wanderung in der Tagebaufolgelandschaft.

SANDRO: Wie kommst du dazu?

ANNA: Ich wohn jetzt da.

SANDRO: Im Tagebau? Nicht mehr in der Bebelstraße?

ANNA: In der Tagebaufolgelandschaft; Leskien. Drei Häuser, die damals stehen geblieben sind. Eins davon ist Naturschutzstation. Da leb ich.

SANDRO: Mit Mann?          

Raum für Off-Stimme.

OFF-STIMME JAKOB: Du siehst Sandro schmunzeln, schmunzelst mit ..

ACDC.

ANNA: Nein, das ist eine Wohngemeinschaft.

SANDRO: Und zur Arbeit kommst du herein nach Weißenberg?

ANNA: Ja, klar.

SANDRO: Anna, du gefällst mir! Wenn’s da nicht schon jemand gäbe ..

Anna lacht.

SANDRO: Tanzt du mit?

ANNA: Ich muß zum Dienst.

SANDRO: Dann geh ich ohne dich!

ANNA: Dann geh!

SANDRO: Okay, ich geh!

OFF-STIMME JAKOB: Er geht, du schmunzelst wieder. Siehst Sandro, wie er springt, Grimassen zieht in eure Richtung, eine Show für diese Anna. Du, im Ohr ihr Lachen, siehst sie an ..

ACDC.

JAKOB (laut – und so im Folgenden): Bist zu zum ersten mal hier?

ANNA (wie Jakob): Ja.

JAKOB: Und wie gefällt es dir?

ANNA: Nicht ganz meine Welt.

JAKOB: Nicht?

ACDC.

ANNA: Und du? Bist öfter hier?

JAKOB: Ja, manchmal.

ANNA: Student?

JAKOB: Nein.

OFF-STIMME JAKOB:  Student .. Sie guckt dich an .. Wartet, daß du noch was sagst. Du holst Luft, holst aus – als müßtest du die Welt erklären. Hast es auf den Lippen, was du selbst, was Annathal in dir gern hören würde: Steinsetzer. Ich bin Steinsetzer.

OFF-STIMME ANNA: Und? Warum baust du keine ..

OFF-STIMNIE JAKOB: .. Bürgersteige? B ü r g e r steige .. ! – Weil ich nicht kann .. nein, mit den Händen kann ich. Die Leute waren so .. – Der Meister, Anna, ein Hans-Joachim, langer Kopf, Eierbirne .. Spitze Nase .. `Ne Karikatur, `n Stoppschild: Wie der seinen Pfefferminztee schluckt: Mit Leichenbittermiene .. Und an der Ramme

steht: Mit dieser Miene! Und Hochmut zeigt, wenn ihm mit Reden Schimpfen Lachen die Polen kommen, die er für sieben Mark die Stunde einkauft .. Und fährt ’n dickes Auto nicht weil ihm das Spaß macht, sondern weil der Nachbar sich darüber ärgert .. – Und wie der seine Schnitten auspackt! Wenn das Papier nicht glatt ist, die Schnitten

nicht auf Kante, ißt der nicht! … Und kaut nun wie er seine Pflastersteine setzt! Zahn für Zahn! In Winter, Frühjahr, Sommer… – Ach, Sommer … Du hockst im Dreck. Das Land, dein Schädel, die Gespräche – staubtrocken. Da gehst du wandern. Du, dein Geist .. flieht .. In die Musik .. – So war das, Anna. Ich hab für mich was anderes gesehn .. im letzten Juni ..

7

Funk Music.

OFF-STIMME JAKOB: Ron Spielmann … Das ist auch Musik .. ! Und du .. ?.. Vergleichst .. Spürst .. nein, weißt es! Du bist ein Nichts … MANCHMAL MUSST DU SCHREIEN .. – Ach, Sandro .. – Sandro .. – im Schwarm zappelnder Arme und Beine, kreisender Köpfe, gleitet wie ein Surfer, winkt euch rein, du guckst sie an, ihr geht ..

Funk Music.

JAKOB: Wie lebt man in diesem Leskien? Frei? Frei vom Geldverdienenmüssen? Was machst du in der Naturschutzstation?

ANNA: Ich wohne da.

JAKOB: Und arbeiten?

ANNA: Tu ich hier.

JAKOB: Wo?

ANNA: Im Krankenhaus.

JAKOB: Krankenschwester?

ANNA: Ja.

OFF-STIMME JAKOB:  Sandro neben euch. Sie sagt ..

ANNA- Nebenan wirtschaftet einer. Kartoffeln, Ziegen, Hühner. Was anderes geht noch nicht auf dem Boden. Zwei Kinder haben sie, und leben davon. Vielleicht mach ich auch mal so was.

SANDRO: Wenn du einen Mann hast, der die Ziegen füttert.

Anna lacht.

ANNA: Ach, Sandro, die Ziegen füttern tu dann ich.

SANDRO: Und wozu ist der Mann?

ANNA: Sandro, Sandro ..

OFF-STIMME JAKOB: Und jetzt du, du bist zu ernst, du weißt es ..

JAKOB: Davon kann man leben? Von Ziegen und Hühnern?

ANNA: Plusminus Null. Nur daß du lebst.

JAKOB: Ostermontag macht ihr eure Wanderung?

ANNA: Ostermontag.

SANDRO: Jakob ist begeistert, ich seh’s ihm an. – Jakob kommt!

OFF-STIMME JAKOB: Und du, zu ernst, du weißt es, vielleicht gefällt es ihr ..

JAKOB: Ich komme.

ANNA: Wir warten an der Naturschutzstation.

Funk Music.

OFF-STIMME JAKOB: Sie hat was .. in ihren Augen .. Wie vom langen Schauen über flaches Land ..

ANNA: Hu! Ich muß jetzt ..

