Maria Magdalene (2012)
Idee
Eine Gruppe von Schauspielstudentinnen beschäftigt sich mit der Biografie von Marie. – Marie, eine Altersgenossin, aus kleinbürgerlich-zementierten Verhältnissen kommend, zeigt große charakterliche Übereinstimmung mit der Figur Clara aus dem Stück „Maria Magdalena“ von Hebbel. Marie hat das Talent zur Schauspielerin, aber ihr ängstlich-aufrichtiger Charakter hindert sie daran, sich an einer Schauspielschule zu bewerben. Indem sie gegen diesen Charakter, das heißt gegen ihr Gewordensein ankämpft, kämpft sie gegen sich – und scheitert. – Vielleicht erzählen die Schauspielschülerinnen ja von ihrem eigenen – überwundenen – Gewordensein.
Fabel
Die heranwachsende Marie fühlt sich, vor allem als Mädchen, nicht zum Leben dazugehörig und mit ihrer Anhänglichkeit an einen schwachen Vater als anachronistisch. Aber so ist sie nun einmal, schuldlos, wie sie denkt, weil so gemacht. Sie möchte sich zeigen, wie sie ist – vielleicht in der Hoffnung auf eine Veränderung mit anderen – und stellt sich eine Existenz als Schauspielerin vor. Sich aber an einer Schauspielschule zu bewerben – dazu fehlt ihr der Mut. Sie hat Angst, vor einer Aufnahmekommission als diejenige erkannt zu werden, als die sie sich selber sieht: Ein mutloses, unterdrücktes und auch lasterhaftes Wesen. Als letzteres empfindet sie sich vor allem in der Beziehung zu Simon, bei dem sie im Sex Vergessen sucht; sie flieht zu ihm vor ihren Ängsten. Als ihr Vater aus einer Lebensuntüchtigkeit heraus, aus Angst vor der Welt, sich mit seiner Familie immer weiter in seine vier Wände zurückziehen will, und dadurch Maries Mutter das Leben zur Hölle macht, verlässt sie – spontan, und ohne, dass sie eigentlich weiß, was sie tut – die elterliche Wohnung und zieht zu Simon. Dort – und durchaus im Widerstand gegen Simon – fängt sie allmählich an, sich auf ihre eigenen Kräfte zu besinnen. Sie kann sich vorstellen, vor der Aufnahmekommission der Schauspielschule als die zu erscheinen, die sie ist. Sie kann sich vorstellen, sich zu erkennen zu geben. Und sie wird sich von Simon trennen, der sie in ihrer Hilflosigkeit und Lebensangst als sein Geschöpf betrachtet. – Bevor sie ihre Vorhaben ausführen kann, erfährt sie vom Tod ihres Vaters, der – auch aus Gram über ihr Weggehen – einem Herzleiden erlegen ist. Sie kann nun ihre Pläne nicht mehr ausführen. Sie wirft sich vor, nicht stark genug zu sein, die Konsequenzen der Entscheidung für ein eigenes Leben auszuhalten. Diese Patt-Situation kettet sie enger an Simon, der für sie – ursprünglich für einen Videoclip – die Rolle einer toughen, moralisch unkenntlichen Frau geschrieben hat. Sie glaubt, dass sie mit einer solchen Rolle ihr anachronistisches Dasein hinter sich lassen, und sich zu ihrem „Vatermord“ bekennen kann. Sie beschließt, sich mit dieser Rolle an der Schauspielschule zu bewerben. In der Nacht vor der Aufnahmeprüfung erkennt sie jedoch, dass sie mit einer solchen Rolle sich weiter vor sich verstecken wird. Sie sagt sich zwar, dass es sich hier um die Darstellung eine Rolle, quasi um den Vollzug des angestrebten Berufes handelt, ihr eigentlich Bedürfnis aber – ganz in der Welt zu erscheinen, vollständig, ohne Rest – würde sie damit verfehlen. Wiederum andererseits sieht sie ihr Bedürfnis, sich so zu erkennen zu geben, als ein Resultat ihrer protestantisch-kleinbürgerlichen Erziehung an. Vollständig, nackt und ohne Vorbehalt hat ihr Vater vor seinem Gott gestanden. Sie ist seine Tochter, sie ist gegen eine solche, „ihre“ Struktur, wie schon gegenüber dem Gefühl, schuld zu sein am Tod des Vaters, machtlos. Ohne Perspektive und von Simon, dessen Geschöpf sie nun nicht mehr ist, vor die Tür gesetzt, sucht sie Vergessen im Rausch und in sexuellen Begegnungen, und gerät so an den Rand des Abgrundes.
Thema
Das angstbesetzte Scheitern, das Nicht-verlassen-können der patriarchalen Struktur
Subthemen
Wirkliche Individualität nur durch schonungsloses Sich-Zeigen im historischen Gewordensein
Gibt es einen Sinn für das Individuum und gibt es eine Bestimmung? Gibt es Grund für ein Vertrauen in eine Ordnung?
Entzug des Vertrauens durch das Leben selbst.
Tussen: Triebe – alles, was das Leben unwägbar macht und Vertrauen erschüttert – auch das kann aufgefangen werden durch das „Aufscheinen einer Antwort“
Kann ich mich ändern …… Wie kann ich mich ändern ….
Aufscheinen einer Antwort
Clara konnte nur leben mit der Liebe des Vaters
Marie kann auch nur leben mit der Liebe eines (abwesenden) Vaters die Lösung wäre die „andere Welt“, die selbst die Liebe wäre
das Reden über diesen Zusammenhang (kommunikatives Theater) wäre ein Vorgriff auf diese Welt!
Sprache und Raum
Rollen und Rollensituationsstimmen
natürliche Stimmen (Schauspielschülerinnen)
Stimmen, die zu den Zuschauern sprechen
„Bei-sich“-Stimmen
Hauptwiderspruch Migrationsherkunft
öffentliche Meinung (Simon, Fräulein, Tussis)
Bühne. Asylheim / Abschiebehaft / Gefängnis / Käfig – ein Käfig mit Rundlauf (für öffentl. Meinung) – z.B.: beim Beischlaf: eine Marie im Käfig – eine draußen
Spielweise
Stellung im postmodernen Theater
es gibt noch Familienbande es gibt noch Gott es gibt noch den Wunsch nach Freiheit über sich selbst das soll noch für einige andere Leute zutreffen wo haben die seit 1840 überlebt? seit Kopernikus, Darwin, Freud und dem Naturalismus seit der Kapitalismus begann Familienbande und Gott zu zerstören? welche soziale und künstlerische Entwicklung hat bewirkt, dass sich diese Leute jetzt als Minderheit zu Wort melden müssen?






Maria M. (Stimme 2):
Es ist sicher, dass ich denke …, dass ich dort denke: Meine Marissa Wiegler wird auch eines Tages sterben! Getötet von mir! Und danach, denke ich, werde ich weggehen hier. Und komme ans Ziel. Und dann sollen alle mal fragen, wer ich wirklich bin!
