Deutsches Museum

Deutsches Museum (1998)

Frauenstimme im off.

… mit einem großen Loch in der Mitte. Und dann bin ich die Treppen hoch mit mei­ner Einkaufstasche und stand hier und hab mich umgeschaut in unserer Wohnstu­be, und es war alles, wie ich es immer wollte: An seinem Platz. Wie ich es in St. Ja­kob im Sei­del­schen Haus gelernt und ein Leben lang gehalten habe, Stunde um Stunde, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Neunundzwanzigtausend Abende, sechshundert­tausend Stunden. Und dann wieder aufstehn. In St. Jakob in der Küche hing neben der Tür der Neu­kirchner Christ­liche Abreiß­ka­len­der. War das Blättchen abgerissen, war der Tag absolviert. Das war der Grund, Baldur, weshalb der Va­ter, dein Großva­ter, es immer erst im Nacht­hemd las. Da­nach kam er her­über, ließ sich auf den Rüc­ken fal­len, fal­tete die Hän­­de über der Brust  und be­weg­te die Lip­pen. Da ging er den Tag durch. Da hat er aufge­räumt in sei­nem In­­nern, so wie die Mut­­ter die Küche auf­ge­räumt hat vorher. Da­nach war Stille. Wenn wir wie­der aufstan­den in der Frühe, lag das Blättchen noch auf dem Ver­­tiko. Die Mut­ter nahm es und schloß es in den Schrank zu den ande­ren Blätt­chen. Da sam­melte sich das Jahr. Be­vor wir aus dem Haus gingen, mußte Ord­nung sein. Je­den früh wur­de die Stube gekehrt und ge­wischt, und Boh­nern sonn­abends. Und auf dem Büfett durf­­te nichts stehen als die Brotkapsel. Die Frän­zi, bei der wir im Haus wohn­ten, konn­­te meine Mutter nicht leiden. Wenn der Heinrich nicht ge­kom­men wär, damals als der Os­kar beim Mi­litär war in Metz, hätte der die nie ge­nom­men. Der hätte andere haben kön­nen, wo er doch bei der Bahn war. Wo er doch kö­niglich-sächsi­scher Be­am­ter war. Da­mals aber war er ja noch in der Pa­piermühle. Die Fränzi, das war die Fa­mi­lie der Schwe­ster des Va­ters. Vor der hat die Mut­­ter sich ge­­­fürchtet. Der Mann war Ver­­­wal­ter auf dem Spei­cher in Grünhei­ners­­­­dorf, und sie konn­te keine Kinder krie­gen, wes­halb sie rumge­kom­men sind in der Welt, bis Chemnitz. Wenn wir zu­rückka­men vom Feld, ging es im Haus weiter. Vor meiner Geburt ist mei­­ne Mutter um die Zeit wi­sch­en ge­gangen beim Verleger, Albert & Veit. Aber nach­dem der Vater bei der Bahn war, ging das nicht mehr. Das wäre nicht stan­desge­mäß gewesen. Er war ja da Be­am­ter bei der Bahn. Da haben sie den Gürtel enger schnallen müs­sen, denn mehr ver­dient hat der Vater nicht als Gleis­­­bau­er. Wenn wir zu­rück wa­ren vom Feld, hab ich etwas spielen können. Ich hab von den Großeltern ei­ne Pup­pe ge­habt. Der Großvater war auch bei der Bahn. Hat an der Bahnhofs­sperre ge­standen in Braunsdorf-Langen­fels und hat ei­nen ge­zwirbel­ten Bart gehabt wie der Kaiser frü­her. Die Puppe ist aus Por­zel­lan gewe­sen und hat Beine ge­habt zum Biegen. Der hab ich die Kleider gewa­schen und sie zum Bleichen ausge­legt ne­ben den Hasen­ställen. Aber wo das Haus war, hat nie die Sonne geschie­nen. Die Mutter, deine Großmutter, hätte es am lieb­sten ge­habt, wenn sie hätte in der Stube auf einem Stuhl sit­zen können und um sie herum wäre nichts gewe­sen. Das ging aber nur am Sonntag. Sonntag, das ist Sonne. Die frü­heste Erinnerung. Da sitze ich allein in unserer Wohn­stube und rühre mich nicht vom Fleck. Da waren sie in der Kirche. Die Wohnstube war die Woche über ver­schlos­sen. Da war die Ewig­keit drin einge­sperrt, Ordnung und Stille. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu ei­nem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Die Mutter wollte keinen Besuch, auch nicht am Sonntag. Frü­her, wenn sich je­mand nä­herte über den Steg vorm Erz­bächl, ver­schwand sie ein­fach. Wir muß­ten dann sa­gen, sie ist Schu­he aus­tragen. Mein Vater reparierte Schu­he, wenn er zu­rück war vom Gleisbau. In Wirk­lich­keit aber war meine Mutter auf dem Abort, der im Haus war bei uns. Später ist dann fast kein Be­such mehr gekommen. Das war ihr recht. Sie woll­te nicht, daß jemand sah, wie es zu­ging bei uns. Dabei war es nicht an­ders als bei den an­deren. Aber man rede­te im Dorf. Daß der Os­kar die Un­ger-Ella nie genommen hätte, wenn nicht der Hein­rich da gewesen wä­re, als er beim Militär war in Metz. Er war da Bursche bei ei­nem Offizier, dem hat er die Stiefel wichsen müssen und den Drillich schrubben. Nämlich wenn sie hinausgingen ins Feld, war der Drillich weiß, aber wenn sie zu­rückkamen, war er schwarz. Da kannst du mal sehen. Zwei Jahre hat die Mutter zu­bringen müs­sen mit dem kleinen Heinrich, ehe sie hat heiraten kön­­­nen. Da hat sie nur ihn gehabt, und da ist er ein Ma­ma-Kind gewor­den. In der Zeit hat sie sich nicht aus dem Haus ge­traut. Wenn sie über die Stra­ße ging, hielt sie beide Unter­arme über der Schürze, die Hände fest auf­einan­der­ge­preßt. Gehen tat sie ge­krümmt, den Blick auf dem Bo­den. Im Arm hing die Ein­kaufs­ta­sche, und in der Ta­sche war der Milch­krug. Das war sonn­abends. Da ging sie zum Bauer Kuh­milch ho­len. Sie hätte auch nur mit dem Krug ge­hen kön­nen, aber dann hätten die Leute ge­wußt, daß sie Kuh­milch holte. Das war ihr nicht recht, daß die Leute ihr hin­eingucken konnten in die Wirt­schaft. Das war eben die Zeit, die sie hat mit dem ledi­gen Kind zu­bringen müs­sen. Da hat sie ge­wußt, daß in ihr drinnen die Sünde sitzt, und daß die Leu­te be­gierig sind auf die Sün­derin. Da hat sie nieman­den mehr hinein­gucken lassen wollen in sich. Deshalb auch hat sie es am liebsten gehabt, wenn alle draußen waren sonn­tags und sie hat al­lein in der Stube auf ihrem Stuhl sit­zen können. Da ist es schon wie vor­bei ge­we­sen, das Es­sen kochen und das auf den Acker gehen und das die Wä­sche ma­chen und der Streit mit dem Vater, wenn sie ihm wieder und wieder hat vor­werfen müssen, daß es un­recht war damals nach dem Tanz in der Tanne, als er ja ge­wußt hat, daß er zum Mili­tär muß. Das hab ich gehört drau­ßen, wenn ich mit der Pup­pe ge­spielt hab. Der hab ich die Klei­der ge­wa­schen auf dem Schrubbrett und durch die Rolle ge­dreht und sie zum Bleichen ausge­legt ne­ben den Ha­senstäl­len. Das ist die beste Zeit ge­we­sen, denn ich hab auf dem Hang ge­sessen unter den Obstbäu­men und hab den Blick gehabt hin­unter ins Flö­hatal. Das war die Erholung. Das war der Aus­lauf aus den 4 x 6 Me­tern, die die Küche ge­habt hat im Seidelschen Haus. Da ha­ben wir Draht­bürsten her­gestellt in Heim­arbeit. Wir haben auf Hockern ge­sessen vor ei­ner Vorrich­tung, in die ha­ben wir den Draht kreuzweise einschie­ben müs­sen. Auf dem Hang dann unter den Obst­bäu­men bin ich für mich ge­we­sen. Der Hein­rich, der hat das nicht ge­konnt, der war zapp­lig. Der hat das nicht ausge­halten, wenn wir den Draht ein­schieben mußten in die Bür­stenachse. Sechs Stun­den in der Schulbank, da­nach vier Stunden auf dem Schemel und mit öli­gen Fin­gern. Da hat er sich in die Ho­se ge­grif­fen. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu ei­nem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Die Mutter hat ihm eine Ohr­feige ge­geben, aber der Va­ter hat ihn richtig verhau­en, als er das mit­ge­kriegt hat, daß er beim Bür­stenmachen rum­spielt an sich. Wenn der Va­ter den Och­senziemer raus­holte, schloß die Mutter die Fenster. Oft hat ja der Hein­rich die Dummheiten ge­macht, aber ich hab die Dre­sche gleich mitge­kriegt. Ich hab nicht ge­schrieen, ich hab das ertra­gen. Aber der Heinrich hat geschrien wie am Spieß. Ich hab mich ge­schämt für ihn, so ein Ge­schrei. Das hat den Vater noch mehr in Wut ver­setzt, daß man das ge­hört hat drau­ßen. Da hat er noch mehr zugeschlagen. Da hat er sich nicht lei­den kön­nen. Die anderen Kin­der wurden auch ge­schlagen. Schlimm war, ins Haus oder auf die Straße zu gehen, wenn es Dre­sche gegeben hatte. Mit dem Gesicht, das ich der Mut­ter abge­guckt hab, hat sich aber keiner getraut mich anzu­spre­chen. Auch nicht die Frän­­zi. Aber die hat einen so ange­guckt. Bloß, die hatte ja keine Kin­der. Die hat das ja nicht ge­kannt, die Angst um das eigen Fleisch und Blut, daß es auf die falsche Bahn kommt. Als ich grö­ßer wurde, hat der Vater mich nicht mehr ge­straft, und nicht mehr ange­guckt. Da ging er in den Schup­pen, wenn Ba­detag war. Und der Heinrich mußte mit und der Her­mann. Wenn ich im Bett lag, ka­men sie wie­der her­ein. Dann wurden die Brü­der ge­schrubbt. Später muß­ten sie es al­leine tun. Da hab ich sie gehört in der Kü­che. Da war ich in mei­nem Bett in der Ab­ge­schieden­heit und draußen war der Hang. Da ist der Wind den Berg runterge­fah­ren. Das war mir das liebste. Da hab ich an Gott gedacht. Der war wie Wind und Stille, ein stren­ger Vater. Und das man ein­mal sterben muß, hab ich gedacht. Da hab ich an un­sere Wohnstube gedacht und keine Angst davor ge­habt. – Schritte im Treppenhaus. Beschleunigter Atem im Vordergrund. Wer drau­ßen die Treppe hochsteigt, bleibt stehen. Angehaltener Atem. Die Schrit­te entfernen sich. – Wieder einsetzender Atem, der sich allmählich be­ruhigt. – Angst hab ich gehabt, als der Krieg aus­brach. Da zo­gen die Män­­ner mit Musik die Dorf­straße hin­unter zum Bahn­hof. Zu­erst spielte sich das für uns vor dem Fenster ab. Die anderen Kinder stan­den am Stra­ßen­rand und war­fen Blumen zwi­schen die Solda­ten. Die Mut­ter hatte keine Lust zu dem Tr­ara, aber als sie sah, daß das ganze Dorf drau­ßen war, holte sie die gu­ten Sa­chen raus. Der Vater war auch da, also war Sonn­tag. Es war eine Begei­sterung, aber er war froh, daß er nicht mit mußte. Er war u.k. geschrie­ben, weil er bei der Bahn war. Da mußte er sich kein schlechtes Ge­wissen machen, denn daß er nicht mit­ging, ge­schah nach dem Wil­len der Obrigkeit. Die Schuh­knechts waren nie für Abwechs­lung. Nie. Alle nicht. Dar­über, daß der Vater nicht mit mußte, hätte auch die Mutter froh sein müssen. Die hatte noch die Zeit in den Knochen, als sie den Heinrich klein hatte, und der Vater in Metz war beim Mili­tär und kei­nen Ur­laub kriegte. Da ha­ben sie sich im Dorf das Maul zer­ris­sen. Aber sie war