OFF-STIMME JAKOB: Ihr setzt euch, schaut – in dein Bier du; auf ihre Hände sie, die – Wunsch des Steinsetzers, Arbeitslosen, Musikers, der, jaja!, versagen wird – fest sein sollen von liebevoller Arbeit auf einer Krankenhausstation …

ANNA: Na denn, ihr beiden ..

OFF-STIMME JAKOB: Und rutscht vom Hocker ..

Funk Music.

OFF-STIMME JAKOB: Und packt ihre Plakate. Und geht und schlägt ihre Aushänge an, NEUES LEBEN NACH DER KOHLE, und geht durch Trubel und Rauch … Geht in ihrem Anorak, beige wie der Sand in der Tagebaufolgelandschaft, und auf dem Rücken wippt ein kleiner Rucksack .. Und ist aus der Tür. – Hier du .. – und nickst, weil sie da draußen lebt – in diesem Leskien, im Niemandsland ..   ‚

OFF-OFF-STIMME JAKOB: .. in einem Land, das noch nicht ist, erst wird ..

OFF- STIMME JAKOB: .. Und siehst diesen Anorak, beige wie die Wege in den Kiefernwäldern, aus einem Zug steigen auf einem kleinen Bahnhof im Erzgebirge, graue Dächer und Oberleitung, und nasse Märzluft streicht über braunes Haar, das auf eine Mädchenschulter fällt neben deiner, und so geht es die Unterführung hinab durch einen feuchten Tunnel, und jetzt steht ihr auf dem Busplatz von Annathal ..

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Ins Neubaugebiet fährt die Linie N, Anna.

OFF-STIMME JAKOB: Und es ist wirklich diese Anna .. – Aber nun ist es nicht da, wo du herkommst, und ihr fahrt nicht in einem Gelenkbus auf den Steinwiesener Hang hinauf ins Plattenbauareal, sondern .. – ein Bett ist es, aus dem ihr aufersteht am Morgen, ein Schritt .. – barfuß über Holzfußboden .. – Und jetzt .. ihr seid-im Freien .. ! OFF-OFF-STIMME JAKOB: .. wie in Niederroda in den Sommerferien: Wenn Oma Erna über den Hof ging und hinter ihr marschierten die Gössel, und du, im Schlafanzug, hast deinen Pfeil in einen milchblauen Himmel geschossen ..

OFF-STIMME JAKOB: Ein solches Leben, Freunde, in dieser kargen Landschaft hier – die allmählich sich bewaldet, und mit Seen sich füllt, und mit Menschen, die, Gordon, Norbert, Andy, hört ihr! – keine Musik mehr brauchen, außer alle singen, spielen, musizieren .. Keine Bühne mehr, kein oben stehn .. Kein trauriger Ersatz für unten, wie Feuerzeuge schwenken .. alles musiziert ..

8

Barbetrieb.

SANDRO: Na dann sieh mal zu Ostermontag. Hast dich ja ganz schön ins Zeug gelegt.

JAKOB: Ich werd nicht hingehn.

SANDRO: Was?!

JAKOB: Mein Vater hat Geburtstag Karfreitag. Fünfzigsten. Das wird wie ’ne Festwoche über Ostern. Ich glaub nicht, daß ich mich da loseisen kann.

SANDRO: Jakob .. ! Die wartet auf dich, die .. Also das sieht ein Blinder, daß du Chancen hast bei ihr ..

JAKOB: Ist gut, Sandro. Sagen wir, ich bin im Moment nicht disponiert auf Frauen.

SANDRO: Was soll das denn heißen?

JAKOB: Daß die Musik vorgeht. Ich will erst was sein. Ich will die CD fertig haben.

SANDRO: „Ich will erst was sein!“ Bist du jetzt nichts?

JAKOB: Ich .. ich weiß nicht .. Ich will wissen, wo lang es gehen soll ..–Vielleicht ist die Musik der falsche Weg..

SANDRO: Musik, nicht Musik, Musik .. Heute hier, morgen dort, bin kaum da, schon bin ich..

Barbetrieb.

JAKOB: .. fort, jaja … – Nein. Deine Anna hat mich gefragt, was ich mache. Wer ich bin. Ich hab ihr nicht geantwortet. Vielleicht brauch ich deshalb die CD .. Das ich was hab, eine Eitelkeit, ein Etikett auf der Stirn: Rockmusiker ..

9

LED ZEPPFLIN.- Stairways to heaven.

JAKOB: Aber vielleicht nehm ich mir zu viel vor ..

OFF-STIMME JAKOB: Mein Vater, Sandro, wollte auch Musiker werden. Pianist. Er war Pianist in einem Kabarett.

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Lüge alles, Sohnemann, Lüge! Pianist dein Vater? Und Sänger? In einem Kabarett? Studiert hat er, Bauingenieur, und ist Bauleiter geworden – ein genauso anständiger Beruf wie Russischlehrerin. Da haben wir uns kennengelernt, beim Studium .. An der Bauhochschule er, und an der Pädagogischen ich .. – Künstler ..! .. Wer hat dir das denn erzählt ..? .. Wie soll der heißen, der dir das erzählt hat? Juri? Juri Vogler? .. – Also, das war vor meiner Zeit. Da redet er manchmal drüber dein Vater, ja. Das war sein unruhiges Blut. Aber ich will davon nichts wissen. Bei mir ist er der Bauunternehmer, der Bauingenieur, der Bauleiter im Wohnungsbaukombinat .. – Für mich war er das und bleibt er das .. – Das ist wichtig für ihn, jetzt, wo’s ihm nicht so gut geht ..

OFF-STIMME JAKOB: Und Großcousin Gerhardt, Mama. Der wollte auch Musiker werden. Der hat in ’ner Band gespielt. Irgendwie muß das in der Familie liegen, das Musik machen. Das ist so ein Talent.