Diese Szene am Anfang des Filmes! Wo Hanna, die Andere, den Tod von Marissa Wiegler probt … Wo sie mit dem Pfeil auf den Hirsch schießt …
Maria M. (Stimme 1):
Und dann trifft sie ihn nicht richtig, und dann liegt der Hirsch auf der Erde und sieht sie an aus seinen rotgeäderten Augen und kann nicht sterben … !
Chor 1:
Weiß sie, dass sie das eines Tages tun wird? Töten, was ihr im Wege steht?
Chor 2
Sie weiß es. Und denkt:
Maria M. (Stimme 2):
Noch hab ich Zeit. Noch kann ich leben wie alle. Noch hab ich Zeit ins Alhambra zu gehen mit Marie-Claire, Katalin und Britta und mir einen Film anzuschauen.
Maria M. (Stimme 1):
Der Film heißt: „Wer ist Hanna“. Nicht gerade ein Blockbuster. Aber du findest ihn gut, weil ….
Maria M. (Stimme 2):
Wegen dieser Hanna …. Sie weiß nicht, warum sie macht, was sie macht. Warum sie den Hirsch tötet. Sie macht, was ihr gesagt wird. Und wird dann in die Welt gesetzt. Ein Märchen.
Chor 1:
Märchen hat ihr einst ihr Vater vorgelesen.
Chor 2
Lange her.
Chor 1:
Aber eine Erinnerung. Ein Kleinod in ihrem Gedächtnis. Sie an seine Schulter gelehnt im Sessel.
Jetzt lehnt sie in einem Kinosessel und sie sehen diesen Film und Katalin findet ihn auch bekloppt:
Stimme von aussen:
Traumschiff für Kids!
Chor 1:
Aber Marie-Claire schüttelt den Kopf:
Stimme von aussen:
Das ist doch knallhart! Action!
Chor 2:
Das Bild: Die vier Mädchen im Alhambra.
Maria M. (Stimme 2):
Diese Hanna sieht aus wie ich!
Maria M. (Stimme 1):
Das bildest du dir ein! In allem entdeckst du dich!
Maria M. (Stimme 2):
Dass ich aussehe wie wer, hat bei Lidl auch einer gesagt. Er hat an der Kasse gestanden und gesagt: Du schaust aus, wie von Cranach gemalt! – Einer von der Universität, der hier manchmal einkaufen kommt. Im schwarzen Mantel und mit rotem Schal. Wenn ich zu Hause bin, gehe ich an den Laptop. Lucas Cranach. Maler. Das Bild, wo eine aussieht wie ich, finde ich nicht.
Maria M. (Stimme 1):
Gibt’s mit Sicherheit gar nicht, das Bild!
Maria M. (Stimme 2):
Wenn der Maler dieses Mädchen malt, dann hat er sie gesehen. Richtig gesehen. Nur so kann er sie malen. Also gibt’s das – dass einer eine sieht! Dass einer mich sieht! Dass einer sieht, dass ich mehr bin als ne Azubi bei Lidl!
Maria M. (Stimme 1):
Du bist nicht mehr als ne Azubi bei Lidl. Ne zukünftige Kassiererin. Das bist du.
Maria M. (Stimme 2):
Und Marie-Claire geht aufs Gymnasium.
Maria M. (Stimme 1):
Der Deutschlehrer soll zu ihr gesagt haben, sie sei nicht nur schön, sondern sie sei auf eine besonders schöne Art schön. Auf die Art, die sich nicht bewusst sei, wie gut sie aussieht. Oder Marie-Claire habe eine so gute Erziehung gehabt, dass sie das keinen anmerken lasse, dass sie weiß, wie sie aussieht. Und Marie-Claire hat geantwortet: Wieso sagen Sie das vor den anderen? Das ist doch peinlich. Sagen Sie es mir unter vier Augen. Da ist er rot geworden. Mir tut der Lehrer leid. Wenn er rot wird bei so was. Ich werde auch schnell rot. Und jeder sieht das, denn ich bin blass. Weil ich so wenig rausgehe. Weil ich im Wohnzimmer sitze auf der Franz-Jakob-Straße und nichts tue. Da bin ich wie nicht da. Und habe – kein Herz. Sitze im Wohnzimmer, habe kein Herz, und bin nicht da.
Maria M. (Stimme 2):
Quatsch! Du machst, was alle machen. Und natürlich hast du ein Herz!
Maria M. (Stimme 1):
Ja. Nur dass es – woanders schlägt!
Chor 2:
Einmal bei Lidl hat sie erfahren, wo es schlägt. Da geht sie weg vom Regale einräumen in den Pausenraum. Weil da ein Fenster ist. Und draußen ein Parkplatz und die S-Bahn. Und zwischen Parkplatz und Bahndamm eine Pappel. An der Pappel sieht man, wie der Wind geht draußen. Da schlägt ihr Herz! Da! Das fühlt sie! Und wo das Herz schlägt, da ist man.
Maria M. (Stimme 2):
Wer bin ich, wenn mein Herz woanders schlägt?!
Maria M. (Stimme 1):
Ein Mädchen. Ein ganz normales Mädchen. Versuch nicht, was Besseres zu sein! Sei wie die Anderen!
Maria M. (Stimme 2):
Eine, die allein in einem Wohnzimmer hockt – das bin ich.
Maria M. (Stimme 1):
Das machen viele! So sind viele!
Maria M. (Stimme 2):
Eine, die nicht da ist – das bin ich. Und im Korridor hängt ein Bild, da steht ein großer Mann in einem langen Mantel vor einer Kirchentür und hält ein kleines Kind an der Hand.
Maria M. (Stimme 1):
Ein ganz normales Mädchen? Die Tochter eines Vaters. Das bin ich.
Maria M. (Stimme 2):
Hör auf mit so Sachen, die du dir angelesen hast! Schnapp dir einen Jungen! Das bringt dich auf andere Gedanken!
Maria M. (Stimme 1):
Marie-Claire weiß, wer sie ist.
Maria M. (Stimme 2):
Gar nichts weiß die!
Maria M. (Stimme 1):
Doch. Sie schreibt es in einem Aufsatz. Mein schönste Ferienerlebnis. Eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn an den Baikalsee. 14 Tage ist sie mit Eltern unterwegs, und immer durch den Zug, obwohl sie das nicht soll.
Stimme von aussen:
In Russland sind viele kriminell, Marie-Claire. Deshalb bleibst du in unserer Nähe!
Maria M. (Stimme 2):
Und das macht sie gerade nicht. Sie quatscht einen an auf Englisch, und macht dem weis, sie ist aus New Jersey, und mit den Eltern, die Millionäre sind, unterwegs nach China. Der Russe glaubt ihr das. Und denkt nun nicht daran die Millionäre auszurauben, sondern verliebt sich in sie.
Stimme von aussen (Marie Claire):
Über vierzig ist der und Biologieprofessor und ein stiller, feiner Mensch. Und kann nicht fassen, dass es mich gibt. Mich, ein Wesen von einem anderen Stern!