nicht froh. Sie war im Le­ben nie froh. Die Ar­beit immer, das Aus­kommen und daß man sich nichts zu­schulden kom­men läßt. Und dann hat sie die Män­­­­­­­­­ner ge­sehen, in ihrem Staat, in den Uniformen auf der Dorfstra­ße, und hat die Mu­sik gehört. Das war ein Fest für sie, ein Ereignis in ih­rem Leben. Da weiß ich noch, wie sie gestrahlt hat. So kannte ich sie gar nicht. Da war ich vier. Da war sie froh, daß sie sich hat über­reden lassen. Aber der Oskar, dein Opa, hat Futter gehauen hin­ter dem Haus. Und sie hat an der Straße ge­standen mit uns in unse­rem Sonntags­staat und hat an die Päck­chen den­ken müssen, die die anderen krie­gen wür­den aus Frank­reich und aus Ruß­land. Je­denfalls hat sie da­von ge­spro­chen, später, wie die an­de­ren das gekriegt haben. Aber von den Päckchen hat bald keiner mehr ge­redet, son­dern von den Gefal­lenen. Aus der Un­ger­schen Ver­wandtschaft sind einige umge­kom­men, ich weiß nicht mehr alle, aber der Fritz war dabei, der Bruder von der Mut­ter. Seinen Na­men kannst du lesen an der Kir­che, wenn du nach St. Jakob kommst. Aber du wirst nicht hin kommen, denn du bleibst hier und führst dein Stunden­buch. Trägst deinen Blutdruck ein, das Gewicht und die Blutzuckerwerte. Und hast recht damit, denn die Ge­sund­heit, das wollen die Leute. Die Gesundheit, das ist die Vorausset­zung, um seine Pflicht zu erfüllen. Dazu muß man bereit sein, auch wenn sie nicht ruft. An einen kann ich mich erinnern, Bal­dur, den Weiß­bach-Ge­org. So ein Langer, der einen nicht ange­guckt hat. Der ist spa­zieren ge­gangen, um die Kir­che herum und über den Fried­hof, die Hände auf dem Rüc­ken, und hat vor sich hinge­brabbelt. Von dem haben sie er­zählt, daß er nichts es­sen kann. Den hat eine Gra­nate weggeschleu­dert bei Sedan, und er ist gelan­det in ei­nem, dem hatte es den Bauch auf­gerissen. Und da hat er im­mer den Geruch gehabt von dem sei­nen Ein­ge­weiden und hat nichts mehr essen kön­nen. Da hat der Seidel seine Witze gemacht. Da hat er ge­sagt, daß es das beste ist für ei­nen, wenn er nichts essen kann, wo es sowieso nichts zu bei­ßen gibt. Denn daß man was beißen muß, ist es, was einen zum Vieh macht und die Welt zu ei­nem Schlacht­­haus. Der Sei­del ist auch nicht im Krieg ge­we­sen. Wie der Vater. Da ha­ben sie gesagt im Dorf im Seidel­schen Haus sitzt die Etap­pe. Das ist der Mutter nicht recht gewe­sen, daß sie das gesagt haben. Das hat sie nicht hö­ren wollen. Nach dem Krieg ist der Va­ter Rot­ten­mei­ster ge­wor­den beim Gleisbau. Auch weil er sich or­dent­lich ver­hal­­ten hat über die Re­voluti­on. Da hat ihm der Vor­steher ge­sagt, daß Verlaß ist auf ihn. Und er hat es der Mutter gesagt am Kü­chen­tisch, als sie ihm in den Oh­ren gele­gen hat, daß es hinten und vorne nicht reicht. Da haben wir wo­chen­lang He­ring geges­sen und ge­koch­te Kartoffeln da­zu. Da hat er ge­sagt, daß, wenn es besser wird draußen, es auch bei uns besser geht. Wenn er nur bleibt in der Bahn­mei­ste­rei. Da hatte er schlim­­­me Zeiten durch. Die Knoch­enarbeit als Handlanger auf der Strecke, und drei Kinder zu Hause. Das war am Anfang und da­nach war es lange auch nicht besser. Das hat ihm die Mut­ter zum Vor­wurf ge­macht, als sie gese­hen hat, daß der Seidel, ihr Schwa­­ger, im­mer höher hinauf­gestie­gen ist im Grünheinersdorfer Spei­cher. Der hat ja als Arbei­ter ange­fan­gen und ist dann Vorarbei­ter ge­worden und dann Ver­wal­ter. Beim Vater haben sie erst später ge­sehen, was sie ha­ben an ihm. In St. Ja­kob war mit der Revo­lu­tion nichts, aber in Chem­nitz. Mit dem Gleis­bau sind sie ja rumge­kommen. Da ha­ben sie alles mit­ge­kriegt, in Chem­nitz, wo sie auf dem Thea­terplatz ei­nen Aufruhr ge­­macht haben und die rote Flagge gehißt. Das hat der Seidel erzählt, der bei den So­zi­al­demokraten war, der Vater nicht. Da ha­ben sich welche heiß ma­chen las­­sen. Es gab auch Kriegs­ge­­fan­ge­ne, die beim Gleisbau ar­beite­ten. Fran­zosen meist, und Polen, oder Ukrai­ner, von de­nen er einen, einen Aufwieg­ler, an die Feldjä­ger über­­ge­ben hat, als die Revo­lu­tion kam. Der Mann hat bei ihm gear­bei­tet, und ist da­beigewesen als sie die Reichs­­wehr entwaffnet haben auf dem Haupt­bahnhof drinne. Aber hier bei uns und in Flöha hat die Ord­nung noch funk­tio­niert. Da haben sie ihm zu­gesetzt. Und dann sind sie ge­kom­men und da hat er ihn vortreten las­sen müssen. Da war er in ei­ner Zwangs­la­ge, wie auch mit dem Leder­schild der Os­wald später. Aber viel­leicht hätte der Vater, dein Großvater im Bahnhof, die Mutter nie ge­hei­ratet, wenn sie nicht diese Zeit, 1901 bis 1903, hätte durch­ma­chen müssen wegen ihm. Das ist sei­ne Sünde ge­wesen da­mals, denn er hat ja ge­wußt, daß er zum Militär muß, als er nach dem Tanz über den Eppen­dorfer Hang ge­gangen ist mit der Mutter. Da war er acht­zehn. Seinen Kin­dern hat er das nicht ge­sagt, daß er ein Sünder ist, der Mutter auch nicht in unse­rem Bei­sein. Aber die hat es ge­sagt zu ihm. Daß er es selbst gesagt hat. Daß er der Sünder ge­wesen ist. Sie hat ja nicht ge­wußt, wie ihr ge­schieht. Also hat er das ab­die­nen müs­sen. Das ist aber nach seinem Willen gewesen. Im­mer, so wie ich ihn kenne, hat er sich an Gott gehal­ten und an die Bibel. Er hatte ja die Kriegsge­fang­enen unter sich beim Gleis­­­bau. Fran­zosen meist, und die­sen Ukrai­ner. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Je­mand geht zu ei­nem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Also, dein Groß­­vater hat nichts dafür gekonnt mit dem Ukrainer. Der kleine Mann muß seine Ar­beit machen und sehn, daß er recht­schaf­fen bleibt. Der Os­wald, was mein Mann war spä­ter und dein Vater, hat da an­ders ge­dacht. Eine Zeit­lang. Ich hab dazu ge­schwie­gen. Er hat ja dann auch Schwie­rigkei­ten gehabt. Da war er drin in der Politik und hat, um das wie­der gutzumachen, weiter mitmachen müssen. Nun aber an­ders­rum. Der Va­ter, nach dem Krieg, ist deut­schna­tional ge­wesen. Später hat ihn der Her­mann oft ge­fragt, wo der Kaiser nun ist. In Holland, hat er geant­wortet, weil er hier kein Zu­hause mehr hat. Ich war noch klein damals, da hat mich der König in­ter­essiert. Der hat ge­sagt macht eu­ern Dreck alleene. Und hat dann für die Familie ge­lebt. Nichts mehr mit Po­litik. Hat sein Geld verwaltet, das war sein Beruf. Einen Be­ruf muß der Mann ha­ben. Wenn es nicht so ist, leidet man. Als Mutter. Der Hein­rich, der das ja schon mit­erlebt hat, hat den Vater nie ge­fragt. Der saß bei seiner Ma­ma in der Küche, wenn er zu­rück war von Ar­beit, und hat zugeguckt, wie sie den Aufwasch gemacht hat. Da ha­ben sie ge­redet, welche Frau er nehmen kann. Aber sie haben nur ge­redet. Es ist nichts ge­worden, denn er ist aus der Küche nicht rausgegan­gen. Dem Vater ist das nicht recht gewesen, aber er hat nichts sagen können. Da hätte ihm die Mutter gleich seine Sünde vor Au­gen gehalten. Aber in der Küche hat nichts passieren können. Das war nach dem Krieg. Da hatten wir nichts als die Sau­berkeit. Zu essen fast nichts. In der Schule gab es Quäker­spei­se, Brötchen und Ka­kao. Das wurde mit einem Auto ge­bracht, das kam aus Amerika. Der Hermann kam jeden Tag heulend nach Hause, weil er nichts ab­­kriegte von der Quä­kerspeise. Er sah zu kräftig aus. Das war aber nur die Konstitu­tion. Später ist er ja Athlet geworden. Hand­baller, bevor er zur Wehr­macht ging. Da­mals aber hat er die Kartoffel­schalen aus den Ha­sen­näpfen ge­fres­sen. Ich hab schon fast die Kon­fir­ma­tion gehabt, als es die Quä­ker­speise gab. Die gab es nur für die Klei­nen. Der Heinrich war nicht mehr in der Schu­le, der war schon mit beim Gleis­­bau. Der ist zuhause ver­pflegt wor­den wie der Va­ter. Weil er ein Er­nährer war. Daß der Vater mit der Sünde zum Schwei­gen gebracht wurde, fand ich ge­recht. Ich hab nie rumlau­fen müs­sen zum Ge­spött der Leute. Als der Heinrich zum Gleisbau kam, bin ich noch in die Schule ge­gangen. In den ersten Jahren, bis zur sech­sten Klasse, wa­ren wir nur Mäd­chen. Die Jun­gen hatten ihren Raum im Erdge­schoß, erstes bis vier­tes Jahr. Nach­dem der Krieg vorbei war, wur­den die Klassen gemischt. In der Pause, wenn wir rum­ge­gan­gen sind, ist im­mer die Toch­ter von dem Lehrer ne­ben mir gelau­fen. Ihr Vater war der Kantor und mei­ner war bei der Bahn. Die Eltern der mei­sten anderen Kinder haben Spielzeug ge­macht. Das war Verlegerar­beit. Die haben das zu Hause ge­macht und in das Kontor geschafft zu Al­bert & Veit. Die hatten alle we­niger als wir. Einmal hat mich das Mäd­chen, die Leh­rerstochter, zu sich nach Hause einge­la­den. Ich wollte nicht hingehen, aber die Mut­ter hat mir zuge­redet. Da habe ich mein Sonn­tagskleid ange­zogen und habe unten an der Kantorei ge­schellt, und mir hat das Herz ge­klopft. Oben dann muß­ten wir uns um den Wohnstu­bentisch setzen, und es wur­de über Erd­kun­de ge­spro­chen und Ge­schich­te, und ich ha­be ge­merkt, wie der Kantor Seyfert auf­gepaßt hat, daß sie mehr weiß als ich. Das war keine Freundschaft. Das war nur, weil sie ne­ben mich ge­setzt worden ist und da hat sie eben auch mit mir laufen müssen in der Hofpause. Und da hat sie ge­sagt, daß uns ein Ge­heim­nis verbin­det. Die Ge­schich­te, die sie mir erzählt hat, hab ich nie vorher und auch nachher nie wieder gehört. In un­­serer Verwandt­schaft wurde das nicht be­rührt. Aber im Dorf – ich will gar nicht wis­sen, wie oft sie sich das zuge­tý­schelt ha­ben. – Schritte im Treppenhaus. Beschleunigter Atem im Vorder­grund. Wer drau­ßen die Treppe hochsteigt, bleibt stehen. Angehaltener Atem. Die Schritte entfernen sich. – Wieder einsetzender Atem, der sich allmählich be­ruhigt. – Ob ich Dienst­mädchen war, hast du mal ge­fragt, als du klein warst. Nein, ich war auf der Haus­wirt­schaf­ts­schule. Ich war Hauswirt­schafterin. Habe den Fabrikanten die Wirt­­schaft ge­führt. Nach einem Dienst­mädchen hätte der Os­wald sich nicht umge­guckt. Nicht we­gen dem Heira­ten. Sonst vielleicht schon. Aber da­von hab ich nie wis­sen dürfen. Wie von der