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Ach, Junge, Talent, Talent .. Das ist die eigentliche Ursache für dein Hin und Her .. – Es war ja nicht immer die Musik .. Afrika, erinnerst du dich? Neue Leute, anderes Leben, anderer Himmel, Hochsavanne .. Malinkesprache, Englisch, Französisch .. Du hast nur nicht die Tests bestanden bei dieser Gesellschaft ..

OFF-OFF-STIMME JAKOB: .. für Zusammenarbeit, Mama, Technische Zusammenarbeit

OFF-OFF-STIMME MUTTER: .. ja, bei dieser Gesellschaft .. Du hättest erst studieren müssen .. – Hättst du mal ..  

Led Zeppelin: Stairways to heaven.

JAKOB: Vielleicht sollte ich mich dazu bekennen, was, Sandro? Daß ich gar kein Musiker bin? Daß ich etwas anderes will als die Musik?

SANDRO: Wenn du nicht weißt, was du willst, bleibst du Bruder Namenlos .. Bruder Namenlos sollte sich um einen Namen bemühen .. Jaques? oder John? oder Paul? .. irgendeinen .. – Man kann alles sein.

JAKOB: Ach Sandro ..

SANDRO: Freilich, freilich: Man muß wissen, was der Chef dort oben will von einem.

JAKOB: Achherrje, ich weiß es eben nicht .. – Keine spitze Nase.

SANDRO: Keine spitze Nase?

JAKOB: Da, da drüben .. Die Kleine bei dem Schwarzen auf dem Schoß ..

SANDRO: Joshua ..

JAKOB: Du kennst ihn ah.. Also die Kleine ..

SANDRO: Sehr klein ..

JAKOB: Sehr jung .. sechzehn höchstens .. was denkst du, wenn du das siehst?     f

SANDRO: Schmeißt sich ran. Will es endlich wissen. Will ihn abzocken.

JAKOB: Denkst du?

SANDRO: Denk ich.

JAKOB: Okay, ich auch. Sowas greift zu jedem Mittel. Sowas will nur Geld Geld Geld und dastehn in der Welt und fertig sein und blind sein und bleiben. Wie Gordon: Verkauft seine Musikerseele und meine Band ABFLUSS an den Mainstream .. Rockmusiker! Dem ist es egal inzwischen, was er spielt ..

SANDRO: Du hast von Nasen angefangen, Jakob ..

JAKOB: Ja.. -ihre Nase? Spitz? Rund?

SANDRO: Die da bei Joshua .. ? – Spitz.

JAKOB: Gordons Nase?

SANDRO: Hahaha .. Ist ja rassistisch ..

JAKOB: Ja, so sieht die Welt aus, Sandro: Spitznasen. – Und ich kann nicht leben, wo spitze Nasen sind..

STIMME DES AUTORS: sehr nah, sehr brüchig, sehr alt Was?

Geräusch einer Nachtigall. Mädchenstimmen (Spielende, lachende   

halberwachsene Kinder)

STIMME DER GROSSMUTTER: sehr nah, sehr brüchig, sehr alt

Als Gott der Herr die Welt gemacht,

Hat er die Rassen sich erdacht:

Indianer, Neger und Chinesen

Und Juden auch, die bösen Wesen

Pause. Dann wieder Mädchenstimmen.

STIMME DER GROSSMUTTER: sehr nah, sehr brüchig, sehr alt Zu den Kennzeichen des Leibes will ich rechnen, dass sie in der Bildung ihres Angesichts so formieret, dass der Jud gleich hervor guckt, an der Hakennase. Lippen auch, Augen, auch der Farbe und der ganzen Leibes Positur.

Lange Pause. – Dann: Led Zeppelin: Stairways to heaven.

10

ERIC CLAPTON.- Knock on heavens door.

OFF-STIMME JAKOB: Hier sitzt du, gestikulierst. Hörst dich reden: Ich kann nicht leben, wo spitze Nasen sind, hahaha.. Endlich wird es lustig.

Geräusch der Nachtigall. Mädchenstimmen (Spielende, lachende halberwachsene Kinder)

STIMME DER GROSSMUTTER: sehr nah, sehr brüchig, sehr alt

Als Gott der Herr die Welt gemacht

OFF-STIMME JAKOB: Nein!

Lange Pause. – Dann: Knock on heavens door.

OFF-STIMME JAKOB: Sandro, noch ein Bier, ich hab kein Geld mehr. Nein, du bist noch lange nicht betrunken, auch wenn du weißt, daß jetzt langsam Schluß sein muß. Wegen Annathal morgen. Du kannst nicht leben, wo – jajaja, ich denk‘s nochmal – wo spitze Nasen sind, jawohl .. – Und: Du hast noch von was zu Sandro ….

Geräusch Nachtigall. Mädchenstimmen (Spielende, lachende halberwachsene Kinder)

STIMME DER GROSSMUTTER: sehr nah, sehr brüchig, sehr alt

Als Gott der Herr die Welt gemacht,

Hat er die Rassen sich erdacht:

……………….  die bösen Wesen

STIMME DER GROSSMUTTER: sehr nah, sehr brüchig, sehr alt ….  so formieret, dass der Jud gleich hervor guckt, an der Hakennase.

Lange Pause.

ALLE VIER STIMMEN JAKOB (AUF DER SZENE / OFF- / OFF-OFF- / OFF-OFF-OFF): Ich hab nicht Hakennase gesagt! Und nie! Nie hab ich Hakennase gemeint!

Keine Geräusche, keine Musik. Sehr lange Pause. Es scheint kein Text mehr zu kommen.- Dann, sehr plötzlich: Knock on heavens door.

SANDRO: Was? Hakennase? Nie Hakennase?

JAKOB: Nein.

Pause.

JAKOB: Nichts.

Pause.

JAKOB: Sandro, ich hab noch von was zu reden. Kennst du Juri, Sandro? Juri Vogler?

SANDRO: Nie gehört.

JAKOB: So ein Kleiner, an die Sechzig. Schmales Gesicht, kleiner Mund. Das Haar, schütter, nach hinten gekämmt. Läuft immer in so’nem schwarzen Jackett rum, dunkles T-Shirt drunter.