Maria M. (Stimme 2):
Zwölf ist Marie-Claire damals, zwölf! Und schreibt:
Stimme von aussen (Marie Claire):
Ich habe ein bisschen Liebe in seine dunkle Heimat und seine Jahre gebracht, weil ich an die Liebe glaube. Und eben nicht an das Verbrechen. Da Fühle ich, dass ich DAS bin. Wenn ich das sage: Ich glaube an die Liebe.
CHOR 2:
Sie hat nichts zu Papier gebracht und ein leeres Blatt abgegeben. Sie hatte die Ferien in Morgenröthe-Rautenkranz verbracht. In einem Bungalow auf dem Grundstück einer Tante. Sie sind dort spazieren gegangen und haben abwechselnd – die Mutter und sie – gekocht in
dem Bungalow von der Tante. Und nachmittags ist sie auf einen Hügel gegangen, um Musik zu hören. Aber dann …..
CHOR 1:
Marie?
CHOR 2:
Marie, du bist dann auf einen Hügel gegangen, um Musik zu hören ….
CHOR 1:
Und dann …. ?
Maria M. (Stimme 2):
Kam der Junge aus dem Dorf auf den Hügel.
CHOR 1:
Und?
Maria M. (Stimme 2):
Katalin und Marie-Claire hätten gesagt, ich hätte mich verliebt.
CHOR 2:
Hast du .. ?
Maria M. (Stimme 2):
Nein, hab ich nicht.
CHOR 1:
Sondern?
Maria M. (Stimme 2):
Ich habe ….. Ich weiß auch nicht was … – „Sich verlieben“, wie das klingt …. Das kann man dazu nicht sagen. – Dieser Junge hat dagesessen an dem Hang. Hat neben mir gesessen, eine Pusteblume in der Hand gehabt und in den Himmel geguckt. – Das war – wie mit der Pappel. Da hat mein Herz geschlagen. Da! Nicht in, neben mir!
Als ob es mich gar nicht gäbe. Als ob es mich nur gäbe, wenn ich ein Teil dieses Jungen wäre. Der sich das leisten kann. Dasitzen und in den Himmel schauen. Den Monat davor, auf der Klassenfahrt … Wir waren im Freibad und haben eine Eckenhasche gemacht … Und dann bin ich aus dem Wasser gegangen, weil ich gemerkt habe, da läuft jetzt was anderes, weil Britta hat auf einmal so ein weiches Gesicht und herausfordernde Augen und geht so aufrecht auf der Einfassung entlang, und alle Jungs schwimmen an den Beckenrand und gucken zu ihr hoch, und wenn sie reinspringt, stoßen sich alle rückwärts ab vom Beckenrand wie Delphine, und jetzt geht was ab im Wasser …
CHOR 1:
Marie?! CHOR 1:
Maria M. (Stimme 2):
Wenn das in Morgenröthe-Rautenkranz mit „ich habe mich verliebt“ bezeichnet sein soll, dann ist das in dem Freibad mit „die haben sich wohin gefasst“ auch beschrieben! Aber es stimmt nicht. Es war eben – mehr! Es war auch … Ich weiß nicht …. – Was ich jetzt sage, habe ich mir nicht angelesen: Ich fühle, dass ich nicht so auf der Welt sein kann wie der Junge mit der Pusteblume. Und deshalb ist das kein Verlieben gewesen, dort auf dem Hang in Morgenröthe-Rautenkranz. Nicht so, wie ich es will. – Also diese Hanna: In einem Geheimlabor hat ihr die Agentin Marissa Wiegler etwas eingepflanzt, was sie zur Killerin macht. Das Projekt wird abgebrochen – Killerinnen, wie Hanna eine ist, sind durch etwas anderes ersetzt. Da ist sie nun überflüssig. Gefährlich für die anderen, wird sie gejagt, bis sie sich stellt, ihre Erzeugerin tötet und sich befreit. – Ihr Gesicht: Undurchdringlich. Man sieht nicht, was vorgeht. Etwas sitzt in mir, das mein Herz festhält. So kann es nicht atmen, nicht schlagen. Da sitzt das Leben eben neben mir. Britta, Marie-Claire, Katalin. Aber mein Gesicht ist das Gesicht eines normalen Menschen. Das ist so, bis ich den Film begreife. Und nun – ich sitze zwischen den Mädchen – wird mir warm; heiß eigentlich, so bis zum Brennen, dass ich Luft holen muss. Dabei zittere ich , und schaudere, aber ich genieße das, das Schaudern .. vor Lust, weil … ich bin mir nahe … – Vielleicht kommt das doch noch … Das es anders wird irgendwie. Aber dann muss ich …. – Nein, ich kann nicht aufbrechen wie sie, kann nicht fliehen … Der Feind ist in mir … Der Feind – bin ich ….
CHOR 2:
„Der Feind bin ich“! – Da gibt es doch noch etwas anderes in ihr! Das ist doch nicht die ganze Marie! Die Geschichte eines Mädchens, das aufbricht ins Leben, muss man anders erzählen!
CHOR 1:
Sie erzählt sie. Es ist ihre Geschichte.
CHOR 2:
Und weshalb ist sie bei Lidl? Sie ist zu intelligent dafür!
CHOR 1:
Sie war auch zu intelligent für die Schule. Deshalb hatte sie schlechte Noten.
CHOR 2:
Wenn man leere Blätter abgibt …
Eine Frau mittleren Alters tritt auf.
CHOR 2:
Wer soll das sein?
CHOR 1:
Die Petrowsky’n. Leiterin der Lidl-Filiale, in der sie die Ausbildung macht.
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Alles okay?
Maria M. (Stimme 2):
Ja.
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Was träumst du dann?
Maria M. (Stimme 2):
Was?
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Für einen Kunden drei Minuten! Viermal verzählt beim Wechselgeld! Viermal musst du einem Kunden neu herausgeben! Fünfzehn Leute in der Schlange und es ist keine Hochdruckzeit! Soll ich dir sagen, warum?! Weil du immer wieder zum Fenster guckst! Wer war’n das, der da rumgelungert hat? Vorm Schaufenster? Ne halbe Stunde lang?
Maria M. (Stimme 2):
Simon ist mit mir auf die Grundschule gegangen. Aber dann zog sein Vater nach Tempelhof, und da ging er dort auf die Schule. – Als wir in der 4. Klasse waren, hat Simon mal wegen mir einen verprügelt. – Danach hat er gesagt, dieser Junge hätte mich komisch angesehen. Hatte der aber nicht. Sondern so, als wolle der, dass ich mit ihm rede. Der hatte seine Mutter bei einem Unfall verloren.
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Zurück jetzt an die Kasse! Und alles Private hat draußen zu bleiben, verstanden!
SIMON
Der hat keine Mutter, und jetzt will er, dass die eine für ihn spielt!
Maria M. (Stimme 2):
Simon sagt das in der 4. Klasse! Und dann schubst er den Jungen ein ganzes Jahr lang, prügelt, beschimpft und verspottet ihn. Opfer, sagt er zu ihm.