Ge­schich­te, die mir die Lehrer­s­tochter er­zählt hat. Die Groß­mutter von der ist mit dem Groß­va­ter ge­gangen. Mit Opa Louis in Brauns­dorf. Der war, vor dem Deutsch-Französi­schen Krieg, Tagelöhner auf dem Gut in Stein­feld-Ma­rienthal. Spä­ter ist er Vorarbeiter ge­worden und dann Ver­wal­ter und von da zur Bahn. Damals aber Tagelöh­ner. Da hat er das verges­sen, daß ei­ne Lehrer­tochter nichts für ihn ist. Die sollte einen hei­raten in Langenfels. Sohn von dem Verle­ger dort. Hat aber den Groß­vater im Sinn gehabt und nicht aufge­hört an ihn zu den­ken. Viel­leicht war er auch schon Vor­ar­beiter. Wäh­rend­dessen betrieb ihre Ver­wandt­schaft das mit dem in Langenfels. Und sie hat nicht ge­wußt, was sie ma­chen soll. Hat sich bis zum Al­tar nicht entscheiden kön­nen. Dort hat sie sich dann ent­schie­den. Als sie vor dem Pfar­rer stand mit dem von Langenfels, ih­rem Bräutigam. Da hat sie nein ge­sagt. Ich möcht nicht wissen, wie die vom Altar ge­kom­men ist. Und das Ge­­re­de nach­her – nicht nur in St. Ja­kob. Und der Großvater mußte zum Gutsbesit­zer. Der hat ihm ins Gewis­sen ge­redet und da hat der Großvater endlich ein­ge­se­hen, daß das nicht der Weg ist. Die Lehrerstochter, die Großmut­ter meiner Mit­schü­lerin, hat spä­ter den Lehrer ge­hei­ratet, der nach St. Jakob kam. Da war Gras über die Sa­che ge­wachsen. Aber die ha­ben es alle gewußt. Und haben daran ge­dacht, wenn sie sie auf der Straße ge­se­hen ha­ben. Und die hat die Au­gen nieder­ge­schla­gen müssen. Mit der Toch­ter von dem Leh­rer hab ich dann nicht mehr gespro­chen. Wenn sie in der Hof­pau­se neben mir gegan­gen ist, hab ich gera­deaus geblickt. Ich hab mir vorgestellt, ihre Großmutter wäre mei­ne ge­wor­den. Da hätt ich was von der ih­rem Charakter ge­kriegt. Da hätte ich die Au­gen niederschlagen müssen auf der Straße mit so einer Familie. Nein, nie. Nicht ein­mal in Ge­danken habe ich eine Un­ge­hörigkeit begangen. Doch, ich hab auch meine Ge­dan­ken gehabt. Den Gas­hahn auf­drehn, wenn Os­wald seinen Sonn­tag­nachmittags­schlaf macht. Und spazieren­gehen und von nichts wissen. Im Fe­bruar oder im März, wenn der Schnee weg ist und der Acker aufbricht. Über den Os­wald haben sie zum ersten­mal geredet, wie er die Frau­en­schaftsführerin be­sucht hat im Mädchen­lager. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu ei­nem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Da ist er in offizieller Mission hinge­fah­ren, weil er im Landkreis war bei der Partei. Ich hab hier gesessen bei geschlosse­nen Fenstern, ich hab wochen­lang kein Fenster mehr auf­machen können. Aber ich hab sie reden hören. Die ganze Stadt. Ins Ge­sicht gesagt hat mir keiner was. Auch ihm nicht. Konnte auch nie­mand. Der hat sich im­mer ge­tarnt. Auch vor mir. Wenn der wüßte, wie das jetzt heraus­kommt aus mir. Ge­stor­ben ist er ohne ein Wort, in voller Tarnung. Da war ich nur Luft für ihn, weil er mich nicht mehr schuri­geln konnte. In der Schule in St. Jakob sind nach dem Krieg die ge­misch­ten Klas­sen gekommen, da war einer, der hat mir Augen gemacht. Das war im letzten Jahr. Er hat rüber­geguckt von der Bank, in der er ge­sessen hat, und ist mir nach­­­ge­kom­­­men, wenn ich nach Hause gegangen bin. Obwohl er in die an­dere Rich­­tung ge­mußt hat, weil er oben ge­wohnt hat im Winkler­schen Haus. An der Stra­ße, wo es nach Braunsdorf geht. Daß er mich die Dorf­straße hin­un­ter begleitet hat, hat mir ge­fal­len. Gere­det hab ich nicht mit ihm. Ich hab nicht ge­wußt, was ich hätte sa­gen sol­­len. Über­haupt ist mir das Reden mit fremden Leuten schwerge­fallen. Ent­weder wa­ren sie aus dem Dorf, da mußte ich still sein, weil ich ja für was anderes bestimmt war. Weil ich ja auf die Schule sollte nach Chemnitz. Dafür sparten sie. Und daß ich die Aus­steu­er krieg für ei­nen, der Be­amter ist. Oder sie waren von der Obrigkeit, die Fa­bri­kan­ten und bes­ser­en Leute, da hat einen das Haus schon stumm gemacht. Da hat man ge­wußt, wofür es ei­nen Dienst­boteneingang gibt. Daß man nicht im Treppenauf­gang, im Ve­sti­bül schon, er­schlagen wird von dem Mar­mor und dem Gips, der da war. Und vom Reden der Gnädi­gen Frauen – wie in Adelsberg die, wo ich mein Pflicht­jahr ge­macht hab. Die wollte für jeden immer ein gutes Wort ha­ben. Und da mußte man ei­ne Antwort wis­sen, sonst war man eine plumpe Trine, ec­kig und höl­zern. Das hat sie ge­sagt über mich zu der Frau Wittgenstein, die Frau Wittgenstein von hier, die Strumpf­­­­­­­­­­fa­brik auf der Gildenhausstra­ße. Die hatte die Frau Schuster be­sucht, da gab es Verbin­dung un­ter­­­ein­an­der. Da haben sie dann in der Die­le ge­stan­den, und der Chauf­­feur da­bei, und das Dienstmädchen hat der Frau Witt­gen­stein den Man­tel abge­nommen. Und ich in der Bü­gelkammer, die Tür nur an­ge­lehnt. Da hab ich das hören müssen. Nicht lange, da hat die Frau Schuster gemerkt, was sie an mir ha­t. Da hat sie mich nicht mehr weg­las­sen wollen. Das war, als der Vater Oberrotten­meister gewor­den ist, und ich schon in Oberstein ge­wohnt hab und die Stelle in Aussicht hatte im Re­formhaus. Ein halbes Jahr, Baldur, in dem der Rudi mit mir mitgelaufen ist, bis sie das mit­be­kommen haben zu Hause. So­lange hat es ge­dauert, weil er am Erzbächlbo­gen im­mer schon umgekehrt ist. Da ha­ben sie es nicht gesehen, nur ge­hört von Un­gers, de­ren Haus in der Kurve stand, so daß sie den Blick hatten über das Erzbächl. Und da hat mich der Vater zur Rede ge­stellt. Abends als er am Aus­guß stand und es ihm pein­lich ge­wesen ist. Was das für einer ist, der Rudi, hat er ge­fragt, und ob er ver­sucht hat, was zu ma­chen. Und er hat sich nicht umgedreht da­bei und hat auch nicht ver­sucht, mich durch den Spie­gel zu sehen. Die Mut­ter hat am Tisch ge­ses­sen und hat ge­rechnet und hat die Kon­sum­mar­ken einge­klebt. Ich hab über ei­ner Hand­­arbeit ge­ses­sen und hab dran den­ken müssen, daß der Vater von dem Rudi in Ost­preußen ge­stor­ben ist in ei­nem Laza­rett, da war der Krieg schon eine Weile aus. Da hatte der Rudi noch Fo­to­grafien. Da war das Land ganz an­ders als bei uns. Flach und weit und ein tiefer Him­mel. Da hab ich hingewollt. Weil es anders war. Mein Schweigen hat der Va­ter für ein schlechtes Gewissen ge­nom­men. Und hat sich umgedreht mit ei­nem Ge­sicht, die eine Hälf­­te weiß, die andere ge­schabt, und in der Hand hat er den Ra­sier­ap­pa­rat gehabt, und die Hälfte, die schon ge­schabt war, ist rot gewesen vor Zorn. Und hat nach drau­ßen ge­wiesen mit dem Ra­sierapparat und ge­sagt, daß da die Tür wär. Wenn ich eine Her­um­trei­berin sein wollte – dort ginge es hin­aus. Ins Lotter­leben. Und die Mutter am Tisch über ihren Marken hat gebrabbelt, daß wir ins Gerede kommen. Daß der Rudi einer wär, wie der Vater war, bevor er nach Metz ist. Da ist der Vater vorm Spiegel noch mehr zornig gewor­den. Da haben sie weiter geredet. Das hat schon nichts mehr mit mir zu tun gehabt. Am nächsten Tag bin ich dem Rudi ent­wischt. Bin oben rum ge­­­gangen, über das Wink­lersche Haus, wo er ei­gentlich lang ge­mußt hätte. Und er ist meinen Weg gegan­gen wie im­mer. Bis zum Erzbächlbogen. Ich weiß dann nicht mehr, wie sich das gere­gelt hat. Ich bin dann ja bald nach Chemnitz auf die Haus­­­wirt­schaftsschule. Gegan­gen bin ich jedenfalls nicht mehr mit ihm. Drei­und­dreißig, da ist der Rudi zum Militär wie der Her­mann. Der Hermann ist nach Pirna gekommen, zur Grundausbil­dung. Da ha­ben sie die Männer gestriezt. Da muß­ten sie im Schlamm über die Sturm­bahn und wer die Zeit nicht ge­schafft hat, ist in den Arsch getreten worden. Das hat mir nicht gefallen, als das in dem Brief stand. Da hab ich noch an den Rudi denken müssen. Ei­gentlich hätte der Hermann ja das Abitur ma­chen sollen in Chem­­nitz. Aber die Schule war von der SPD. Da mußte der Va­ter kein Schulgeld be­zahlen. Aber dreiund­dreißig, als sie sie zuge­macht haben, da war es noch ein Jahr hin bis zum Abi­tur. Was sollte er machen ohne al­les. Die Arbeitslo­sigkeit war ja noch. Drei­­unddreißig, da hat auch der Oswald sich ent­schieden. Da ist er in die Par­tei einge­tre­ten. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu ei­nem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Da hat er ge­nau gewußt, was er vorgehabt hat. Das hat er auch gewußt, als er auf mich zuge­kommen ist beim Nachmit­tags­tanz in der Wald­­­parkschänke. Da hatte er sich Er­kun­di­gungen eingeholt bei Fabri­kanten Gries­bauers, wo ich die Wirt­schaftslei­terin war, seit ich weg war aus dem Reformhaus. Da haben sie ihm gesagt, daß ich ver­schlossen wäre, aber darunter wäre ich Gold. Das hät­ten sie gemerkt mit der Zeit. Und von den El­tern wär auch was da. Und wenn eine Frau nicht so flink wär mit der Zunge, das wäre doch gut für den Mann. Das hat sie gesagt, die Frau Gries­bauer. Und hat ihn angeschaut dabei. Das ist manchmal eine ge­wesen, die gnädige Frau. Der Os­wald ist da nicht aus der Rolle ge­fallen. Das hat er sich nicht ge­traut. Da hat er seinen Diener gemacht am Anfang und am En­de und sei­nen Spruch auf­gesagt: Ent­schuldi­gen Sie gnädige Frau, wenn ich sie, zu nicht un­an­gemes­sener Stunde wie ich hoffe, so den­noch belästige .. – So hat er geredet – in den Vil­len und bei der Ob­rigkeit. Zu Hause ist er hergezogen über den Vor­ste­her von der Raiff­eisen­bank und die Pro­kuri­sten, die ihn unten gehalten ha­ben. Da ist er in die Par­tei ein­ge­treten, weil er sich dar­aus was er­hofft hat. Und es hat dann ja auch geklappt. Er ist der Vorste­her gewor­den. Vor­stel­lung bei den El­tern im Bahnhof, und Ver­­lobung und Hochzeit – lief al­les nach Plan. Dem deines Va­ters, den er auf­gestellt hat zwei Wo­­­chen nachdem wir uns kann­ten. Woh­nung war auch drin. Hier auf der Courths-Maler-Straße, da wurde gebaut von der Stadt, ge­hörte zum na­tional­sozi­ali­st­ischen Aufbau­pro­gramm. Die Ein­rich­tung ha­ben mei­ne Eltern be­zahlt, alles. Und sind arm gewor­den dabei. Wie auch von der Hoch­zeit. Die hat im Gildenhaus ge­feiert wer­den müs­sen, das das teuer­ste Lokal ge­wesen ist. Das kam von Lenzens, mei­nen Schwie­ger­eltern, die woll­ten hoch hin­aus. Ich hab mich während des ganzen Tages ge­wun­dert, daß ich jetzt verhei­ratet sein soll. Das ging schon in der Kir­che los. Der Os­wald hat auf einem Kraftwa­gen be­stan­den, und so sind wir vom Bahnhof hin­auf zur Kir­che gefahren in ei­nem Wagen vom Fuhr­un­ternehmer Schubert. Der hat ein Taxi betrie­ben, das stand auf der Stra­ße ober­halb von der Mitropa. Und nun sind wir darin ge­fahren. Der ganze Rummel ist mir unan­genehm gewesen. Ich wußte ja nicht, wie alles wird. Ich hab auf die Zeit nur gewartet, wo alles klar war, wo ich meine Ord­nung haben würde. Wo ich für Len­zens die Hele­ne war und nichts weiter. Wo ich nicht mehr er­zählen mußte, wie die Stel­lung ist bei Griesbauers und keine Blicke mehr auszuhal­ten hatte, was für eine ich bin. Die He­­le­ne, die Frau vom Oswald. Punk­tum. Über die kann er sich nicht be­schweren. Ha­ben sie gesagt. Und so hat es sein müs­sen. Daß er sich über mich nicht hat beschweren können, haben sie auch ge­sagt, als doch was durch­gesic­kert war von dem, was der Os­wald für einer war bei der Frauenschaft. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu ei­nem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Aber da hat es einen anderen Un­terton ge­habt. Da hat es einem Vorfall gegolten – Vor­fällen mit der Zeit. Da war es mir nicht recht. Nach­­dem er beim Vater gewesen ist da­mals, hat er ver­sucht, sich mir zu nähern. Wo wir doch so­wieso hei­ra­ten wür­den. Es war auf dem Lutherberg beim Spazie­renge­hen und dunkel. Da hat er ver­sucht, mich in einen Heu­schober zu kriegen. Da hab ich es mir auch gewünscht, daß er es versucht. Aber ich bin nicht mitgegan­gen. Ich hab dran denken müssen, daß er vielleicht zum Mi­litär muß nach­her. An dem Abend war der Os­wald dann so, wie er später immer war. Hat nicht mehr mit mir ge­re­det. Da war ich Luft für ihn. Da hat er sich zurückge­zogen in seine Tarnung, wo er sich vor­nimmt, daß er dann andere nimmt dafür. Über­haupt sein Schwei­gen. Er hat ge­schwiegen bei al­lem. Auch wenn er gere­det hat. Gere­d­et hat er ja nur zu an­de­ren. Wir möchten un­serer be­son­­de­ren Freu­de darüber Aus­druck verleihen, daß durch Dich und die Dei­nen unse­re Ver­wandtschaft so überaus an­genehm und glücklich erwei­tert wurde. Das hat er ge­sagt – nicht zu mir. Zu der Frau von Her­mann, als der ge­heiratet hatte. Das war nach dem Krieg. Der Her­mann hat ja den ganzen Krieg mit­machen müs­sen. Ruß­land, von wo sie dann alle er­zählt haben. Und vier Jahre Lager in der Ukraine. Der Os­wald war nicht im Krieg. Der war hier unentbehr­lich. Hier war er mit dem Kreis­lei­ter auf du und du. Ich hab mir manchmal gewünscht, daß er weg wäre. Daß er was tut für Deutsch­land, wie es geheißen hat da­mals, anstatt hier hinter der BDM-Führerin her zu sein. Ja, das mit der BDM-Führ­er­in, das war im Krieg. Damals, nach dem Abend mit dem Heu­­­schober, zu dem er mich hin­gelotst hat­te, hat er mir Ro­sen geschickt zu Gries­bau­ers. Hat einen Zettel dran­ge­macht in seiner Aus­drucks­weise. Daß er sich überzeugen konnte von mir als ei­ner deut­schen Frau. Und wie er sich glücklich schätzt, daß ich ihm angehö­ren will. Ich bin rot geworden, als mir die Frau Gries­bauer die Blumen ge­ge­ben hat. Ich hab dran den­ken müssen, was ich dem Os­wald nun sagen soll, nachdem ich ihn enttäuscht hab, weil ich nicht mit in den Heu­schober gegangen bin. Ich hab nichts sa­gen müssen. Er hat die Blumen am nächsten Tag nicht mehr er­wähnt. Und ich hab mir den Kopf nicht zerbrechen müs­sen, was ich ihm sag­en soll. Nach der Hochzeit sind wir auf die Courths-Maler-Straße gezogen. Das haben nicht viele ge­habt, daß sie gleich eine Wohnung hatten. Für den Hermann, als der ge­hei­ratet hat, haben sie zwei Zim­mer frei­gemacht im Bahn­hof. Das Wohn­zimmer ha­ben sie zu­sammen genutzt. Die Eltern und der Her­mann mit seiner Frau und dann den Kindern. Der Heinrich war auch schon ver­heiratet. Über eine An­zeige in der Zeitung, die die Mutter aufgegeben hat. Eine Kellne­rin, das ist dann schief­gegan­gen. Das war das Mi­lieu. Sie war im Brau­hauscafé. Da sol­len sie auf den Ti­schen ge­tanzt haben nach der Poli­zeistunde. Die Kellnerinnen und ein paar Männer, die noch ihre Ge­schäfte hat­ten. Lederwa­ren-Zetzsche und Schuh-Saul von der Brauhausstraße, die sollen dabei ge­we­sen sein. Und auch Leder­schild, nachdem er zurück war. Aber das hab ich nicht ge­glaubt. Der hat doch kein Geschäft mehr gehabt. Der saß immer auf einer Bank ge­genüber dem Bahnhof und hielt einen Stock zwischen den Händen. Und wartete auf die Straßen­bahn, die ja da­mals noch auf die Dörfer fuhr. Bis hinauf nach Oberlug, wo die Koh­­le­halden sind. Ist schon lange vorbei, der Bergbau. Wie auch die Arbeit in den Strumpf­fa­bri­ken und im Trikotagenwerk, was Lange & Brau­ner war früher. Kein Tuten mehr der Sirene zu Ar­beitsbeginn, kein Webgeräusch, wenn du das Fen­ster auf­machst donnerstagvormit­tags, um den Staublappen auszuschütteln. Ganz still die Stadt. Und auch der Leder­schild hat still auf seiner Bank gesessen, nach­dem er zurück war. Das war nach dem Krieg. Und der Heinrich hat in der Küche ge­sessen bei der Mutter, und hat ihr sein Leid ge­klagt über die Ella. Sie hat mir Fotos ge­zeigt, die El­la, als wir mal bei ihnen waren, Fotografien aus Kreuzburg, wo sie her­kam. Da war der Wolf­gang gebo­ren, ihr Gro­ßer. Bilder von einem Dorf da, Ober­schle­sien. Alles Süden und am Hori­zont ein Ge­bir­ge. Und vollgestellt der Hof mit Ge­rüm­pel und alten Ma­schi­n­en. Und die Wä­sche auf dem Gartenzaun! Als die Ella den Hein­­rich geheira­tet hat, hat sie noch nicht auf den Tischen ge­tanzt. Da haben sie sich ge­freut im Bahn­hof, daß sie den Heinrich so­weit hatten. Da war er schon über vier­zig. Vierzig war auch der Her­mann, als er ge­hei­ra­tet hat. Aber bei dem lag das am Krieg. Wo hat der jemand kennen­lernen sollen, unter­wegs auf sei­nem Mel­der­motor­rad und dann in der Gefan­genschaft. Er hat dann ja seine Frau ge­fun­den. Dienstag, haben wir Dienstag heu­te? Da laß das Fenster ruhig auf. Da wart ich auf die Bo­ro­wski’n. Da fährt sie nach Chemnitz. Da macht sie ih­ren La­denbummel. Das hab ich gehört, wie sie das zu der Haus­schild ge­sagt hat oben. Nur Oberstein, hat sie gesagt, das ist ihr zu trist. In der Woh­nung von Boro­w­s­kis ha­ben früher die Friedrichs ge­wohnt. Aber nach dem Krieg ist der Herr Fried­rich nicht mehr nach Hause ge­kom­men, son­dern di­rekt aus der Gefangenschaft nach dem We­sten, und die Frau ihm nach. Und da sind die Borowskis eingezogen, und der Herr Borowski kam auch aus einem Lager. Da hat er uns gefragt, seit wann wir hier woh­nen, und hat so komisch geguckt. Und hat nach dem Vormieter gefragt. – Das Fenster wird geschlossen. Schritte, die plötzlich innehalten, da Schritte im Trep­penhaus zu hö­ren sind. Angehaltener Atem. Es klingelt. Eine lange Zeit ohne je­des Ge­räusch. Danach sich entfer­nende Schritte. Bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden, geht jemand zu einem Stuhl und setzt sich. Wieder einsetzender Atem, der sich all­mählich be­ruhigt. – Also, da haben wir gesagt, wir wis­sen nicht genau, was er gemacht hat. Denn bei dem Bo­rowski mußten wir vorsichtig sein. Der hatte schon so was .. Gerades, Steifes. Und klein war er. Der Herr Friedrich aber war eine eindrucks­volle Erscheinung. Dei­ne Lenz­-Großmutter ist ganz überrascht stehengeblieben da­mals auf der Trep­pe, als sie ihn zum erstenmal gese­hen hat. Und drinne hat sie gesagt, daß das wie ein Bild wär von Deutsch­land in der Zukunft, so ein Mann. Das war vier­unddreißig. Da bin ich in die Ent­bin­dungs­klinik gekommen, da hat sich der Oswald drum geküm­mert, das war ja noch nicht üblich. Daß wir mit der Zeit gehen, darauf hat er geachtet. Im Ent­bin­dungs­saal war ich mit einer, die hat­ten sie zwangs­ein­­gewie­sen. Von den Barac­ken unten. Die hat geschrien und auf ih­ren Mann ge­schimpft mit den unflätig­sten Worten, daß er seinen Spaß ge­habt hat beim Kin­der­ma­chen und ihr zer­reiße es die Gedärme. Die Hebamme hat sie zurechtge­wie­sen, daß sie sich was schä­men soll und ob sie kei­ne Frau sei. Die Ge­därme hätte es den Män­nern zerris­sen, und zwar vor Ver­dun. Da sei nämlich ih­rer geblieben. Und wenn sie einen Jungen hätte, solle der schnell groß wer­­den, damit sie das rächen könn­ten, was die Franzmän­ner ge­macht hätten mit ih­rem Mann. Richtig böse ist sie gewor­den, und dann hat sie gesagt, daß es sie nicht wun­de­re. Die aus den Barac­ken seien ja wie die Pollacken und Zi­geu­ner, das wisse die ganze Stadt. Bei mir war es dann auch so weit, und in dem Mo­ment hab ich ge­dacht, daß mein Kind nicht mit helfen soll, sich zu rä­chen. Und ich hab ge­dacht, wenn es ein Mäd­chen wird, dann bleibt es mir ein ganzes Le­ben zu Hause und wartet ab, bis der Krieg, von dem die Hebamme ge­spro­chen hat, vor­über ist. Aber es ist kein Mäd­chen geworden, son­dern du bist es ge­wor­­den. Und der Krieg ist Gott­seidank so zeitig ge­kom­men, daß du noch nicht hast mit­­können. Nur dein Va­ter, der hätte mit­können, und wär vielleicht er­stickt in ir­gen­d­ei­nem Bunker, in den sie was reingesch­mis­sen hät­ten. Aber er hat eben nicht mit müs­sen, und das ist für dich nicht gut gewe­sen. Denn als du klein warst, bist du für den Os­­wald noch nicht ein Mensch gewe­sen. Da hat er dich nicht wahrge­nommen, wenn er heimgekommen ist von der Raiffeisen­bank zum Mit­tag­es­sen. Da hat er dich immer nur an­geguckt, wenn du an­ge­fangen hast zu plap­pern. Da hat er uns erziehen wollen, dich und mich. Daß es Zeiten gibt, zu reden, und wel­che, wo man still sein muß. Da hat er sich Be­dienstete ge­wünscht und eine grö­ßere Woh­nung – daß ihn das Kind nicht stört in sei­ner Ruhe. Ob­wohl er auch stolz war. Da hat er angefangen den Fa­mi­li­envater zu spie­len. Da sollte ich die Dame sein aus gu­tem Haus, wie er sie gese­hen hat in den Fil­men im Ki­no auf der