SANDRO: Genosse Nirgendwo!

JAKOB: Genosse Nirgendw …..? Du kennst ihn!

SANDRO: Ich hab ihn in der „Ilse“ sitzen sehen. Da hatte er `n paar Mädchen von der Medizinischen Fachschule um sich und geredet. Daß jetzt Seen hinkommen überall im Tagebaurevier, `ne richtiggehende Urlaubslandschaft, und arbeiten muß sowieso keiner mehr, wo in der Welt die Automatisation so voranschreitet .. Reich der Freiheit. Ou tópos: Utopie – auf deutsch ..

JAKOB: .: Land Nirgendwo .. – Land, was es nicht gibt. Kann aber gedacht werden .. Exakt seine Rede ..

SANDRO: Die Mädchen sagen, er war Funktionär.

JAKOB: Nee.

SANDRO: Nee?

JAKOB: War er nicht. Ich weiß das. Ich bin fast Freund mit ihm. Er kennt meinen Vater. Die haben Musik zusammen gemacht früher. In einem Kabarett.

SANDRO: Du bist Freund mit dem?

JAKOB: Er kommt von der Klassik .. hat Musik studiert, fünfziger oder sechziger Jahre, Dirigent dann in ’nem kleinen Theater, Thüringen. Zwei, drei Jahre lang .. Hätte weiter machen können, Dresden oder so. Schmeißt aber alles hin, und geht nach Leipzig in eine Gießerei – die Gießerei hatte ein Kabarett, und da hat er meinen Vater Ken­nen­gelernt. Vier Jahre später kommt er hierher nach Großosang in den Tagebau .. !

SANDRO: Was hat der da gemacht? Musik?

JAKOB: Musik machen darf man erst, wenn alle Musik machen können .. Auch seine Rede, früher .. Der hat sich privilegiert gesehen. Ich, hat er gesagt, darf schöpferisch sein – und sie gehen im Joch? Da müssen sie ja werden, was sie sind.- Spitznasen ..

SANDRO: Spitznasen .. ?

JAKOB: Ja, stammt von ihm der Ausdruck.. Steht für habgierig, egoistisch, gefühllos – weil man Freiheit nicht kennenlernen darf ..

SANDRO: Die Freiheit nicht kennenlernen? Wegen der DDR?!

JAKOB: Wegen der Maloche ..           ‚

ERIC CLAPTON.- Knock on heavens door.

JAKOB: Der wollte wo raus, Sandro. Wo raus, wo er mit allen drinsteckte.

SANDRO: Wo raus? – Wo raus denn? – Die Unfreiheit des kapitalistischen Systems, naja .. Da gibt es anderes, was man unfrei nennen könnte ..

JAKOB: Gleise gesäubert hat er dafür. Geschippt und Loren geschoben.

SANDRO: Okay, sind ja auch welche freiwillig aus dem Westen in den Osten damals.

JAKOB: Er hat dann versucht, was zu machen, `n Kammerorchester, nach der Arbeit. Da sind aber keine Bergarbeiter gekommen, sondern Oberschüler und die Frau vom Pfarrer in Großosang. Juri aber blieb eisern. Arbeiter wollte der, und keine Pfarrersfrauen. Also ist er saufen gegangen mit den Kumpels, und wenn sie besoffen waren, haben sie gesungen ..

OFF-STIMME JAKOB:  .. IN EINEM POLENSTÄDTCHEN, haha .. Und das mit Juri! Das ging ihm an die Substanz .. ! .. Hat aber gesehen, daß seine Arbeiter gesungen haben .. Schön gesungen! Daß sie gelebt haben! Daß er dabei war. – Seine Angst, allein zu sein! Da hat er oft davon geredet .. allein sein in einem Orchester, Jakob ..

JAKOB: Und am nächsten Tag, Sandro, hat er bei der Arbeit gesungen .. Hat versucht, die anderen zum Mitsingen zu kriegen ..

OFF-STIMME JAKOB: Aber da war nichts. Da war Arbeit wieder. Und die ist stumm gemacht worden. Mit heruntergelassenem Visier. Die ist absolviert worden. Daß man die Kohle hat, ’nen Fernseher, sein Eisbein am Freitag und Urlaub in Ungarn. So, hat er gesagt, hat er zu den Arbeitern geredet damals.

JAKOB: Aber da war nichts mit Singen, Sandro. Das hat nur einmal geklappt, als sie `ne Strafkompanie hatten aus dem Knast. Politische .. D i e haben gesungen .. Die Gedanken sind frei, hahaha ..

OFF-STIMME JAKOB: Aber da war er auch wieder in der Bredouille; die standen auf der Gegenseite .. – Das hat ihm nicht behagt, Stalinist der er war .. Ja, hat er verteidigt, den Stalinismus .. Das harte Durchgreifen .. Da war er gegen die Natur, gegen seine eigene .. – Hat dann aber doch noch ’nen Chor aufgemacht. Mit z w e i Bergarbeitern .. Und Oberschüler. Und Mädchen, angehende Schwestern aus der medizinischen Fachschule. Mit denen soll er ganz schön .. naja .. – Trotz, daß er so moralisch, daß er parteigläubig war ..

ERIC CLAPTON .- Knock on heavens door.