SIMON
Wo die Mutter das Wichtigste ist im Leben, und du keine hast!
Maria M. (Stimme 2):
Ich bin ihm aus dem Weg gegangen, solange er noch in Lichtenberg war.
CHOR 1
Und Jahre später gibt es diese Party bei Britta. In Schöneberg, wo Britta in einer WG lebt seit ihrer Praktikumzeit bei einer Event-Agentur. Sie feiert ihren 17. Geburtstag. Alle ihre alten Freunde sind eingeladen.
CHOR 2
Und da steht Simon in der Ecke und hält sich an einem Bier fest.
CHOR 1
Guckt aber zu ihr. Und dann sagt er was zu den anderen, und dann reden die über sie.
Maria M. (Stimme 2):
Ich hoffe, dass er eher geht; denn wenn ich zuerst gehe, hängt er sich an mich. Aber er geht nicht. Und ich kann nicht die ganze Nacht bleiben. Also nehme ich meine Jacke. Und da lächelt er, stößt sich mit der Schulter ab von der Wand, und tänzelt neben mir her die Treppe herunter. Draußen redet er nicht, guckt mich nur an. Er amüsiert sich. In der S-Bahn fasst er mich im Nacken und mit dem Daumen massiert er meinen Hals.
SIMON
Hey, was soll das!
Maria M. (Stimme 2):
Sagt er! Und lächelt. Ich guck ihn groß an.
SIMON
Das denkst du doch?! Das willst du doch sagen, oder?!
Maria M. (Stimme 2):
Und immer noch hält er mich fest.
SIMON
Ich weiß so ziemlich alles über dich. Und ich weiß es von niemandem. Ich weiß es, wenn ich dich sehe.
Maria M. (Stimme 2):
Was soll ich denn da sagen?! Dass ich ihn doof finde, und dass er mich noch immer am Nacken hat wie eine Katze, und er soll mich loslassen?! – Ich erinnere mich an das letzte Schuljahr …. diese Mathearbeit. Die zu schwierig für mich war. Nie im Leben zu meistern. Ich hatte Angst, richtige Angst …… Ein Ziehen und Drängen zwischen den Beinen ….
Maria M. (Stimme 1):
Hey, Fräulein! Hör auf! So was gehört nicht hierher!
Maria M. (Stimme 2):
So ein Druck und ein Ziehen …
Maria M. (Stimme 1):
Hör auf!
Maria M. (Stimme 2):
Ich finde das doof, dass Simon mich im Nacken gepackt hält … Ich sage das nicht. Es ist nämlich auch etwas, worauf ich gewartet habe. Ohne das ich nicht leben kann. Ich kombiniere das – dort in der S-Bahn, wo mir immer noch ist, als baumle ich an Simons Armen wie eine Katze – ich kombiniere das mit der Mathearbeit, wo ich rausgehen musste, weil ich’s nicht aushielt …. .. also ist es auch Angst …. vor dem, was kommt … und von dem ich weiß, dass es kommt … … da wird, was sich hier anbahnt mit dem Kerl, eine Erlösung sein …. Ringbahn, wir sind in der Ringbahn. Tempelhof muss er aussteigen.
SIMON
Ich werde dich jetzt nicht fragen, ob du mit zu mir rauf kommst.
Maria M. (Stimme 2):
Und wieder fasst er mich im Nacken und noch ein bisschen fester, und zwingt dabei meinen Kopf so hinter und schiebt gleichzeitig den Hals zu sich rauf, und drückt seine Lippen auf meine. Und dann ist er weg. Ich finde es unanständig, dass mir das gefällt. Aber es ist Lust. So offen vor einem zu liegen.
Maria M. (Stimme 1):
Eine schmutzige Lust!
Maria M. (Stimme 2):
Ja. Aber wenn ich will, dass mich jemand sieht, dann so auch!
Maria M. (Stimme 2):
So nich, ne!
CHOR 1
Es klingelt!
Maria M. (Stimme 2):
Das ist Simon. – Er hat angekündigt, dass er mich besuchen kommt, und jetzt kommt er. Aber ich will nicht, dass er bei mir zu Hause ist. Deshalb gehen wir spazieren. Im Volkspark Friedrichshain.
SIMON:
Du haust ab mit mir vor deinen Alten? Ich bin nicht der ideale Schwiegersohn, wie!
Maria M. (Stimme 2):
Was willst du von mir?
SIMON:
Komm mal mit in die Film-AG!
Maria M. (Stimme 2):
Wohin?!
SIMON:
In die Film-AG.
Maria M. (Stimme 2):
Warum?
SIMON:
So zum Mut fassen. Auch könntest du in einem Video von mir mitspielen.
Maria M. (Stimme 2):
Worum geht es?
SIMON:
Um eine Performance.
Maria M. (Stimme 2):
Um eine Performance?
SIMON:
Ein Mann und ein Mädchen. Sie performen ihr Leben. – Komm, lass uns was anderes machen. Lass uns in eine Videothek gehen, einen Film ausleihen.
Maria M. (Stimme 2):
Der Film heißt Being John Malkovich. Damit gehen wir zu ihm. Er fasst mich wieder so im Nacken, dass ich mir vorkomme wie eine Katze. Wir sind in seinem Zimmer in Tempelhof: Eine Bude mit Hochbett; eine Matratze darunter. Obwohl ich liege, ist mir die ganze Zeit, als baumle ich an seinen Armen. Wie eine Katze. Die eigentlich spielen möchte, mit Krallen und Zähnen, mit allem. Aber er lässt mich nicht. Wenn man so im Nacken gehalten wird, zieht sich das Fell straff, und man kann sich nicht mehr bewegen. Man wird bewegt. Das ist, wie wenn man ganz enge Kleidung anhat. Da ist man wie nackig. Für ihn ist es geiler als nackig. Es ist mehr – gemacht. Hergerichtet – damit er Lust hat, mit mir was anzustellen. – Wir reden dann über den Film.
SIMON:
Diese Typen, der Puppenspieler und seine Freundin: Die haben jemanden besetzt. Um ficken zu können. Um berühmt zu werden. Um zu leben. Es ist der größte Film, den ich kenne. Und bei dir, was ist dein größter Film?
Maria M. (Stimme 2):
Ausgelöscht haben sie ihn. Sie haben John Malkovich ausgelöscht.
SIMON:
Was ist dein größter Film?
Maria M. (Stimme 2):
Es ist nicht so einer. So ein starker ist es nicht.
SIMON:
Welcher ist es?
Maria M. (Stimme 2):
Ich will es nicht sagen.
SIMON:
Du musst.
Maria M. (Stimme 2):
Muss ich?
SIMON:
Ja.
Maria M. (Stimme 2):
Er heißt: WER IST HANNA. Kennst du ihn?
SIMON:
Muss ich?
Maria M. (Stimme 2):
Wenn du richtig mit mir zusammen sein willst, musst du ihn kennen. Er sagt etwas über mich.
SIMON:
Ich muss ihn nicht kennen. Du bist, was ich aus dir mache. Gefällt dir das?
Maria M. (Stimme 2):
Nein.