Adolf-Hitler-Stra­ße. Da hat er sich wohl ge­dacht, daß es der Kreislei­ter ist, der mir die Kompli­mente macht, oder ei­ner vom Lan­des­vorstand von der Kasse, so wie der Os­wald sie ge­macht hat an die Frau­en von de­nen. Aber ich war eher die Frau für da­heim. Nicht die Dame, die es ihm er­leich­tern sollte in der Raiffeisen­bank und bei den Par­tei­ge­nos­sen. Daß er was vorwei­sen konn­te. Daß er mehr war als hier zu sit­zen und seine Ord­nung zu ha­ben, oder in der Raif­feisenbank und die Bücher in Schuß zu ha­ben, oder im Stadtrat. Da war er ent­täuscht von mir. Da hat er dann draußen ge­sucht, was ihm ge­fehlt hat bei mir. Im Stadt­rat ha­ben sie da­mals den Juden enteig­net vom Kauf­haus Le­der­schild, was HO war spä­ter, und nach There­si­enstadt ge­schickt. Er hat Angst ge­habt, wenn es um so was ging, ich hab es ge­merkt an sei­nen durchge­schwitz­ten Sa­chen. Und dann hat er sich gewaschen und Frühsport gemacht am offe­nen Fen­ster, aber die Gardinen zugezogen. Daß die von ge­genüber, die Ko­netzkys, die auch in der Partei waren, nicht gesehen ha­ben, daß er sich hat fit ma­chen müssen. Und hat sich ein­gerie­ben un­ter den Achseln mit einem Deodorantstift. Daß er nicht ge­schwitzt hat. Da hat er dann mal mit mir re­den wollen. Aber wozu hätte ich ihm schon raten kön­nen. Ihm den Rücken freihalten, ihm sein Zu­hause sichern, ja, das hab ich ge­konnt. Aber reden. Er hat das ja doch tun müssen. Schnell groß werden sollen hat­test du für die Hebamme, damit du die Fran­zosen um­brin­gen kannst. Der Oswald hat so was nicht im Kopf gehabt, das kann ich nicht sa­gen. Der wollte sich nicht rächen, nicht von sich aus. Der hat keine Ra­­chege­fühle ge­habt. Der saß hier am Fen­ster mit seiner Zei­tung und hat gele­sen, was die vorhat­ten in der Politik. Und die schrie­ben, daß die Rache sein muß an den Juden. Nach dem Krieg erst haben wir ja er­fah­ren, wie das aussah. Das Wetter auf den Bil­dern von dem Lager, daß sie dann in der Zei­tung gebracht haben, war immer trüb. Der Rauch aus dem Kre­matorium zog hoch in einen verhangnen Himmel. Warum, frag ich mich, stieg er nicht auf vor dem Hin­ter­grund von Sonne. Ich meine, da war doch kein ande­res Wet­ter als hier während des Krieges. Da muß doch auch Sonne ge­wesen sein. Und dann die Luftaufnahme von dem Lager. Alles ordent­lich. Und dann keine Sonne. Der Os­wald hat gesagt damals, da wird Ord­nung gemacht in Deutsch­land. Da bist du, wo du auch bist, wie in dei’m Wohnzim­mer. Alles sauber. Das Bild hat mir gefal­len. – Das Ticken der Wanduhr. – Wenn der Oswald sonst seine Kommen­tare abgegeben hat beim Zeitungslesen, hab ich ge­schwiegen. Nur ein­mal, da hab ich was ge­sagt. Da ging es auf den Krieg zu. Da hab ich gesagt, was ich ge­dacht hab in meinen Schmer­zen da­mals, als ich dich ge­kriegt hab. Daß es mir lieber gewe­sen wär, du wä­rest ein Mäd­chen ge­worden. Und ob das richtig ist mit dem Le­der­schild, wo ich doch bei ihm meine Tas­sen für die Woche so billig ge­kriegt hab. Da hat er mich an­geguckt am Abend­brot­ti­sch. Nichts ge­sagt, nur an­ge­guckt. Ich hatte ja keine Ahnung von der Po­litik. Von dem, was die Stunde ver­langte. Und daß er das für die Familie gemacht hat, die Leute aufs Rathaus be­stellt, die noch einge­kauft ha­ben beim Leder­schild. Da ist er aufge­stan­den vom Tisch und hat das Fenster ge­schlos­­sen. Und hat ge­sagt, ich solle am besten über­haupt nichts mehr sagen. Und ich hab am Tisch gesessen und hab an St. Jakob den­ken müs­sen, wie da das Fenster ge­schlossen wurde, wenn wir Dre­sche krieg­ten. – Das Ticken der Wanduhr. – Zu dem Zeitpunkt war der Oswald schon nicht mehr bei der Raiffei­sen­bank, sondern bei der Partei, und we­nig zu Hause. Da bin ich mit dir alleine gewe­sen. Ja, ein artiges Kind, das warst du. Ich hatte mit dir keine Placke­rei. Hast immer bei mir in der Kü­che gesessen und zum Fenster hinausge­guckt. Bist aber nicht hin­aus­ge­gan­gen. Ge­genüber, in einem der Reichsbahn­häuser, in dem, in das der Heinrich einge­zo­gen ist später, hat ein Rangierer gewohnt, Konetzky, das heißt er war im Krieg. Die Frau al­leine, zwei Kinder. We­nig äl­ter als du. Die sind her­über­ge­kommen über den Zaun und über den Wäscheplan und haben sich auf­ge­stellt unten, wo es zum Waschhaus geht. Da bist du weg vom Fenster und hast dich nicht mehr se­hen lassen. Aber wenn sie nicht unten stan­den, wenn du sie drüben hast spie­len se­hen, da hast du am Fenster ge­sessen und hast hin­überge­blickt. Stundenlang. Mir war es recht, daß du da nicht Kontakt hattest mit de­nen. Die Konetzky’n hat ge­raucht, obwohl sie in der Partei war. Wenn ich auf­ge­wa­schen hab, hab ich in ihr Schlaf­zim­mer sehen können. Da hat sie ge­stan­den, mit der Zigarette. Die hat in der Firma von Dr. Rau unten gear­beitet. Die haben Rüstung ge­macht. Spä­ter waren die Russen in der Firma und haben demon­tiert. Da war die im­mer noch da. Dann ist sie angezeigt wor­den. Irgendetwas mit den Fremdar­bei­tern dort, vor dem Kriegs­ende. Da hat sie einen gemel­det, der was hat mitge­hen lassen. Da ist sie wegge­kom­men nach dem Krieg, und der Heinrich ist in die Wohnung gekommen mit seiner Fa­milie. Was aus den Kin­dern gewor­den ist, wer weiß. Der Oswald war im­mer ängst­lich, was dich an­geht. Daß du was aus­plau­derst drau­ßen, wo du doch den gan­zen Tag bei mir bist und solche Sa­chen hörst viel­leicht wie das mit dem Leder­schild. Ich hab aber nichts mehr gesagt. – Schritte im Treppenhaus. Beschleunigter Atem im Vordergrund. Wer drau­ßen die Treppe hochsteigt, bleibt stehen. Angehaltener Atem. Es klingelt, und dann noch ein­mal. Eine Frauen­stimme fragt: „Herr Olbrich ..?“ Die Schritte entfernen sich. – Wieder einsetzender Atem, der sich allmählich be­ruhigt. – In die Schule gekom­men bist du vierzig. Da hat sich kei­ner be­schwert über dich. Im­mer or­dentlich und fleißig, gute Mitarbeit. Nur auf dem Heim­weg, da haben sie dir auf­gelau­ert. Sol­che wie die von der Konetzky’n drüben. Gassen­jungen, die hoch an­ge­se­hen wa­ren in der Hitler­jugend, was ich nicht verstan­den hab. Die ha­ben da ein Ele­ment rein­ge­bracht, mit dem der Vater schon zu tun hatte beim Gleisbau da­mals, als der erste Krieg zu Ende ging. Herunter­gekommene waren das, wie sie dann später vor der Mitropa ge­standen haben mit Schnapsfla­schen und Koffer­radios, das war nach dem Krieg. Der Os­wald hat immer über mich ge­lacht. Es gehe eben rauh zu drau­ßen, hat er gesagt. Daß ich dich täglich zur Schule ge­bracht und auch wieder ab­geholt hab, dage­gen hat er nichts ge­habt. Dieses Betragen, daß er weiß, wie es zu­geht in der Welt, und daß er der Mann ist dafür, war ge­spielt. Am lieb­sten hat er hier in sei­nem Ses­sel am Fenster ge­ses­sen und seine Kom­mentare ge­geben. Und ich hab den Tisch gedeckt, Teller und Be­steck und ein Glas für das Bier. Nur halbvoll das Glas, hat er gesagt, sonst redet man zu viel. Ich rede ja nicht. Es fließt her­aus aus mir, es ist das Leben. Nichts mehr wirklich, alles schon weiß, ein Gebet. Elf Jahre, auf den Mo­nat genau, Bal­­dur, war ich verheira­tet mit dei­nem Vater, als der Krieg zu En­de war. Da­mals sind wir nach der Kir­che mit dem Kraft­­wagen oben rum, über den Fried­hof und den Lu­th­er­­berg. Und bis zum Gil­den­haus hinun­ter haben Fah­nen gehan­gen, denn es war der Ge­burts­tag vom Füh­rer. Dann sind, fast über den glei­chen Weg, die Ameri­ka­­ner ein­ge­­rückt. Der Os­wald war die gan­ze Wo­che zu Hause. Hat im Ses­sel ge­sessen und Zi­ga­retten ­raucht. Sonst hat er ja nicht geraucht im Wohn­zimmer, das hat er sich selbst auf­­er­legt. Hier aber hat er ge­raucht, daß ich das Fenster hab auf­ma­chen müs­sen. Und das Fenster nebenan ging auch auf und zu, da hat die Frau Fried­rich ge­wohnt. Der Mann war in Bad Graustein, wo der Kreis war, in einer Ausbil­dungs­­­stätte von der NA­­POLA. Das war vor dem Krieg. Danach in Rußland, Offizier. In der Zeit hat die Frau Fried­rich nicht gere­det mit mir, weil mein Mann zu­hause war und ihrer im Feld. An dem Vormit­tag aber, wo die Amerika­ner eingerückt sind, hat sie mir er­zählt von dem Kreislei­ter. Der hat sich mit seiner Familie nach An­naberg fah­ren las­sen, auf das Gut, das er da hatte, und hat die Familie er­schossen. Und dann sich. Ich bin da schnell weg und die Treppe runter und hab mich gewun­dert über die Frau Fried­rich, und mich ge­fragt, ob sie uns ir­gendwie meint. Jah­re­lang kein Wort zu mir außer Heil Hitler, und nun bringt sie uns vielleicht in Verbindung mit dem Kreislei­ter. Und ich hab mich ge­­wun­dert über den Oswald. Der hat mir das nicht er­zählt, ob­wohl er mit dem Kreislei­ter so dicke ge­we­sen war. Auf dem Markt oben und am Bahnhof und auf der Wiesen­thalstraße ha­ben sie gestanden, die Amerika­ner, und Schokolade verteilt und Zigaret­ten. Wir haben da­von nichts mitgekriegt. Die Courths-Ma­ler-Stra­ße war vollkommen leer, nur um die Litfaßsäule herum ist der Dackel ge­laufen von Schön­borns drüben. Zwei Tage ha­ben wir hier oben gesessen und ge­wartet. Der erste Amerikaner, der mir begegnet ist, das war an der Spedition Gerlach. Da bin ich zum Fabrikanten Rapp ge­gangen, die das Grundstück hatten an der Logenhaus­straße, um Kar­toffeln zu holen. Und da hat er ge­sessen auf der Verla­de­ram­pe und sonst weit und breit niemand. Und hat geraucht und mit den Beinen ge­schlen­kert und hat Hello geru­fen. Da bin ich schnel­ler gelaufen und hab mir Sorgen gemacht wegen dem Rückweg, wenn ich die Kar­tof­feln hab. Da bin ich dann lieber unten rum, über die Gildenhaus­stra­­ße und hin­ten über die Kreuzung an der Wie­sen­thal­stra­ße wie­der hoch. Der hat mich verwirrt, dieser Amerikaner. Solda­ten, das wa­ren zackige Men­schen. Dieser nicht. Da hab ich Oberstein in einem ganz anderen Licht ge­­sehen. Eine Gei­­sterstadt, und wir – als wären wir nicht mehr da. Zu­rückge­rückt – alles vorbei. Nicht nur der Krieg, sondern alles: Das Die-Wohnung-sau­berhal­ten, das Aus­kommen, und daß man so steif war und nicht geredet hat. Das Le­ben, das wir gekannt haben. Das war wie ei­ne Befreiung. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu ei­nem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Für den Moment. Solange ich unterwegs war. Zuhause nicht mehr, da ist dann wieder der Os­wald ge­we­sen. Der hat gewartet, daß er aufs Rathaus bestellt wird. Aber hier haben die Amer­ikaner nicht ernst gemacht mit der Ent­nazifi­zie­rung. Die wußten, daß sie wie­der abrücken. Das war im Juli. Da­nach sind die Russen ge­kom­men, und der Oswald hat den Bescheid ge­kriegt, daß er nur körper­liche Arbeit ver­richten darf. Das hat ihm einer eingebrockt auf dem Arbeitsamt, ein Eva­ku­ier­ter aus Düs­seldorf. Vier­undvierzig sind die nach Ober­stein gekommen wegen der Luft­angriffe im Ruhr­ge­biet. Und sind dann schnell zu­rück. Nur der, der dem Os­wald den Vermerk gemacht hat, der ist geblie­ben. Da haben sie gemun­kelt, daß er ein Ober­nazi war. Sonst wär er ja auch zurück, zu den Ameri­ka­nern, und wär nicht hierge­blie­ben, wo die Russen wa­ren. Also, da ist er besonders scharf gewesen, um davon ab­zu­­len­ken. Und hat nicht nur dem Oswald so einen Ver­merk ins Arbeits­buch gemacht, son­­dern zwei Jahre später auch dem Her­mann, als der zurück war aus der Kriegs­ge­fangen­schaft, weil er drei­unddreißig schon in die Wehr­macht eingetreten ist und Be­rufssoldat war. Da hat der Hermann angefan­gen auf der Strecke zu arbeiten, beim Gleis­bau in der Brigade vom Vater. Dem Os­wald ist es ähn­lich gegangen. Der muß­te in die Kernfor­me­rei runter, was Gebrüder Leipold war. Da hat er das flüssige Eisen in die Schalen gießen müssen, aber das ist nicht lange ge­gan­gen. Denn der Lau­ritz, was der Vater ist von der Haus­schild oben, ist vor dem Krieg schon Pro­kurist ge­wesen bei Leipolds und ist es ge­blie­ben, so­lange den Leipolds die Fabrik ge­hört hat. Der ist auf­gekreuzt eines Abends bei uns und hat gesagt, daß der Oswald doch ein tüch­tiger Be­amter war, kor­rekt bis zum Schei­tel, das wisse er aus den Zeiten der Raiff­eisenbank. Und so ist der Oswald Buch­halter ge­wor­den bei Lei­polds und ist zum Ober­­buchhalter aufgestiegen, nachdem die Leipolds nach dem We­sten sind, und die Kernformerei zum Kombinat ge­hörte in Karl-Marx-Stadt. Daß der Lauritz zu uns ge­kommen ist da­mals, weil er das mit dem Buchhalter nicht im Betrieb bereden wollte, ist eine Au­ßer­ge­wöhn­lich­keit ge­­­­wesen. Denn außer Lenzens und Schuh­knechts haben wir nie Be­such ge­habt, und so waren wir immer allein. Da sind wir zeitig ins Bett ge­gangen, und der Oswald war frisch am nächsten Morgen und frisch den ganzen Tag über auf Ar­beit. So ging alles nach der Reihe. Der hat sich überhaupt nur wohlgefühlt, wenn alles nach der Reihe ging. Das ist wie am Fließband bei Ford, hat er gesagt, du gehörst zu einer Armee und machst nur, was du genau kennst, und wirst durch nichts gestört. Und das Ergebnis ist – Reichtum an ma­teriellen Gütern. Das ist wie ein Zau­ber­trick. So hat er das gesagt, hier in seinem Sessel. Da war er schon Schu­lungs­leiter in der Ge­werk­schaft. Und ich hab am Tisch gestanden und hab die Wäsche gelegt und hab ge­dacht, daß man zu­rück­tritt dabei. Daß man gar nicht mehr merkt, daß man da ist. Daß die Hände was anderes machen, als in der Zeit der Kopf denkt. Da fließt das Le­ben und ist bunt am Anfang und wird weißer je mehr man in die Jahre kommt. Aber dann kommt die Vorsorge wie­der, das Rech­nen und Denken. Das Auf-der-Reihe-Blei­ben-Müssen, daß man seine Ruhe hat. Das läßt einen nicht zu sich kommen. Das raubt ei­n­em den Schlaf. Da wird man nicht froh, nie. – Das Ticken der Wanduhr.- Das mit dem Lauritz, Baldur, ist nicht das einzige Mal gewe­sen, daß jemand zu uns ge­kom­men ist, der nicht zur Verwandt­schaft ge­hört hat. Auch der Herr Waldbach hat einmal hier gesessen, fuffzig oder ein­und­fuff­zig, das war die Zeit, als sie nicht woll­ten, daß ihr He­­r­­an­wachsenden in die Junge Ge­­meinde geht. Da hat er hier ge­sessen, in dem brau­nen Anzug, den er immer trug, und hat sich einen Kognak ein­schen­­ken las­sen vom Os­­­wald, und ist er­leichtert gewesen, daß der Oswald ihm so schnell ent­ge­gen­gekom­men ist. Aber der Herr Waldbach war uns ja auch entge­gen­ge­kommen. Der hätte nicht herkommen brauchen, um uns zu sa­gen, daß du eine Zeit lang nicht mehr in die Junge Ge­­meinde gehen sollst. Der hätte uns auch in die Schule bestellen kön­nen. Aber das ist ihm als unan­ständig er­schienen, weil er ja bis dahin selber in die Kirche ge­gan­gen ist und mitge­sungen hat im Kir­chen­­­chor. Da hat er da­mals auch ei­ne Pause einlegen müssen. Das ging erst wieder nach dreiundfünfzig, da ließ der Druck nach, und er hat wieder auf der Empore stehen können im Gottesdienst und das Kyrie elei­son mit­sin­gen. Ei­nund­fünfzig aber hat er hier gesessen und nicht auf­­ge­schaut und hat in seinen Kognak ge­guckt, und gesagt, daß er das als dein Klas­senleh­rer ma­chen muß. Und der Oswald hat genickt und Ver­ständnis gehabt für seine Lage. Und gesagt, daß man sich gegen­seitig unterstüt­zen muß. Die Junge Gemeinde ist von der Ulrike gehalten wor­den, dem Fräulein Ernst, Bal­dur, und da hatte sich was ange­bahnt zwi­schen ihr und dem Her­mann. Das hab ich zuerst gewußt, daß da was ist, denn ich hab den Her­mann getroffen auf dem Hof vom Kirchge­mein­dehaus, als ich aus dem Frau­enkreis ge­kom­men bin. Das war im Januar und bitter kalt, und er ist hin und her ge­laufen in dem Schnee, und hat so getan, als käme er aus dem Jungmänner­werk und wollte ge­ra­de gehen. Und ich hab keine bösen Ge­danken gehabt und ihn gerufen, daß wir ein Stück zusammen ge­hen, und da hat er gesagt, daß er auf jemand wartet, und ist verle­gen ge­wesen. Also, ich hätte das nicht für mög­lich gehalten, daß das das Fräulein Ernst ist. Das war für mich undenkbar, daß der Hermann um die Hand der Katechetin anhält. Ihr gegenüber, und gegenüber dem Pfarrer Wiechert und Apothe­ker Breiten­bachs, wo sie gewohnt hat, habe ich mich als etwas anderes ge­fühlt. Die haben zur Herr­­schaft ge­hört, und ich war die Hauswirt­schaf­terin, die Be­dienstete. Das war noch so drin. Und dem Oswald ist es genauso gegangen, sonst hätt er sich spä­­ter nicht so be­müht um die Anerken­nung sei­ner Schwägerin. Die Sache mit der Ulrike, das ist im Got­tes­dienst pas­siert, da ist der Hermann jeden Sonntag hinge­gan­gen, weil er es als ein Wun­der angese­hen hat, daß er die Gefan­genschaft über­lebt hat und heil zu­rückge­kom­men ist aus dem Krieg, und da hat er sich nach zwei Jah­ren, wo er sie im­mer nur gesehen hat, dann einmal ein Herz gefaßt, und ihr einen Brief ge­schrie­ben, in dem er sich er­klärt hat. Also, der Lauritz, das ist der Vater gewesen von der Haus­schild oben, und deshalb woh­nen die da. In der Wohnung sind vorher die Böhms ge­wesen, der Mann Ingenieur in der Wi­ma in Oberstraßbach, und bald nach dem We­sten, und da­nach ist die Wohnung re­serviert wor­den für einen von der Wis­mut, einen Par­tei­­sekre­tär, aber der ist nicht ge­kommen, da ist was gewesen drei­und­fünfzig. Was ge­nau, weiß ich nicht, viel später erst, du bist schon nicht mehr ar­beiten gegangen, hat der Boro­wski zum Oswald ge­sagt, der hätte einen Fehler ge­macht da­mals, und die Partei hätte Kon­sequenzen zie­hen müssen. Die wär ja die Or­ganisatorin der Wirt­schaft gewesen, und da hätte sie den Arbeitern, das hieße sich selbst, zuleibe rücken müs­­­sen. Und Se­kretäre, die sich nicht ins eigene Fleisch hätten schnei­den kön­nen, wä­r­en untauglich gewesen. Denn das wär ja nun mal so: Zur Ar­beit müsse der Mensch ge­­­zwun­gen wer­den. Wo er herkomme, hat der Oswald den Boro­wski da fra­gen wol­len, wenn er an­nehme, daß der Mensch von Natur faul sei. Aber er hat es nicht getan, son­dern nur Jaja gesagt, denn der Boro­wski ist ja im Zuchthaus gewesen und war nun angestellt in der Be­zirksleitung und hat die Macht ge­habt. Al­so, die Woh­nung hat leer gestanden, und da hat sich der Os­wald drum ge­küm­mert, daß da die Haus­schilds rein­kommen, dem Lauritz zulie­be, aber das wär nicht gegan­gen, wenn der Hausschild nicht bei der Poli­zei gewesen wär. Dem sein Vater war Steiger im Schacht in Oberlug, und da ha­ben sie welche ge­sucht für die Polizei, wo die Eltern Arbei­ter wa­ren, und die haben sie dann unter­stützt in je­der Hin­sicht. Aber der hat dann gleich was zu tun ge­kriegt, der Hausschild, was ihn be­­kannt ge­macht hat in der gan­zen Stadt. Der hat den Führer ver­haf­ten müs­sen, den kennst du auch noch, das war ei­ner aus Weiß­dorf, der hat im Krieg was abgekriegt. Der ist durch die Stadt ge­laufen den gan­­zen Tag, immer am Bordstein lang, einen Fuß oben, einen un­ten, und der rech­te Arm nach oben wie in der Nazizeit, und dazu hat er ge­brüllt, Und der Führer hat ge­sagt, und der Führer hat gesagt, aber was der Führer ge­sagt hat, hat man nicht erfah­ren, denn er ist immer bei dem einen Satz ge­blieben. Das ging die ganze Nach­kriegs­zeit, und es hat sich nie­mand dran ge­stört, denn man hat ja gewußt, daß er ver­rückt ist. Aber dann ist drei­und­fünfzig die Sa­che gewesen in Berlin, und da haben sie alles ver­meiden wol­len, was hier etwas hätte auslösen kön­nen, und deshalb hat die Volkspoli­zei ihn von der Stra­ße weg ver­haftet. Der sei voll­kommen er­staunt ge­we­sen, wie ein Kind, hat der Haus­­schild später er­zählt, und habe sich wider­stands­los ablie­fern lassen im Gefängnis auf der Gustav-Freytag-Straße, das es ja da­mals noch gab. Später hat er sich beruhigt, da hat er sogar wieder arbeiten können. Da ist er in der Ziegelei gewe­sen an der Pres­se, und hat in der Bretterbude dort in der Zugluft gestanden, halb­nackt, das hat die El­la er­­zählt, die zu der Zeit schon weg war aus dem Brauhauscafé, weil sie nicht mehr trag­­bar war als Kellnerin. Da hat sie die Arbeit ge­funden in der Ziegelei. Und da ha­ben sie ihn manchmal be­trunken ge­macht. Und wenn sie ihn ha­ben auf­zie­hen wol­len, haben sie gefragt, was der Führer gesagt hat, aber der Adolf, so haben sie ihn nun gerufen, hat sich an nichts mehr erin­nern können. Mir hat das leid ge­tan, als ich das gehört hab, aber die Ella ist hart gewe­sen, die hat gesagt, einer hat ja die Ar­beit machen müs­sen in dem Schlamm und in der Kälte, und bes­ser ein Ver­rück­ter, der nichts merkt, als ei­ner, der erst noch ka­putt­geht da dran, und ihr werde auch nichts ge­schenkt. Daß ei­nem nichts geschenkt wird, und daß man sich umtun muß in der Welt, hat dein Vater ins Feld geführt, als deine Schul­zeit zu Ende war. Da hatte der Os­wald mit dem Her­mann geredet, der ja neben dem Gleisbau die Abend­schule ge­macht hat bei der Bahn, und da haben sie noch Leute gebraucht und da hast du zur Bahn gesollt. Aber du bist krank geworden, als du das erstemal in die Berufs­schule hast fahren müs­sen, das war schrecklich, da will ich nicht mehr dran denken. Da ist das erste Zeichen ge­wesen, hat spä­ter der Herr Böhm gesagt, daß du in einer eigenen Welt lebst und Angst hast, sie zu verlassen. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu ei­nem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Da bin ich dann lieber mit dir mit­­ge­fah­ren, als du wieder gesund warst, und hab dich abgelie­fert in Kappel, und wie­der abge­holt nachmittags, und auf dich gewartet zwei Stra­ßen weiter den ganzen er­sten Winter, damit deine Mit­schüler mich nicht sehen. Da­­nach ist es besser ge­wor­den, und das letzte Jahr, bevor du aufs Stell­werk bist, hast du es alleine ge­schafft. Wohl­ge­fühlt aber hast du dich nur zu Hause. Da hast du mir wie früher ge­hol­fen beim Sau­bermachen und Ein­kaufen und bist für mich mit dem Handwagen und der Roll­wä­sche hinun­ter­gefahren in die Man­gel zu Krapps. Ich hab mir da Vorwürfe gemacht, daß ich bei deiner Geburt ge­wünscht hab, daß du ein Mäd­chen wirst. Viel­leicht ist das deshalb ge­kommen. – Das Ticken der Wanduhr. – Aber das ist ja ein Irrtum gewesen, daß man es als Frau leich­ter hat. Das ist ja kein wirkli­cher Rückzug gewesen, denn es holt einen alles ein, wovor man sich ge­fürch­tet hat. Alles. Aber vielleicht ist auch das falsch, und die Leute haben recht mit ihr­em Reden, das einmal so geht und einmal so, und man nicht weiß, woran man sich halten soll. Da machst du es vielleicht richtig, alles für dich zu be­hal­ten, und dich zu ver­stec­ken. Da­mals als der Oswald mit Breitenbachs angefangen hat, war es mir auch nicht recht. Das war, nach­dem die Lei­polds nach dem Westen abgehauen sind, und die Kern­­for­merei VEB ge­worden ist. Da ist es ziem­lich drunter und drüber gegangen im Be­trieb, und der Os­wald ist auf den Gedanken gekommen, daß es nicht allzulange ge­hen kann im Osten, und hat deshalb angefangen mit in die Kir­che zu ge­hen, und so sind wir einmal zusammen ge­gan­gen, über die Lutherkurve, Baldur, und dann das Spitz­weg-Gäß­chen hoch, und du bist zu Hause gewesen, wenn du nicht Schicht hat­test, und hast auf das Mit­tagessen aufge­paßt. Daß hatte ich aufge­setzt, be­vor wir los­ge­gangen sind. Das war schön damals, wenn wir zurück waren zum Essen. Da kam man von draußen und hatte geredet. Vor der Brauthalle oder vor der Sakristei mit dem Hermann und dem Fräulein Rosen­ste­cher, die sich um die Kinder gekümmert hat, denn die Ulrike hat ja immer zu tun ge­habt im Gottesdienst und um den Gottes­dienst herum, und mit Heilprak­tiker Böhms und Apotheker Breitenbachs. Die haben sich auch abends manchmal ge­troffen, die Frauen im Zimmer von der Frau Apothe­ker, und die Männer im Her­ren­zim­mer, und manchmal die Ehepaare zu­sam­men, und dann in der Wohnstube, die Sa­lon ge­heißen hat. Und weil der Herr Apothe­ker und der Pfar­rer Wiechert sich interessiert haben für einen, der was von der an­de­ren Seite berich­ten kann, aus den volks­ei­gen­en Betrieben und von der Gewerk­schaft, denn der Oswald ist ja schon in der BGL gewesen, haben sie uns einmal einge­laden. Das ist aber nicht bei Breitenbachs gewesen, sondern auf dem Grundstück von der Frau Wittgen­stein, ganz oben an der Lutherstraße, die hatte da ein Sommer­häus­chen. Die war ziem­lich einsam, denn der Mann war im Krieg ge­fallen, die Fabrik hat­te sie auch schon nicht mehr, die Töchter alle im We­sten, und da ist sie dann auch noch rüber, kurz vor dem Mauerbau. Bis dahin aber hat sie ganz al­lein gelebt mit dem Dienst­mädchen in ihrer Stadt­­woh­nung auf der Gildenhausstraße. Da war sie froh, daß sie den Ge­sprächs­kreis hatte bei Breitenbachs. Das war im Som­mer, als wir dort ein­ge­la­den wa­ren, ein schöner Abend, und auf einmal ich mitten drin unter solch vor­nehmen Leuten. Nein, wir ha­ben da nicht hin­gehört, der Oswald und ich, da war etwas durch­einan­der ge­kom­men über den Krieg. Über Schriftstellerei ha­ben sie geredet, über ei­nen, der Rilke hieß, das weiß ich noch, weil ich bei dem Na­men die Vorstellung hatte von den Pflan­zen, die sich hoch­­­rankten an dem Sommer­haus von der Frau Witt­gen­stein, und ich hab gedacht, daß der Rilke über so was schreibt. Daß überhaupt ein solches Thema aufgekommen ist, lag an dem Bruder von der Ulrike, der war gerade zu Be­such. Das war ein Bauer aus der Torgauer Gegend, und ich hab mich gewun­dert, daß der Zeit hat, das zu lesen. Und über­haupt – ein Landwirt. Im Kuhstall hab ich mir den nicht vor­stellen können. Später haben sie uns auch ins Gespräch ziehen wollen, und haben den Oswald etwas gefragt über den Be­trieb, doch er hat Angst ge­habt, daß er was Fal­sches sagt, und nur drum­rumgeredet. Da haben sie dageses­sen und auf ihre Fuß­spitzen geguckt. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu ei­nem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Danach sind wir nicht mehr einge­la­den worden, doch der Oswald hat An­spie­lun­gen gemacht nach der Kirche, und gesagt, wie schön es war, aber nie­mand ist drauf einge­gan­gen. Ja, und dann ist plötz­lich die Ulrike an Krebs gestor­ben. Im Februar entdeckt und im Au­gust war sie tot. Da hab ich ihren Bru­der, den Bauer, noch einmal gesehen zur Be­er­digung, und da hatte er das Parteiab­zei­chen dran. Da war er LPG-Vorsitzen­der, und der Os­wald ist auch nicht mehr in die Kir­che ge­gan­gen. Das war einund­sechzig, und zwei­und­­sechzig hat der Hermann wieder geheiratet. Ein­und­sech­zig, da sind wir in Ahl­beck gewesen in Ur­laub. Da hat der Hermann ein Te­le­gramm ge­schickt, daß nun auch die Mut­ter noch ge­stor­ben ist. Die hatte ihr Leben lang Zucker und nichts da­von gewußt, weil sie zu keinem Arzt gegangen ist. Die pfu­schen mir nur in die Natur. Das hatte sie aus dem Gebirge, da haben das alle geglaubt. Den Tag, nach­dem das Tele­gramm ge­kom­men ist, hat der Os­wald rumgeknurrt in un­serem Zimmer im FD­GB-Heim und ist un­aus­steh­lich gewe­sen. Und dann ist er auf den Bahnhof gegan­gen und hat eine Um­weg­kar­te gelöst über Leipzig, weil er über Berlin nicht mehr hat fahren wollen. Da hat­­ten sie was ge­bracht im Radio über Berlin, und die Mauer ge­baut, und im FDGB-Heim, das war beim Frühstück, ist es still gewe­sen. Dann hat ei­ner was gesagt. Die Schweine, hat er ge­sagt, und ist abgereist. Im Zimmer oben hat der Os­wald ge­meint, daß sie die Wohnungstür jetzt abgeschlossen haben, und wir un­ter uns sind und Ord­nung ma­chen in der Republik. Ich hab dabei gestan­den und hab die Kof­fer gepackt wegen der Be­erdigung, und hab an den Her­mann denken müssen, wie der im Westen hat bleiben sollen, als er nach dem Tod von der Ulrike seine Kriegskamer­a­den besucht hat, und bin froh gewesen, daß er noch hier war. Zu der Zeit hat die Bet­tina schon die Kinder versorgt. Und da war sie schon mit auf der Be­erdigung von der Mutter, und ist, als die Rede auf die Mauer kam, ab­wech­selnd rot und blaß geworden. Das haben alle ge­merkt, und der Oswald hat es übertrie­ben ge­funden. Es wär ihr ja nichts persönlich verloren gegangen dadurch. Kein Be­sitz, der Arbeitsplatz eher noch gesichert. Ich hab aber gewußt, daß sie oft im Westen war mit einem Schwa­ger von ihrer Schwe­ster und gern im Schwarzwald ge­wesen ist. Aber ich hab ge­schwie­gen und ab dem näch­sten Tag den Vater versorgt, und dann die gan­zen Jahre. Da hatte der Hermann wieder ge­heiratet und die Bettina hat ge­sagt, daß sie dem Opa das Essen kochen und auch die Einkäufe er­ledi­gen kann, aber ich hab das nicht zuge­ge­ben. Ich war froh, daß ich das hatte. Daß ich mal raus konnte bei uns, nachdem wir nicht mehr in die Kirche gin­gen. Und später hatten die unten im Bahn­­hof den Kleinen, der Bet­ti­na ihr Kind. Das hat mir ge­fal­len, wenn er bei mir am Tisch ge­ses­sen und ge­fragt hat, wa­rum ich auf­schrei­be, was ich einkauf und das Geld dahin­ter setze und nach­­rech­ne, was ich be­zahlt hab. Das hatte ich intus von der Mut­ter und von der Haus­­wirt­schafts­schule. Das wurde auf Heller und Pfennig ver­rechnet, was der Vater mir ge­ge­ben hat zum Ein­kau­fen. Aber ich hab das nicht ge­macht, wenn die Bettina hinten war. Die war noch zu jung, die hat das nicht begriffen, daß man auf den Au­genblick hin be­reit sein muß. Der Va­ter war ja schon weit über die Siebzig damals. – Das Ticken der Wanduhr. – Ich bin dann doch wie­der in die Kirche gegangen. Das war, nachdem die Kernforme­rei einge­glie­dert wor­den ist nach Karl-Marx-Stadt, und der Oswald oft dort gebraucht wur­de. Da hatte er wieder ein Verhältnis, da will ich nicht drüber reden. Eine von der Ge­werk­schaft. Da hat er ge­dacht, daß mich das tröstet, wenn er mich in die Kirche ge­hen läßt. Da bin ich dann also allein gegangen und das war im März. Das Schmelz­wasser ist das Spitzweg-Gäßchen heruntergelaufen und im Garten von der Brau­ne-Villa haben die Tropfen an den Ästen gehangen. Da ist das ge­wesen, daß ich ge­dacht hab, daß ich den Gashahn auf­dreh. Und dann hab ich in der Kirche gesessen auf der letzten Reihe, und hab den Kopf gesenkt bei der Beichte und hab mich geschämt. Und wenn ich wieder aufgeblickt hab nach dem Se­gen, hab ich vorn den Vater sitzen sehen und auf der anderen Seite den Her­mann und die Bet­ti­na, und das Fräu­lein Ro­senste­cher, und da hab ich ge­wußt, daß ich nur so weiter ma­chen