SANDRO: Ich kenn auch so ein` Sturkopp, Jakob, `n früherer Mitschüler, Mitlehrling von meim` Vater .. jetzt sein Angestellter .. Der hat über sei’m Sofa die Rote Fahne hängen, gekreuzt mit der schwarz-rot-goldnen mit Ährenkranz. – Neunzig, Jakob, zu den ersten freien Wahlen hat er auf seinem Balkon gestanden, und von der Balustrade hingen genau diese Fahnen und die von der FDJ, und vor der Kulisse hat er zu jeder vollen Stunde die DDR-Hymne gesungen! Den ganzen Tag, so lange die Wahllokale geöffnet waren! – Nee, der war nicht dumm, überhaupt nicht, sagt mein Vater, deswegen hat er ihn ja auch übernommen, als keiner ihn mehr wollte, Englisch-Kenntnisse, alles da, der hält jetzt seine Verbindungen in die Staaten. Neenee, der hatte nur ne verkorkste Kindheit, Eltern im DDR-Knast, verschollen .. da haben d i e sich eben gekümmert .. Haben ihn gewendet. – Der anderen Wende, die zu seinen Eltern hin, hat er sich dann verweigert. Ist geblieben, was er sein Leben lang gewesen ist, `n Stalinist, `n Stasi-Mann. Hat sich nicht umstellen, nicht anpassen können .. Naja, ist sein Privatvergnügen, wenn er mitlatscht am 15. Januar zum Grabmal der Sozialisten .. In der Arbeit, wie gesagt, ist er gut ..

11

JANIS JOPLIN. – Me and Bobby McGee.

JAKOB: In der Arbeit ist er gut .. ! Wie du das sagst!

SANDRO: Wie denn?

JAKOB: Als käm’s nur auf das Funktionieren an ..

OFF-STIMME JAKOB: Die Hans-Beimler-Straße in Annathal: Bräunliche Tapete, heller Fleck (da hat das Honecker-Porträt gehangen), vergilbte Gardinen, Sperrholzschreibtische .. – Anita, mit den Kindern unterwegs zu den Großeltern nach Oberstein, reingeschneit in Hans-Christophs Baracke ..

OFF-OFF-STMME MUTTER: .. hier bin ich, Hans-Christoph. Daß ich wenigstens was habe von meinem Mann übers Wochenende! Und die Kinder von ihrem Vater!

OFF-OFF-STIMME VATER: (ungeduldig): Jajajaja, Anita ..

OFF-STIMME JAKOB: Hans-Christoph, Bauleiter im Wohnungskombinat eben noch; vierzigjähriger Erst-Unternehmer jetzt, der Vater – über Bauplänen, über der ich-weiß-nicht-wievielten Ausschreibung, die wieder an ihm vorbeigehen wird, im Zigarettenrauch ..

OFF-OFF-STIMME VATER: .. Grüße an die Oma ..

OFF-OFF-STMME MUTTER: Nein, Hans-Christoph, neinneinnein. Du machst dich kaputt .. Ist es das wert, daß du deine Familie aufs Spiel setzt .. ? Das kann nicht der Preis sein ..

OFF-OFF-STIMME VATER: Anita, hör auf! Was soll ich machen? Mich vor mir selber entschuldigen: Da hab ich Familie und da, und da und da?! .. Ein bißchen Unterstützung, Herrgott, ist das zuviel verlangt? Ich mach es für uns .. ! !

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Für uns? Hier, hier stehen wir!

OFF-OFF-STIMME VATER: Soll ich die Kosten für deinen England-Urlaub in Zukunft vom Sozialamt holen?

OFF-OFF-STIMME MUTTER: England-Urlaub?! Hast du das gehört: England-Urlaub?! Also, das laß ich mir nicht bieten!

OFF-STIMME JAKOB: Abende bald, an denen Hans-Christoph allein das Essen macht, weil Anita auf der Insel weilt .. – Und dann, nach ihren zwölf Wochen, mit Zertifikat, Einskommanull, zurück sein soll – ihr aber, Robert und du, kriegt immer nur Hans-Christoph zu sehen.. der auf dem Balkon sitzt, wenn ihr im Bett seid, mit nicht nur

einer Flasche Rotwein .. Und laute Stimmen in der Früh und Zigarettenqualm und der Geruch nach Alkohol noch vor dem Weckerklingeln. Dann geht er in sein Büro – aus einer Familie, die hoffnungslos ist, in ein Unternehmen, das hoffnungslos ist.

JANIS JOPLIN. – Me and Bobby McGee.

OFF-STIMME JAKOB: Ruhe nach ein paar Wochen, Frieden .. – Ja, Mama, da hast du eingelenkt, hast ihn verlassen, diesen Mr. Kühnelt, Kurskollege, Junggeselle, dessen Alleinsein du genutzt hast, dieser .. – ja, er war sogar bei uns zu Hause – .. etwas langsame Mensch .. – Mama, das hat keiner verstanden…

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Ach Kind, es ist ja alles wieder geworden ..

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Wieder geworden .. ? Zwei Jahre, in denen wir Vater besucht habt in Leipzig .. Ruhiggestellt, wie der Doktor das nannte ..

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Es ist alles wieder in Ordnung gekommen, Jakob .. Er ist gesund ..

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Invalide ist er..

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Weil der Arzt ein Einsehen hatte.. – Das mit der Psychiatrie, Jakob, der Zusammenbruch .. Das war sein Naturell, diese Unentschiedenheit ..  Der wollte nicht selbstständig werden .. Der hat an was gehangen, was vorbei war ..

JANIS JOPLIN.- Me and Bobby McGee.

JAKOB: In der Arbeit ist er gut, Sandro .. ! Was heißt denn gut .. Funktionieren heißt es .. Und wer es nicht kann, der ..

SANDRO: .. der .. ?

JAKOB: Nichts .. – Weißt du, was ich die ganze Zeit denke? Daß ich, was die Musik betrifft, nur eine halbe Portion bin .. ein Halbtalent ..

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Und mein Vater war auch nur ein Halbtalent .. Und deshalb ist er .. hat er dieses Schicksal ..

JANIS JOPLIN. – Me and Bobby McGee.

JAKOB: .. aber irgendwo hat doch jeder, was er richtig kann .. – Was isses bei mir? Was .. ?!

SANDRO: Wenn du’s nicht weißt ..

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Die Musik, die ist nur .. das Abflußrohr.. Wo’s abfließt, wo’s sich äußert .. – Was isses wirklich .. ?! Was .. ?!