SIMON:
Warum bist du dann da?
Maria M. (Stimme 2):
Weil das einfacher für mich ist. Weil ich das gewöhnt bin. Ich bin gewöhnt, dass ich bin, was man aus mir macht.
SIMON:
Dann bist du bei mir richtig.
Maria M. (Stimme 2):
Es ist nur für jetzt.
CHOR (1)
Der Film hieß Being John Malkovich. Damit gingen sie zu ihm. Er fasste sie wieder so im Nacken, und in ihr – unter seinem harten Griff – fing es an zu denken …. fing ein Gedanke – der Hintergrund da schon immer, aber nicht formuliert, also nicht gedacht – fing der Gedanke an, Gestalt anzunehmen:
Maria M. (Stimme 2):
Eines Tages gesehen werden.
Maria M. (Stimme 1):
So wie das Mädchen, das aussehen soll wie du, und dann von einem Maler Lucas Cranach gemalt wurde? Guck dich mal jetzt an, hahaha!
CHOR (1)
Sie hörte sich selber schlecht über sich denken und fragte sich …..
CHOR (2)
… während Simon sie gegen den Pfosten des Hochbettes drückte ….
Maria M. (Stimme 2):
Auch so?
CHOR (1)
Und nickte sich zu:
Maria M. (Stimme 2):
Auch so!
CHOR (1)
Überhaupt, dachte sie: In allem. In allem, allem, allem:
Maria M. (Stimme 2):
Gesehen werden!
CHOR (1)
Dieser Simon, dachte sie, der sah sie nicht. Das durfte man nicht hoffen!
Maria M. (Stimme 2):
Gesehen werden!
CHOR (1)
Von Menschen, die sehen können, und die sie kennen lernen, indem sie sich zeigt. Denn wo man gekannt ist, ist man zu Hause.
CHOR (2)
Und nur für einen Augenblick – während ihr bewusst wurde, wie unpassend der Junge war, für das, was sie ihn an sich tun ließ – fragte sie, wie das gehen solle: Sich zeigen?!
CHOR (1)
Und sah – während Simon Menschen lobte, die andere Menschen besetzen – sah sich auf dieser Leinwand im Alhambra, sah sich auf jeder Leinwand, sah sich mit ihrem Leben, mit dem vollständigen Leben, mit allem, mit ihrer Taubheit, und wie sie vielleicht lebendig wurde auf dieser Leinwand: Vor der der Wedding, vor der Berlin, vor der der Globus saß!
CHOR (2)
Und alles, alles, das vollständige Dasein war ablesbar in ihrem Gesicht. Da stand geschrieben – in ihren ihr nun fremden Zügen – das feige Bedürfnis zu bleiben, fortzuleben als die, die man aus ihr gemacht hatte .. !
CHOR (1)
Und sah sich noch einmal: Mit schmalen Wangen und Augen, die, verhangen, aus sich selbst heraus klar wurden. Denn nun – weil sie die spielte, die zeigte, die sie war – war sie die nicht mehr!
CHOR (2)
Und dachte – während sie Simons Hand festhielt, die nach ihrem Schenkel griff – dass wenn …. also wenn … das nicht ein Traum sein sollte …
CHOR (1)
… aber das war es ja .. es war ein Traum …
CHOR (2)
…. also wenn es … mal angenommen .. diese Chance gäbe … dass Träume …
… was es ja theoretisch nicht gab, aber mal angenommen …
CHOR (1)
….. dass Träume wahr werden konnten … dann ….
I,2
LEITERIN LIDL-FILIALE
Wieso kommst du zu spät?
CHOR (1)
Die Petrowsky’n. Sie steht da mit ihrem grauen Gesicht und der großen Brille, und stemmt die Arme in die Hüften.
Maria M. (Stimme 2):
Entschuldigung.
LEITERIN LIDL-FILIALE
Marsch, marsch an die Kasse!
CHOR (2)
Sie darf gar nicht an die Kasse. Sie ist noch Lehrling.
CHOR (1)
Aber darüber regt sie sich nicht auf. Das, sagt sie, ist das Leben. Lehrjahre sind keine Herrenjahre.
CHOR (2)
Die Stimme des Vaters. Sie sitzt an der Kasse, tippt Käse ein, Müsli, Nordhäuser Korn und Räucherfisch.
CHOR (1)
Ihr Gesicht: Undurchdringlich. Man sieht nicht, was vorgeht in ihr.
Maria M. (Stimme 2):
Warum ist es an dir so vorbeigegangen?
CHOR (1)
Ihr Gesicht – das Gesicht eines normalen Menschen: Blickt den Kunden entgegen. Sie tippt ein: Rotkohlkonserven, Kürbiskernbrötchen, Achselspray.
Maria M. (Stimme 1)
Es ist nicht an mir vorbeigegangen. Es war, wie sie sagen und schreiben, dass es ist beim ersten Mal. Also ist alles in Ordnung. Es ist, wie es sein soll.
Maria M. (Stimme 2):
Es ist an dir vorbeigegangen!
Maria M. (Stimme 1)
Das Leben – es kommt schon noch.
CHOR (2)
Da wird ihr warm, heiß eigentlich, so bis zum Brennen, dass sie Luft holen muss ….
CHOR (1)
Weiter brennt es …
Maria M. (Stimme 1)
Es kommt nicht!
CHOR (2)
Ihr Gesicht: Undurchdringlich. Man sieht nicht, was vorgeht in ihr. So tippt sie ein: Joghurt, Gyros, Hundefutter ..
I,3
CHOR (2)
Als sie am Abend nach Hause kommt, steht der Vater auf dem Balkon. Raucht. Die Mutter setzt die Teller in die Durchreiche für das Abendbrot. Sie murmelt ein Hallo. Will in ihr Zimmer. Aber dann – geht sie auf den Balkon. Schaut geradeaus auf die gegenüberliegende Fassade. Neben ihr der Vater führt eine Zigarette an den Mund.
VATER
Wo warst du?
Bei einer Freundin.
VATER
Du bist 17!
Maria M. (Stimme 2):
Darf ich mit 17 nicht bei einer Freundin übernachten?
VATER
Darfst du, darfst du.
Maria M. (Stimme 1):
Das Leben – es kommt noch!
Maria M. (Stimme 2):
Ja, das diesmal, das war ja nicht wichtig.
Maria M. (Stimme 1):
Wann ist es wichtig?
Maria M. (Stimme 2):
Wenn es richtig ist.
Maria M. (Stimme 1):
Fräulein, Fräulein …. was für eine du bist!
Maria M. (Stimme 2):
Darf ich mit 17 nicht bei einer Freundin übernachten?
Maria M. (Stimme 1):
Darfst du, darfst du.
Lange Pause.
Maria M. (Stimme 2):
Eine Waise bin ich! In die Arme genommen werden möchte ich! Von einem Vater!
Maria M. (Stimme 1):
Haha!