kann. Das ich das aushal­ten muß mit dem Oswald und keine schlechten Ge­dan­ken haben darf. – Das Ticken der Wanduhr. – Und da ist dann mal ei­ner gewesen. Der kam aus der Nieder­lausitz und war geschie­den. Deshalb hat er sich hier­her versetzen lassen in die Möbel­stoffwe­berei auf der Gil­denhausstraße, und da war er al­lein hier, und hat Trost gesucht im Got­tesdienst. Und so sind wir manchmal nebeneinander herge­gangen nach der Kirche. Er rechts am Zaun an der Brau­ne-Villa, und ich links, wo die Gärten sind, die sich her­auf­zie­hen von den Häusern an der Jere­mias­stra­ße. Und da hat er mich ange­spro­chen und gesagt, daß die Sonntage nicht ein­fach wären für ihn. Ich hab da aber nur genickt und mein Gesang­buch fester gepac­kt. Und hab gera­de ausgeblickt, und so ist es zu kei­nem Gespräch gekommen. Und da­nach hab ich hier in der Wohnung geses­sen. Da ist mir Ahlbeck in den Sinn ge­kom­men, das Hei­mat­­­mu­se­um, wo wir mal durchgegan­gen sind, der Os­wald und ich, und gesehen haben wie alles, das gan­ze Le­­ben, die Zeit von vor drei­hundert, vier­hun­dert Jahren, nur noch Aus­stel­lung war. Da war das vor­bei, das Sich-Bücken und Schwitzen und Sich-Strec­ken, und das Auf-die-Ord­nung-sehen im­mer – das hat man sich nun da­zudenken müs­sen. Und das ist leicht gewesen, das ist ei­ne Freiheit gewesen im Ver­gleich zu dem wirklichen Leben. Das war es, Baldur, was die Mutter ge­wollt hat in St. Jakob, wenn sie alleine in der Stube ge­sessen hat auf ih­rem Stuhl. Da war ihr ihre Einrichtung ein Museum. Da haben ihre Gedanken wan­dern können. Ich hab daran den­ken müssen an ihrem Grab, als sie ge­storben war, und ich in der Trauerge­meinde ge­standen hab ne­ben dem Heinrich und dem Oswald und der El­la. Die Ella hat da noch zur Familie ge­hört, und war noch nicht in Verruf in der Stadt und weg aus dem Brau­haus­café, und wir hatten noch Kon­takt mit ihr. Daß wir dann nicht mehr mit ihr gesprochen haben, da hat sich der Os­wald drum geküm­mert. Aber ich hab sie ja sehen kön­nen, hier aus un­se­rem Kü­chen­fenster, so wie ich da­mals die Ko­netzky’n ge­sehen hab in ihrem Schlaf­­zimmer. Da hat sie einmal mit der Nacht­tisch­lampe geworfen nach ihm, die Zigarette im Mund. Und der Wolfgang und der Gerd sind hereingekommen, und der Heinrich hat hilflos dage­standen vor seinen Kindern. Da ha­ben sie mir leid ge­tan. Vor allem der Gerd, der war damals zehn. Der hat ja dann sein Schicksal gehabt in der Görlitzer Ge­gend. Das hat da­ angefangen. Den hat die Frau betrogen, wie die Ella den Heinrich. Lebensgierig war die, die Ella, bis zu­letzt. Als sie das hatte in der Zie­gelei mit dem aus Er­lau, einem jun­gen Kerl, da war sie schon alt, dürr vom Rau­chen und hatte ein scharfes, fal­ti­ges Gesicht. Da hat ihr der Hein­rich in den Ohren ge­legen, wegen dem Gerede in der Stadt, und da hat sie ihn kurzer­hand rausgeschmis­sen. Und das ist ihr dann auch noch gelohnt wor­den. Sie hat einen Orden gekriegt in der Zie­gelei, Banner der Arbeit, da hat viel Geld dran ge­han­gen. Wir haben da später oft dran den­ken müssen, als du weg bist vom Stellwerk und keine Rente gekriegt hast, weil du nicht zum Arzt gegangen bist. Und der Herr Böhm hat dich ja auch nicht invalid schreiben dürfen als Heilpraktiker. Da haben wir hier ge­sessen und gerechnet, und ab da hast du von unseren Ersparnissen gelebt. Da haben wir das oft gedacht und uns auch ge­sagt, daß sie den Falschen das Geld nach­werfen. Denn das hat ja mit der Ella nichts zu tun gehabt dieser Orden. Der war ein­mal da und mußte verteilt werden. Und weil sie in der Ziegelei die Trocknung auf Dampfhei­zung umgestellt hatten, und die Ella das erste Lattengerüst hat hin­ein­fah­ren dürfen in den neuen Trocknungskanal, hat sie ihn gekriegt. Von rechts wegen hätte der Inge­nieur ihn kriegen müssen, der die Anlage entworfen hat, aber die In­struktio­nen sind so ge­wesen, daß ein Arbeiter hat aus­gezeichnet werden müssen. Und da ha­ben sie gedacht, daß die Ella ja nun alleine ist mit zwei Kindern und das Geld brau­chen kann. Und ha­ben danach, Baldur, alle Ziegel­wer­ke der Gegend zusammen­gefaßt in einem Betrieb und die Ziegelei auf der Wiesenthal­straße zugemacht! Die Dampf­kanal­trocknung und der Orden – alles für nichts! Da hat der Os­wald, als er Schulungs­lei­ter geworden ist bei der Gewerkschaft, gemeint, das müßte man den Leuten mal erzählen. Also das Geld, Baldur, das hat die Ella  ver­jubelt. Ist nach Karl-Marx-Stadt gefahren in den Chemnit­zer Hof zum Tanz und hat die große Dame ge­spielt. Das war aber ihr Schwanenge­sang. Zu schnell alt ge­wor­den ist sie und hat die Män­ner nicht mehr bezirpsen kön­nen. Da hat sie nichts mehr ge­habt, was ihr hätte Halt geben kön­nen, denn was sie gehabt hat bis dahin, das ist ver­gäng­lich gewesen. Ob sie mal auf­geschaut hat aus ihrer Ziege­lei? Da hätte sie am Berg die Kir­che über Oberstein-Willerthal sehen können, den Turm mit dem Grünspan auf dem Dach und der Kugel darunter. Jetzt hat sie sie ja täglich vor Augen, wohnt im Stollengäßchen, und ist für die Leute in der Stadt nur noch die Liebe. Liebe, Liebe, das rufen ihr die Kinder nach aus der Hilfsschule im Rie­delstift, weil sie sich so furchtbar aufregt dar­über. Und da fuchtelt sie mit dem Stock und schimpft in ihr­em schle­sischen Dialekt und stinkt nach Tabak und abge­standener Wäsche. Und die ganze Stadt nennt sie die Liebe und sie .. ist mit uns ver­wandt. – Das Ticken der Wanduhr. – Ja, Donnerstag für Donnerstag sind wir hin damals zu dem Herrn Böhm, als du aus dem Stell­werk weg bist, Baldur. – Das Ticken der Wanduhr. – Und da lag das zehn Jahre zurück, daß die Frau Borowski mich ange­sprochen hat im Haus, wie mir die Bluse gefällt aus dem Exqui­sit. Zehn Jahre, Baldur, daß ich blaß ge­worden und schnell die Treppe runter bin, und am Abend was gesagt hab zum Os­wald. Aber er hat alles abge­stritten und gesagt, wer weiß, wen die Boro­wski’n gesehn hat auf der Brückenstraße in Karl-Marx-Stadt, ihn nicht. So ist es im­mer gewesen, Bal­dur, kein Herankommen, und da haben wir ge­lebt, je­der in seiner Tar­nung und ha­ben geschwie­gen. – Das Fenster wird geschlossen. Schritte, die plötz­lich innehalten. Angehaltener Atem. Es klingelt, und nach einer Pause noch einmal. Von draußen eine Frauenstimme: „Herr Olbrich ..? Ich bin Frau Schönborn, ihre Nachbarin. Frau Schönborn, Baldur! Ich darf Sie doch Baldur nennen? Ich kenne Sie ja noch als klei­nen Jungen, da habe ich Sie Baldur genannt, wenn Sie an meinem Garten vorbeige­gangen sind, einkaufen für Ihre Mutter, erin­nern Sie sich?“ – Pause. – „Herr Olbrich, ich mach mir Sorgen um Sie! So .. so ohne jede Bewegung .. Sie sitzen auf Ihrem Stuhl neben der Tür .. So se­he ich Sie nämlich, von meinem Fenster aus .. Stunde um Stunde .. Vier Jahre, Herr Olbrich, die das nun schon geht .. – Nein, wenn ich Sie nicht manchmal mit dem Staub­­sau­ger gesehen hätte .. würde ich .. annehmen müssen .. würde ich die Po­lizei rufen, Herr Olbrich!“ – Pause. – „Wollen Sie, daß ich jemand rufe?“ – Lan­ge Pause oh­ne Ge­räusch. Dann das Ticken der Wanduhr, das schwächer wird, bis es ver­schwin­det. – Oja, Baldur, ein manches Mal hab ich mir ein Ende ge­wünscht, hab gewünscht daß ich sterb, aber ich bin nicht ge­storben, keiner ist ge­stor­ben, auch der Oswald nicht, und da bin ich wie über mir gewesen, und hab mich gese­hen, wie ich meine Wirt­schaft mach, so wie ich sie ge­macht hab seit sech­zig Jah­ren. Das ist wie auf deinem Stellwerk ge­we­sen, Baldur, wenn ich dir das Essen ge­bracht hab sonntags und dann noch auf dem Stuhl gesessen hab zwi­schen dem Fenster und deinem Schreibtisch mit den Te­lefonen und dem Stem­pel­ka­rus­sel und der Schale mit den Kopierstiften. Ich hab da über das Land gucken kön­nen, über die Kohlehalden von Oberlug bis hinauf ins Gebirge. Das ist mal ein Ruhe­punkt gewesen. Aber dann ha­ben sie im Bahnhof die Umstellung vorgenom­men, und haben die Fahrdienstleiter aufs Stellwerk gesetzt, und da ist das zu ei­nem Ende gekom­men mit dir. Da ist es wie ein Einbruch gewesen für dich in deine Welt, denn das hast du nicht gekonnt, einfach so reden. Und da bist du in der Wahrheit gewesen. Und bist in der Stille gewesen und im Schweigen. So wie ich tagaus tagein ein halbes Jahrhundert im Lärm von Braune & Langer drüben. Und so wie der Os­wald unter den vielen Worten, die er gemacht hat. Aber das hast du nicht mehr gehabt. Du hast keine Tarnung mehr gehabt, daß man dich hat angucken kön­nen. Und das ist keiner für die Leute, den man nicht angucken kann. Und da ha­ben die Fahr­dienstleiter den Dienst ge­tauscht, so oft sie konn­ten, um nicht mit dir zu­sammen­zu­­sein. Und so waren wir hier, die ganzen Jahre, Bal­dur, in un­serer Wohnung auf der Courths-Maler-Straße, und es ist mir vorge­kom­­men wie auf deinem Stell­werk, wie auf einer Kanzel, wie über dem Le­ben. Und die Ge­räusche aus der Stadt sind ganz fern gewesen, und da haben wir manchmal das Wohn­­stu­ben­fenster aufma­chen müssen, um noch was zu hören. Und da ist einmal das Fen­ster aufgegan­gen ne­ben uns, wie da­mals, als der Krieg zu Ende war, und die Frau Fried­rich und der Os­wald den Rauch haben rauslas­sen müssen von den vielen Zi­ga­ret­ten. Aber diesmal war das nicht die Frau Fried­rich drüben, sondern der Herr Bo­rows­ki, jedoch auf unse­rer Seite ist es noch im­mer der Oswald gewesen. Und Fen­ster an Fenster, so haben sie da gestan­den, der Buchhalter Oswald und der Parteisekretär Borowski, und hin­unter­gelauscht zum Kreis­rat, wo die Demon­stra­tion war. Und ich bin zu der Zeit vom Flei­scher ge­kom­men und hab bei der Haus­schild oben die DDR-Fah­ne ­hän­gen sehen mit einem kreis­runden Loch in der Mitte. Und dann bin ich die Treppen hoch mit der Ein­kaufs­tasche und stand hier und hab mich umge­schaut in un­se­rem Wohn­zim­mer, und es war alles, wie ich es im­mer woll­te, wie es immer war: An seinem Platz. Wie ich es in St. Ja­kob im Sei­del­schen Haus gelernt und ein Leben lang ge­halten habe, Stun­de um Stun­de, bis es Zeit war.