OFF-STIMME JAKOB: Du weißt es: Mit diesem Mädchen hat es zu tun .. dieser Anna ..  mit ihrem Gesicht. Da ist so ein Schimmer drin, eine Unentschiedenheit, das ist wie ..  Landschaft ..

SANDRO: Jakob ..

OFF-STIMME VATER: JAKOB: Und Juri .. – Juri, wie du ihn kennengelernt hast, als du vor dem Niedergang in Annathal hierher geflohen bist nach Großosang, Juri, wie er im Deutschen Haus saß unter diesen dicken Gesichtern, diesen Jungunternehmern aus den Gewerbegebieten .. Zerknittertes Gesicht, kariertes Hemd, schwarzes Jackett. Klein, schmal, karorauchend .. Und schwarze Aktentasche mit blecherner Brotbüchse drin ..

OFF-OFF-STIMME JURI: So, mit Brotbüchse und Aktentasche, haben die Arbeiter in den Vorortzügen gesessen, Jakob, in der Morgenkälte, frag deinen Vater .. Massen, die so zur Arbeit gefahren sind; Armeen, Heere, die auf diese Weise in Fabriken und . auf die Schlachtfelder transportiert worden sind, deutsche, englische, russische ..

OFF-STIMME JAKOB: Ja, es hat mit dem Tagebau zu tun .. und mit dem, was Juri dort durchsetzen wollte: Der Friedensfeier … – Ja, `ne Friedensfeier .. `n Event, meinetwegen .. aber nicht für die Schickeria .. – Für alle .. Für Hans-Christoph; für meine Mutter, die Fremdgängerin .. für mich .. Mit allen. Mit allen Halbtalenten .. daß man

trotzdem – oder überhaupt .. – leben kann ..

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JANIS JOPLIN. – Mercedes Benz.

SANDRO: .. Jakob .. ! .. Jakob .. !

JAKOB: Ja?

SANDRO: Wo bist du mit deinen Gedanken?!

JAKOB: Ich hab an Juri gedacht .. – Seine Brotbüchse .. Als Arbeiter läuft der rum .. als überflüssiger Mensch.. Schauspieler eines Schattens, der ihn sein Leben lang verfolgt hat ..

SANDRO: Chacun son goût .. `Ne Performance, nichts weiter ..

JANIS JOPLIN. – Mercedes Benz.

SANDRO: Und du .. ?            _

JAKOB: Und ich .. ?

SANDRO: Wenn du willst .. ich kann dir einen Job verschaffen. Kennst dich ja aus mit IT ..

JAKOB: Einen Job .. Bei dir .. ?

SANDRO: Du sammelst die Bestellungen, leitest sie weiter an unsere Zulieferer ..

JAKOB: .. Bestellungen entgegennehmen .. nach ’ner Pizza oder Hosenträgern oder `nem Nackttänzer .. ?!

SANDRO: War nur’n Angebot.

JAKOB: .. den ganzen Tag vorm Computer .. ? .. einen vollen Tag mit. deinen Immer-gut-drauf-Leuten .. ?

SANDRO: Keine Angst, das sind auch Menschen!

JAKOB: Schauspieler – einer soap entstiegen ..

SANDRO: Sie spielen ein bißchen, ja.. Aber sie meinen, was sie spielen .. Sie sind echt ..

JAKOB: Sozusagen ..

SANDRO: Du bist auf dem falschen Trip, mein Lieber .. Die Welt, die Arbeitswelt, verändert sich .. Nur du .. – du willst für immer Jakob bleiben, gut. – Gehen wir?

(singt – sich entfernende Stimme .. )

Frère Jaques ! Frère Jaques !

dormez-vous, dormez-vous?

Sonnez les matines, sonnez les matines :

din don din, din don din

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JANIS JOPLIN. – Mercedes Benz.

OFF-STIMME JAKOB: Du stehst auch auf .. – Du bist schon ziemlich angegangen. Gehst an den Tischen durch, siehst Gordon hinten von den Toiletten winken ..

OFF-OFF-STIMME JAKOB: Fuck you, Schätzchen ..

OFF-STIMME JAKOB: Nebel, Zigarettenqualm, der Fette mit dem Hund, orangene Haare, Grasgeruch, wo ist die Frau, die Erdnußflips, die hat der Hund gefressen, und über dir das Grubengleis, HUNDERT TONNEN ÜBER DEN PLAN ZU EHREN DES VIII. PARTEITAGES DER SED .. -.. ARBEIT MACHT FREI ..

CINDY: Hey du, Jakob!

JAKOB: Ja?

CINDY: Spielst du gar nicht mehr?

JAKOB: Woher kennst du meinen Namen?

CINDY: Na, du warst doch am Baß bei ABFLUß ..

JAKOB: War ich ..

CINDY: Hast du mich gesehen heute? Auf der Bühne stehen ist so geil!

JAKOB: Klar.

CINDY: Und .. ?

OFF-STIMME JAKOB: Die Verdorbene. Ihr Gesicht. Jetzt will sie hören, daß sie gut war. Lüg einfach, lüg, sag, daß es dir gefallen hat ..

JAKOB: Wie heißt du?

CINDY: Cindy.

JAKOB: Ja, Cindy ..

CINDY: Ja .. ?

JAKOB: Also .. Ich gehe, Cindy .. Ich bin schon nicht mehr nüchtern

CINDY: Aber das macht doch nichts. Das macht gar nichts!

JAKOB: Nee, wirklich ..

CINDY: Na wenn’s denn sein muß .. Hau ab ..

OFF-STIMME JAKOB: HUNDERT TONNEN ÜBER DEN PLAN .. – Das will nicht arbeiten … Das will auch nicht singen .. Das will `ne Playback-Show .. – Wo ist Sandro? Draußen.

Leiser werdende Musik. – Das Geräusch einer Autobahn in der Ferne.