CHOR (1)
Am Tisch senkt der Vater den Kopf, spricht das Gebet. Schneidet an der Schnitte, auf die die Mutter ein Spiegelei gelegt hat. Die Mutter – blickt auf das Besteck, das sie in Händen hält. Dann auf das Kind aus aufgeregten Augen:
MUTTER
Wo warst du wirklich?
Maria M. (Stimme 2):
Bei einer Freundin.
MUTTER
Bei welcher?
Maria M. (Stimme 2):
Katalin.
MUTTER
Ich werde sie anrufen!
CHOR (1)
Sie nickt. Erträgt das Schweigen, erträgt, dass der Vater Messer und Gabel auf das nicht aufgegessene Spiegelei legt, einen Schluck Tee nimmt und aufsteht. Sie hilft der Mutter abräumen; sagt dann:
Maria M. (Stimme 2):
Ich muss noch mal weg.
MUTTER
Aber du kommst zurück!
CHOR (1)
Unter der Tür dreht sie sich um. Der Vater auf dem Balkon.
CHORH (2)
Mit Blick auf die gegenüberliegende Fassade.
Maria M. (Stimme 2):
….. müsste der Weg, um auf dieser Leinwand vor dem versammelten Globus zu erscheinen …. dann könnte dieser Weg …
Maria M. (Stimme 1):
… vielleicht …
Maria M. (Stimme 2):
….. über eine Schauspielschule führen ..
Maria M. (Stimme 1):
Und exakt an dieser Stelle sagte Simon:
SIMON:
Dann bist du bei mir richtig.
Maria M. (Stimme 2):
Klar!
SIMON
Du bist wirklich bei mir richtig!
Maria M. (Stimme 2):
Nein!
Maria M. (Stimme 1):
Sie würde Schauspielerin werden! So einfach war das!
CHOR (1)
Und in dem Moment, als sie das klar denken konnte, und es ihr sehr einfach erschien …..
CHOR (2)…. gab sie Simons Hand frei.
CHOR (1 (1))
Die zugriff.
CHOR (2)
Sie ließ es geschehen, weil sie diese Klarheit, und dass es so einfach sein sollte, nicht aushielt.
CHOR (1)
Weil sie nicht aushielt, dass sie plötzlich, für diesen Augenblick, eine andere war.
CHOR (2)
Dass sie eine andere war, war ja eine Illusion!
CHOR (1)
Und sie hielt schon die Illusion nicht aus!
CHOR (2)
Und sagte zu Simon:
Maria M. (Stimme 2):
Es ist nur für jetzt.
I,8
CHOR (1 (1))
Unter der Tür dreht sie sich um. Der Vater auf dem Balkon mit Blick auf die gegenüberliegende Fassade.
CHOR (2)
Sie, mit gesenktem Kopf durch zwei, drei Straßen gelaufen, auf einer Bank am Fennpfuhl.
CHOR (1 (1))
Wasser, das kalt blinkt unter dem hellen Vorabendhimmel.
CHOR (2 (1))
Zwei Bänke weiter – die Schuhe auf der Sitzfläche –die Rose von Jerichow.
Maria M. (Stimme 2):
Katalin?
CHOR (2 (1))
Nirgends zu sehen.
CHOR (1)
Die Rose von Jerichow …..
CHOR (2 (1))
…. fingert in einer Tüte, stopft die Überreste eines Döners in den Mund, hockt da in der Frühlingskälte in einem schmutzigen Mantel aus dicken Stoff ….
CHOR (1)
…. wer gab ihr den Namen?
Maria M. (Stimme 1):
Dunkel wird es. Ich verkrieche mich in meinen Anorak. – Die Rose – schaut zu mir herüber.
Eine Frau mittleren Alters tritt auf.
CHOR (1)
Wer ist das?
CHOR (2)
Frau Hanisch. Ehemals ihre Lehrerin.
FRAU HANISCH
Marie, alles in Ordnung?
Maria M. (Stimme 1):
Ja.
FRAU HANISCH
Man gibt kein leeres Blatt ab, Marie!
Maria M. (Stimme 1)
Ich konnte nichts schreiben. Ich hatte nichts erlebt.
FRAU HANISCH
Jeder erlebt was! Und in den Ferien – was Schönes!
Maria M. (Stimme 1):
Ich hatte nichts erlebt in eurer Sprache.
FRAU HANISCH
Nicht so hochmütig, Fräulein! Hochmut kommt vor dem Fall!
Maria M. (Stimme 1):
Entschuldigung.
FRAU HANISCH
Also?! Was ist passiert in deinen Ferien? Was gab es?
Maria M. (Stimme 1):
Eine Wahrnehmung gab es.
FRAU HANISCH
Eine Wahrnehmung!
Maria M. (Stimme 1):
Dass mir was fehlt.
FRAU HANISCH
So!
Maria M. (Stimme 1):
Dass mir alles fehlt.
FRAU HANISCH
So!
Maria M. (Stimme 2):
Ich bin wie nicht da. Ich habe – kein Herz. Ich sitze auf einer Bank im Fennpfuhl, habe kein Herz und keine Sprache für eine wie Frau Hanisch.
Maria M. (Stimme 1):
Hahaha! Du hast keine Sprache für dich!
CHOR (1)
Aufritt der Rose von Jerichow. Sie bettelt um Essen und benutzt dafür unverständliche Laute.
FRAU HANISCH:
Uns allen fehlt was. Nicht nur dir. Deshalb arbeiten wir. Deshalb arbeitest du. Dass du verdienst und erwirbst, was dir fehlt.
Maria M. (Stimme 2):
Es ist das falsche Arbeiten, an das ich denke. Überhaupt denke ich das falsche! Ich denke, was alle denken! Und will machen, was alle machen!
Maria M. (Stimme 1):
Was ist denn, was alle machen? Was willst du denn?
Maria M. (Stimme 2):
Mich nicht verkaufen.
Maria M. (Stimme 2):
Nicht so hochmütig, Fräulein!
CHOR (1)
Die Rose von Jerichow geht ab.
I,9
KATALIN
Marie! Deine Mutter hatte mich schon angerufen, als du am Telefon warst! Aber ich hab geschaltet Ich hab gesagt, dass du in der Nacht bei mir warst. Dass wir einen Film aus der Videothek geguckt haben, und dass wir darüber gequatscht haben, ob du nicht doch noch Abitur machst. Das hat ihr gefallen.
Maria M. (Stimme 2):
Katalin?
KATALIN
Hinter dir bin ich! Warum sagst du deinen Alten nicht die Wahrheit?
Maria M. (Stimme 2):
Welche Wahrheit?
KATALIN
Wo du warst.
Maria M. (Stimme 2):
Sie würden es nicht verstehen.
KATALIN
Wieso müssen sie es verstehen?
Maria M. (Stimme 2):
Ich muss es verstehen!
KATALIN
Was ist denn los mit dir?
Maria M. (Stimme 2):
Ich habe niemanden. Nicht mal mich. Die, die ich bin, will ich loswerden. Was bleibt da übrig?
KATALIN
Wo warst du denn in der Nacht?
Maria M. (Stimme 2):
Irgendwo war ich ….