OFF-STIMME JAKOB: Draußen ist es kalt. Wie spät? Halb zwei, oje. Nach Hause.

Stimmen und Musik Manchmal geht eine Tür auf, dann ist die Musik etwas lauter. – Die Autobahn im Hintergrund            

JAKOB: Bist du mit dem Fahrrad, Sandro?

SANDRO: Ja, mit dem Rad.  .

JAKOB: Dann by.    ‚

SANDRO: Ciao.

JAKOB: Hey, wart mal: Das mit dem Job – war ernst gemeint?

SANDRO: Ja ..

JAKOB: Na gut, man weiß ja nie ..

OFF-STIMME JAKOB: Kalte Luft, Geruch nach Schnee, es ist nach Mitternacht. Morgen, wenn du unterwegs bist, wirst du aus dem Abteilfenster auf den grauen Äckern weiße Reste sehen. Schneeglöckchen in den Eisenbahner-, Bergarbeitergärten an der Strecke .. HUNDERT TONNEN ÜBER DEN PLAN ZU EHREN DES VIII. PARTEITAGES DER SED.. – Sandro – er sagt:

SANDRO: Juri .. war in der Partei .. ?

OFF-STIMME JAKOB: Du sagst:

JAKOB: Mein Vater auch ..

OFF-STIMME JAKOB: Du lachst und sagst:

JAKOB: Was ist der Unterschied? Dich gut verkaufen, einer sein, der du eigentlich nicht bist: Das ist heute. Partei – war damals. Du machst, was verlangt wird, wenn du am Leben bleiben willst .. Arbeiter oder Dienstleister, da ist kein Unterschied .. Wahrscheinlich mach ich deinen Job, Sandro .. – Und Sandro:

SANDRO: Ein andermal, Jakob.

JAKOB: Du sagst nicht „Jaques“ zu mir?

SANDRO: Soll ich denn?

OFF-STIMME JAKOB: Und fährt. Du stehst und siehst ihm nach, wie er verschwindet: Klein auf dem Rad vorm Brachland .. dann die Schrebergärten, Mondlicht .. Dort fährt er: Sandro. Klein, die Haare wehen. Hier du .. und gehst und steigst aufs Rad ..

Quietschendes Fahrrad, am Rahmen schleifende Pedalen.

OFF-STIMME JAKOB: .. und hörst – wen?

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Das Fahrradgeräusch während der ganzen Szene im Vordergrund

OFF-OFF-OFF-STIMME JURI: Alleine bist du nichts. Partei, das ist wie in der Musik, wie auf der Bühne. Eines greift ins andere. Transportiert sich. Ensemblespiel. Gemeinschaftsarbeit. Aber nun im Großen, in der Gesellschaft.

OFF-OFF-STIMME VATER: Das ist Juri, Jakob. So hat er geredet damals, als er aus Altenberg kam und der Star war bei uns, den Angepaßten .. Ja, der hat den Laden hochgebracht .. Eisler-Melodien, Kurt Weil .. Mit neuen Texten, in denen wir unserem Namen alle Ehre machten: Die Angepaßten. Das gefiel nicht jedem .. – Juri war mein Lehrer. Er zog mit mir durch Leipzig, das zerfiel. Durch die ruinierten Viertel .. Einmal an der Thälmannstraße, Ostvorstadt, zeigt er auf eine leergezogene Häuserzeile:

OFF-OFF-OFF-STIMME JURI: Das wird nur bewohnbar wieder, wenn der Bauarbeiter, wenn jeder Abteilungsleiter, Lust hat, Leidenschaft entwickelt, so schöne Häuser wieder herzurichten .. Stell dir vor, wie schön das Haus dann wird. Anders schön als nur gebaut um Geld damit zu machen ..

OFF-OFF-STIMME VATER: Ich hab dazu genickt ..

OFF-OFF-OFF-STIMME JURI: Aber nun im Großen, in der Gesellschaft, Hans-Christoph .. Der Aufnahmeantrag, hier ist er ..

Das Fahrradgeräusch. Dann:

OFF-OFF-STIMME VATER: M e i n Vater, Jakob, dein Großvater Hermann. Vier Jahre hat der gesessen in der Steppe, hinterm Don, im Kriegsgefangenenlager in der Ukraine. Und als er raus war und noch lebte, hat er Gott gedankt. Und nicht nur einmal. Der lebte nun mit Gott. Unauffällig auf seinem Stellwerk. Gebt des Staates, was des Staates: Das war sein Schweigen. Und Gott, was Gott gehört: Das war der Tag, das war die Pflicht, das war der Himmel und die Berge, die er sah von seinem Stellwerk. Und saß auf seinem Stellwerk unter seinem Himmel und wußte nicht, daß ich bei denen war inzwischen, die ihm den Mund zuhielten .. Eines Tages bin ich hin zu ihm.

Von Chemnitz mit dem Zug nach Oberstein. `N schöner Tag, Juni. Viel Farbe überm Land, das sanft sich hob und wieder senkte unterm Abend. Ich hörte sein Warum. Weil du durch solches Land gefahren bist, hörte ich mich sagen, in Uniform. Weil ihr, weil wir noch, die kleinen Leute aus der Gegend hier, transportiert in Zügen, in die

Arbeitsstätten einziehn wie in Kasernen. Er saß vorm Fernsehapparat. Er hat es nicht verstanden. Deine Oma hat dann übersetzt. Da saß er. Kam langsam hoch, und griff – ich seh das Zittern seiner Hand noch heute – nach der Zigarettenschachtel auf dem Apparat. Er war aschfahl. Er sah mich an, ich war für ihn ab jetzt ein Fremder.

Näherkommendes Auto.

OFF-STIMME JAKOB: Du fährst und lachst und bist, jaja, gerührt .. – Links die Straße. Rechts Schrebergärten, hoch oben über Lauben, im Mondlicht, weht die Flagge von Amerika.

Vorbeifahrendes Auto.

OFF-STIMME JAKOB: Und willst noch nicht nach Hause und überquerst deshalb – Nebel unterm Mond, der schwindet – die Straße und hörst – wessen? – Stimmen:

15

Quietschendes Fahrrad, am Rahmen schleifende Pedalen.

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Ich weiß nicht, wie deine Mutter sich das gedacht hat mit dem Fünfzigsten von deinem Vater, Jakob, aber daß sie bis einen Tag vor dem Fest da in Marienbad bleiben muß ..

OFF-OFF-STIMME MUTTER: Mutter! Es ist das Abschlußexamen.. Ja, ganz recht, am Gründonnerstag .. ! – Nein, ich kann es nicht später ablegen. Weil ich nämlich genau am 1. Mai den Tschechisch-Unterricht übernehmen muß. – Ja, Tschechisch .. wegen der Regionen, der EU .. Was soll ich denn machen, wenn sie für Englisch jetzt jüngere haben?

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Deine Mutter! So redet sie! Gibt nie auf, – Dein Vater selber kümmert sich um nichts .. – Wie ich neulich rübergefahren bin nach Annathal mit dem Zug – wer sitzt da auf der Bank?

OFF-OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Nu, sag mal .. am hellichten Vormittag ..

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: .. und ich merk gleich, daß das ein Fehler war, wo er ohne Arbeit ist, aber er ..

OFF-OFF-OFF-STIMME VATER: Ich hör denen da zu, das tut gut ..

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Und zeigt auf drei, vier Leute auf dem Bahnsteig, Araber oder Iraker, aus dem Asylbewerberheim, haben ja nichts zu tun, die armen Hunde .. – Und ich:

OFF-OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: So – kommst dir wohl vor wie in der Fremde unter all dem ausländischen Geschnatter?

OFF-OFF-OFF-STIMME VATER: Ja.

OFF-OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Reden die auch mal mit dir, oder du mit denen

OFF-OFF-OFF-STIMME VATER: Wie denn ..

OFF-OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Na, wie deine Frau, die lernt Sprachen.

OFF-OFF-OFF-STIMME VATER: Ja, die .. !

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Und sagt dann nichts mehr. Sitz da, groß und dick. Dick ist ja gar kein Ausdruck. Na, denk ich, er wird mit dem Auto da sein, da kann er mich mit rausnehmen .. Nichts. Sitzt da. Und ich:

OFF-OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Siehst aus, wie der Runde Mann ..

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Da lacht er.

OFF-OFF-OFF-STIMME VATER: Der Runde Mann ..

OFF-OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Sieht man immer noch, wenn man in Oberstein ist, Hans-Christoph. Sieht man wie in deiner Kindheit von meinem Schlafzimmerfenster aus. Ist der größte Berg dort ..        ,

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Und dann sag ich noch ..

OFF-OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: .. Du wolltest ja immer weg von uns .. Auch innerlich .. Nun hat dich das wieder eingeholt.

OFF-OFF-OFF-STIMME VATER: Ja ..

OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: .. sagt er, und geht zum Auto, und dann sind wir hinaufgefahren auf den Steinwiesener Hang, und ich hab an die Männer aus meinem Jahrgang denken müssen, die ich alle hab alt werden und wegsterben sehen, und hab das gesagt zu deinem Vater ..

OFF- OFF-OFF-STIMME OMA BETTINA: Eben noch, Hans-Christoph, sind wir zusammen in die Schule gegangen … Und dann ist der Krieg gekommen, und auf einmal waren die, die zurückgekommen sind, alt und haben auf den Bänken gesessen im Stadtpark und vor dem Bahnhof .. Da waren sie wie Leder oder wie altes Holz, und dann sind sie gestorben, und da waren sie Erde und haben ihren Stein gekriegt ..

OFF-OFF-OFF-STIMME VATER: Und somit war aus ihnen geworden, womit es angefangen hat .. Landschaft, Mutter ..

Quietschendes Fahrrad.

OFF-OFF-OFF-STIMME: VATER: Der Himmel drüber aber bleibt sich immer gleich.

16

Das Fahrrad.  – In der Ferne Autobahngeräusche.

OFF- / OFF-OFF- / OFF-OFF-OFF-STIMME JAKOB: Wir fahren. Nachthelle, März. Über uns, Hans-Christoph, weht dein Himmel. Hier Brachland wieder, die Lauben hinter uns. Jetzt kommt die SONNE, ein Schiff am Grund der Nacht, vor 50 Jahren ausgelaufen. Nun in den Sand gesetzt. Portale, Brücken, noch immer rußgeschwärzt. Der Schorn­stein – erigierter Leichenfinger. Brikettfabrikruine. Die Gleise, Öltanks hinter Maschendraht, verrottet. Wir fahren – links der Abgrund, Juris alter Tagebau – und denken uns ein Schild: 20 km bis Leskien, wo es eine Anna gibt mit vielen. Und neues Leben. Wir aber fahren, fahrn noch lange .. am Rand der Wüste.

Die Autobahngeräusche werden schwächer.

Wir fragen … nein, wir sagen, dass es ausgesprochen werden muss: Wir, wir alle sind, was die Musik, was Klangwelt anbetrifft, nicht richtig kompetent. Nicht jene .. Einsamen, die machen, weil sie machen müssen. Wir – sind Halbtalente .. Zukunft! Wir …

Ein Vogel schlägt.

.. wollen nicht einsam sein.

Nur noch das Fahrrad.

Haben wir … Brauchen wir denn, was wir richtig können?

Das Quietschen lässt nach; es wird nicht mehr in die Pedalen getreten.

Der Vater, was konnte, was kann er?

Bremsendes Fahrrad. Stille.

Falsche Frage. Er ist da. Er hat gelebt. Es gibt ihn. Wir sind alle da! Es gibt uns! Halbtalente! Überall! Unser  Globus – er ist voll davon!

Schritte.

Es gibt uns. Überall ….

Geräusch des Urinierens