KATALIN
Irgendwo?
Maria M. (Stimme 2):
.. wo ich alles vergessen konnte.
CHOR (1)
Sie denkt das auf einer Bank am Fennpfuhl.
CHOR (2)
Und Katalin?
CHOR (1)
War da .. war da nicht da …. wer weiß…
CHOR (2)
Simon …. Immer die Nacht mit Simon .. ! Sie bräuchte was anderes …
Maria M. (Stimme 1):
Wer weiß das schon …. Kalt ist es, das weiß ich, und unter den Büschen am Weg, und in der Dunkelheit blühen Schneeglöckchen.
CHOR (1)
Und sie?
CHOR (2)
Sieht sie sich da sitzen, sieht ihre Gedanken, hört die Stimmen, mit denen sie spricht, empfindet ….
CHOR (1)
.. während sie sich und ihre Gedanken wahrnimmt …
CHOR (2)
.. dass sie einen anderen bräuchte, einen, der …
CHOR (1)
… aber das war ja ..
CHOR (2) absurd …!
CHOR (1)
.. einen, der sie aufnahm … in die Arme nahm .. dort wo…
CHOR (2)
… und jetzt, als sie wahrnimmt, was sie empfindet; als sie wahrnimmt, was sie gleich wissen wird; steht sie auf, steht ..
CHOR (1)
… wenn jetzt also, was Empfindung ist, vordringt in die Gedanken ..
CHOR (2)
… geht sie, weil es so …. abwegig, so …. auch wieder nicht abwegig …
CHOR (1)
… so nur für sie ist ….
CHOR (2)
… geht sie einige Schritte …
CHOR (1)
.. um zu denken ….
CHOR (2)
… dass sie einen bräuchte, der sie in die Arme nimmt, hier, wo sie ist … hier, wie sie ist …
CHOR (1)
… einen Vater ….
CHOR (2)
.. den es natürlich nicht gibt! Das weiß man!
CHOR (1)
… aber sie .. wäre eine, die sich nicht loswerden bräuchte … !
CHOR (2)
… wäre die andere …
CHOR (1)
.. bräuchte sich also nicht zeigen, sondern würde ..
CHOR (2)
.. gesehen …
CHOR (1)
Und sieht sich noch einmal: Mit schmalen Wangen und Augen, die, verhangen, aus sich selbst heraus klar werden ….
CHOR (2)
.. weil sie die spielt, die zeigt – auch jetzt! – die sie ist …
CHOR (1)
All dies aber – gab es den Vater, den es nicht gab! – wäre in solchem Fall …
CHOR (2)
.. nicht notwendig!
CHOR (1)
Und hier – und sie empfindet vieles nur, denkt es nicht – kommt Katalin:
CHOR (2)
… also ist Katalin da gewesen …?!
Maria M. (Stimme 1):
… also hast du sie, in Gedanken, nicht wahrgenommen … ?!
Maria M. (Stimme 2):
… Katalin sagt:
KATALIN
Warum sagst du deinen Alten nicht die Wahrheit?
Maria M. (Stimme 1):
Welche Wahrheit?
KATALIN
Wo du warst!
Maria M. (Stimme 1):
Nein!
KATALIN
Nein? Wieso Nein?
Maria M. (Stimme 1):
Weil der Vater, die Mutter, weil meine Eltern nicht die sind, die ich brauche! Weil es etwas über mir oder um mich, das mich sieht, erkennt und in die Arme nimmt, nicht gibt!
CHOR (1)
Und in dem Moment, als sie das denkt…..
CHOR (2)
.. .. greift sie hinter sich in den Abfallbehälter neben der Bank auf der sie gesessen hat, fasst ein weggeworfenes Pausenbrot, schlägt die Zähne, schlägt ein Nagetiergebiss hinein, wie die Rose von Jerichow es getan hat, grunzt, bereitet sich so vor auf ein Leben, wie die Rose es führt ..
CHOR (1)
Doch alles, alles in der Rose will es, will: Dass es etwas gibt über ihr oder um sie, das sie sieht, erkennt und in die Arme nimmt!
CHOR (2)
Aber nur weil eine solche Erwartung, die keinen Grund hat, unausrottbar in ihr nistet, weil diese Erwartung sie war …
CHOR (1)
.. in einem anderen Leben sie war …
CHOR (2)
.. ist sie hier! Eine Ausgesetzte!
CHOR (1)
Der Rest der Welt ….
CHOR (2)
.. hat die Welt, hatte sich selbst – schon lange, von Anfang an, also schon immer und im Gegensatz zu ihr – begriffen.
I,10
Maria M. (Stimme 1): Tagelang sitze ich zu Hause rum. Immer Im Fernsehen läuft die NDR-Qizshow. Die Lindenstraße, Ein Fall für zwei, Marienhof, CSI, In aller Freundschaft…
Maria M. (Stimme 2): Das Fernsehen läuft, und ich bin in Gedanken. Unterwegs.
Maria M. (Stimme 1): In einem Film in einem Auto mit einer fremden Familie in Marokko. Vater, Tochter, Sohn und Mutter. Die Mutter ist etwas beknackt. Nach Spanien will die Familie. Für sie ist das Leben Urlaub.
Maria M. (Stimme 2): Hanna, eine Projektion, sitzt unter ihnen ..
Maria M. (Stimme 1): Ich sitze unter ihnen. Und mein Leben ist kein Urlaub. Wenn ich mich umdrehe, sehe ich ein Auto, dass uns verfolgt. Mein Feind. Hinter mir.
Maria M. (Stimme 2):
Tagelang sitze ich zu Hause rum. Immer.
Maria M. (Stimme 1):
Vergiss den Film. Wer ist der Feind?
Maria M. (Stimme 2): Ich.
Maria M. (Stimme 1): Was ist?
Maria M. (Stimme 2):
Katalin wird ein Praktikum in Babelsberg machen. Irgendwas mit Filmrequisite. Hat ihr über drei Ecken ihr Vater versorgt. – Bühnenarbeiter bei GG Stageservice Light and Sound ist der. ’N Typ mit dickem Bauch und langen Haaren. ’N Typ, der die Welt kennt von ’ner Baumarkteröffnung in Köpenick bis zum Rod Stewart Konzert in der Waldbühne. Die Stars sieht der, und die OBI-Schnösel. Und überall ist es das Gleiche. Alle sind gleich. Die Menschen unterscheiden sich nicht in ihrer Gier nach Aufmerksamkeit! Wollen gesehen werden. Machen alles dafür. Verleugnen sich selbst.
Maria M. (Stimme 1): Wie ich.
Maria M. (Stimme 2):
Ich – eine Schauspielschülerin.
Maria M. (Stimme 1): Dass ich nicht die werde, die dieser Beruf aus mir macht – dafür erzähle ich diese Geschichte.
Maria M. (Stimme 2): Katalins Vater ist froh, dass er anders ist. Dass er der langhaarige Assi geblieben ist, der er immer war. Und trotzdem gutes Geld verdient bei GG-Stageservice Light and Sound! Da lebt er wie auf ner Insel. Da ist er frei! Von Natur ist er frei.
Maria M. (Stimme 1): Ich nicht.
Maria M. (Stimme 2): Ich sitze vorm Fernsehapparat im Wohnzimmer des Vaters.
Maria M. (Stimme 1): Du sitzt vorm Fernsehapparat im Wohnzimmer des Vaters. Mit nachdenklichen Augen wegen Katalin, die gesagt hat: Mann, Marie, das wird ein anderes Leben als in der Platte in Lichtenberg! Andere Menschen, geile Connections, wenn ich Ausstatterin bin bei MGM Media Licensing! Da bin ich überall auf der Welt, und immer in der Welt, und nicht nur auf einer Pauschalreise an die türkische Riviera, aller drei Jahre einmal!
Maria M. (Stimme 2): Und du, Marie? Wohin willst du? Und: Was willst du?
Zeit und Ort – Struktur
Denkbar wäre, dass die heranwachsende Marie aus ihrer Gegenwart in die Zukunft und von dort auf sich zurückblickt.
Oder ihre Gegenwart ist Zukunft, von wo aus sie sich Vergangenheit vergegenwärtigt.
Diese Entscheidung ist – immer wieder – vom Publikum zu treffen: So dass der Ort tatsächlich der Raum zwischen Vorgestelltem (Dargebotenen) auf dem Spielfeld und Vorgestelltem (Mitgedachten) am Spielfeldrand ist.
Apropos Spielfeld: Da der Text beschreibt, was normalerweise darzustellen wäre, hätte sich dort etwas Anderes, die Entwicklung / Veränderung eines Kräftefeldes (der Stimmen und ihrer Inkarnationen) abzuspielen.
Blick aus der Gegenwart in eine antizipierte Zukunft und von dort zurück auf das gerade sich Abspielende, oder: Rückblick – in beiden Fällen gibt es für die Heranwachsende eine übergeordnete Instanz – die Marie nämlich, die alles hinter sich hat. Die Marie, die auf die Heranwachsende, Suchende zurück- und herunterblicken kann.
Im Fortgang des Textes – in fortschreitender Befreiung von der patriarchalen Struktur – verflüchtigt sich diese Instanz.
Andererseits aber gibt es nun nur mehr Gegenwart …..
Plot
Die heranwachsende Marie fühlt sich, vor allem als Mädchen, nicht zum Leben dazugehörig und mit ihrer Anhänglichkeit an einen schwachen Vater als nicht in eine Zeit selbstbewusster Frauen passend. Auf der anderen Seite möchte sie sich zeigen, wie sie ist – vielleicht in der Hoffnung auf eine Veränderung mit anderen. Vage stellt sie sich eine Existenz als Schauspielerin vor. Sich aber an einer Schauspielschule zu bewerben – dazu fehlt ihr der Mut. Sie hat Angst, von einer Aufnahmekommission – einer Instanz, die über ihr Leben entscheidet! – als diejenige erkannt zu werden, als die sie sich selber sieht: Ein mutloses, unterdrücktes und auch lasterhaftes Wesen. Als letzteres empfindet sie sich vor allem in der Beziehung zu Simon, bei dem sie die unentschiedene Situation, in der sie sich befindet, und die ihr Angst macht, vergessen will.
Als sich ihr Vater aus einer Lebensuntüchtigkeit heraus, aus Angst vor einer sich übervorteilenden Welt, mit der Familie weiter in seine vier Wände zurückzieht, und dadurch Maries Mutter das Leben zur Hölle macht, verlässt sie – spontan, und ohne dass sie eigentlich weiß, was sie tut – die elterliche Wohnung und zieht zu Simon. Dort – und durchaus im Widerstand gegen Simon – fängt sie an, sich auf ihre eigenen Kräfte zu besinnen. Sie kann sich nun vorstellen, vor der Aufnahmekommission als die zu erscheinen, die sie ist. Während der Beschäftigung mit ihrer Vorsprechrolle (Clara / Hebbel, Maria Magdalena) erkennt sie sich in jener und fühlt sich in ihrem Gefühl bestätigt, dass die Zeit weiter ist als sie. Als Angehörige einer Minderheit, als die sie sich nun noch deutlicher fühlt als vorher, will sie auf sich bestehen – Voraussetzung für eine wirkliche Veränderung. Und sie wird sich von Simon trennen, der sie aus ihrer Hilf- und Orientierungslosigkeit heraus zu seinem, zu einem atavistischen Geschöpf in modernem Design, machen will.
Bevor sie ihre Vorhaben ausführen kann, erfährt sie vom Tod ihres Vaters, der – auch aus Gram über ihr wortloses Weggehen – einem Herzleiden erlegen ist.
Sie ist nun nicht mehr fähig, ihren Plan zu erfüllen. Und wirft sich vor, nicht stark genug zu sein, die Konsequenzen der Entscheidung für ein eigenes Leben zu tragen.
Die Patt-Situation kettet sie enger an Simon, der für sie – ursprünglich für einen Videoclip – die Rolle einer toughen Frau geschrieben hat, eben jenes atavistischen Geschöpfes, zu dem er sie machen wollte: Ein Racheengel, der, im Gefolge eines Meisters, durch Berlin zieht, und in den S-Bahnen rassistische Übergriffe verhindert oder bestraft. Sie glaubt, dass sie mit einer solchen Figur ihr „Fehl-am-Platz-sein“ hinter sich lassen, und an einer Schauspielschule sich bewerben kann.
In der Nacht vor der Aufnahmeprüfung jedoch weiß sie, dass sie sich etwas vormacht. Zwar sagt sie sich, dass es sich hier um die Darstellung eine Rolle, quasi um den Vollzug des angestrebten Berufes handelt, ihr tatsächliches Bedürfnis aber – ganz in der Welt zu erscheinen – würde sie damit verfehlen. Inzwischen zur Frau geworden, erkennt sie, dass sie nicht Schauspielerin werden will, sondern eine, die, indem sie zeigt, wie sie ist, wirklich wird. (Dieses Bedürfnis führt sie auf ihre protestantische Herkunft zurück. „Ganz“ hat ihr hilfloser Vater vor seinem Gott gestanden. Sie ist gegen ein solches Gewordensein machtlos; sie kann es nur – unter veränderten Vorzeichen – vollziehen.)
Nach der Nacht vor der Aufnahmeprüfung (nachdem sie die letzte Möglichkeit zum Vorsprechen hat verstreichen lassen), ohne Perspektive, und von Simon, dessen Geschöpf sie nun nicht mehr sein wird, vor die Tür gesetzt, sucht sie Vergessen im Rausch und in sexuellen Begegnungen. Während sie von einer Welt träumt, in der sie sich, jenseits des Schauspielerberufes, ganz in einem reflektierten Gewordensein zeigen kann, verliert sie in dem Existenzkampf, der nun einsetzt, allmählich jede Möglichkeit zum Voraus- oder Zurückdenken. So gibt es bald keine Instanz mehr, vor der sie erscheinen könnte, und vor der sie Angst haben müsste