Deutsches Museum (1998)
Frauenstimme im off.
… mit einem großen Loch in der Mitte. Und dann bin ich die Treppen hoch mit meiner Einkaufstasche und stand hier und hab mich umgeschaut in unserer Wohnstube, und es war alles, wie ich es immer wollte: An seinem Platz. Wie ich es in St. Jakob im Seidelschen Haus gelernt und ein Leben lang gehalten habe, Stunde um Stunde, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Neunundzwanzigtausend Abende, sechshunderttausend Stunden. Und dann wieder aufstehn. In St. Jakob in der Küche hing neben der Tür der Neukirchner Christliche Abreißkalender. War das Blättchen abgerissen, war der Tag absolviert. Das war der Grund, Baldur, weshalb der Vater, dein Großvater, es immer erst im Nachthemd las. Danach kam er herüber, ließ sich auf den Rücken fallen, faltete die Hände über der Brust und bewegte die Lippen. Da ging er den Tag durch. Da hat er aufgeräumt in seinem Innern, so wie die Mutter die Küche aufgeräumt hat vorher. Danach war Stille. Wenn wir wieder aufstanden in der Frühe, lag das Blättchen noch auf dem Vertiko. Die Mutter nahm es und schloß es in den Schrank zu den anderen Blättchen. Da sammelte sich das Jahr. Bevor wir aus dem Haus gingen, mußte Ordnung sein. Jeden früh wurde die Stube gekehrt und gewischt, und Bohnern sonnabends. Und auf dem Büfett durfte nichts stehen als die Brotkapsel. Die Fränzi, bei der wir im Haus wohnten, konnte meine Mutter nicht leiden. Wenn der Heinrich nicht gekommen wär, damals als der Oskar beim Militär war in Metz, hätte der die nie genommen. Der hätte andere haben können, wo er doch bei der Bahn war. Wo er doch königlich-sächsischer Beamter war. Damals aber war er ja noch in der Papiermühle. Die Fränzi, das war die Familie der Schwester des Vaters. Vor der hat die Mutter sich gefürchtet. Der Mann war Verwalter auf dem Speicher in Grünheinersdorf, und sie konnte keine Kinder kriegen, weshalb sie rumgekommen sind in der Welt, bis Chemnitz. Wenn wir zurückkamen vom Feld, ging es im Haus weiter. Vor meiner Geburt ist meine Mutter um die Zeit wischen gegangen beim Verleger, Albert & Veit. Aber nachdem der Vater bei der Bahn war, ging das nicht mehr. Das wäre nicht standesgemäß gewesen. Er war ja da Beamter bei der Bahn. Da haben sie den Gürtel enger schnallen müssen, denn mehr verdient hat der Vater nicht als Gleisbauer. Wenn wir zurück waren vom Feld, hab ich etwas spielen können. Ich hab von den Großeltern eine Puppe gehabt. Der Großvater war auch bei der Bahn. Hat an der Bahnhofssperre gestanden in Braunsdorf-Langenfels und hat einen gezwirbelten Bart gehabt wie der Kaiser früher. Die Puppe ist aus Porzellan gewesen und hat Beine gehabt zum Biegen. Der hab ich die Kleider gewaschen und sie zum Bleichen ausgelegt neben den Hasenställen. Aber wo das Haus war, hat nie die Sonne geschienen. Die Mutter, deine Großmutter, hätte es am liebsten gehabt, wenn sie hätte in der Stube auf einem Stuhl sitzen können und um sie herum wäre nichts gewesen. Das ging aber nur am Sonntag. Sonntag, das ist Sonne. Die früheste Erinnerung. Da sitze ich allein in unserer Wohnstube und rühre mich nicht vom Fleck. Da waren sie in der Kirche. Die Wohnstube war die Woche über verschlossen. Da war die Ewigkeit drin eingesperrt, Ordnung und Stille. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu einem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Die Mutter wollte keinen Besuch, auch nicht am Sonntag. Früher, wenn sich jemand näherte über den Steg vorm Erzbächl, verschwand sie einfach. Wir mußten dann sagen, sie ist Schuhe austragen. Mein Vater reparierte Schuhe, wenn er zurück war vom Gleisbau. In Wirklichkeit aber war meine Mutter auf dem Abort, der im Haus war bei uns. Später ist dann fast kein Besuch mehr gekommen. Das war ihr recht. Sie wollte nicht, daß jemand sah, wie es zuging bei uns. Dabei war es nicht anders als bei den anderen. Aber man redete im Dorf. Daß der Oskar die Unger-Ella nie genommen hätte, wenn nicht der Heinrich da gewesen wäre, als er beim Militär war in Metz. Er war da Bursche bei einem Offizier, dem hat er die Stiefel wichsen müssen und den Drillich schrubben. Nämlich wenn sie hinausgingen ins Feld, war der Drillich weiß, aber wenn sie zurückkamen, war er schwarz. Da kannst du mal sehen. Zwei Jahre hat die Mutter zubringen müssen mit dem kleinen Heinrich, ehe sie hat heiraten können. Da hat sie nur ihn gehabt, und da ist er ein Mama-Kind geworden. In der Zeit hat sie sich nicht aus dem Haus getraut. Wenn sie über die Straße ging, hielt sie beide Unterarme über der Schürze, die Hände fest aufeinandergepreßt. Gehen tat sie gekrümmt, den Blick auf dem Boden. Im Arm hing die Einkaufstasche, und in der Tasche war der Milchkrug. Das war sonnabends. Da ging sie zum Bauer Kuhmilch holen. Sie hätte auch nur mit dem Krug gehen können, aber dann hätten die Leute gewußt, daß sie Kuhmilch holte. Das war ihr nicht recht, daß die Leute ihr hineingucken konnten in die Wirtschaft. Das war eben die Zeit, die sie hat mit dem ledigen Kind zubringen müssen. Da hat sie gewußt, daß in ihr drinnen die Sünde sitzt, und daß die Leute begierig sind auf die Sünderin. Da hat sie niemanden mehr hineingucken lassen wollen in sich. Deshalb auch hat sie es am liebsten gehabt, wenn alle draußen waren sonntags und sie hat allein in der Stube auf ihrem Stuhl sitzen können. Da ist es schon wie vorbei gewesen, das Essen kochen und das auf den Acker gehen und das die Wäsche machen und der Streit mit dem Vater, wenn sie ihm wieder und wieder hat vorwerfen müssen, daß es unrecht war damals nach dem Tanz in der Tanne, als er ja gewußt hat, daß er zum Militär muß. Das hab ich gehört draußen, wenn ich mit der Puppe gespielt hab. Der hab ich die Kleider gewaschen auf dem Schrubbrett und durch die Rolle gedreht und sie zum Bleichen ausgelegt neben den Hasenställen. Das ist die beste Zeit gewesen, denn ich hab auf dem Hang gesessen unter den Obstbäumen und hab den Blick gehabt hinunter ins Flöhatal. Das war die Erholung. Das war der Auslauf aus den 4 x 6 Metern, die die Küche gehabt hat im Seidelschen Haus. Da haben wir Drahtbürsten hergestellt in Heimarbeit. Wir haben auf Hockern gesessen vor einer Vorrichtung, in die haben wir den Draht kreuzweise einschieben müssen. Auf dem Hang dann unter den Obstbäumen bin ich für mich gewesen. Der Heinrich, der hat das nicht gekonnt, der war zapplig. Der hat das nicht ausgehalten, wenn wir den Draht einschieben mußten in die Bürstenachse. Sechs Stunden in der Schulbank, danach vier Stunden auf dem Schemel und mit öligen Fingern. Da hat er sich in die Hose gegriffen. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu einem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Die Mutter hat ihm eine Ohrfeige gegeben, aber der Vater hat ihn richtig verhauen, als er das mitgekriegt hat, daß er beim Bürstenmachen rumspielt an sich. Wenn der Vater den Ochsenziemer rausholte, schloß die Mutter die Fenster. Oft hat ja der Heinrich die Dummheiten gemacht, aber ich hab die Dresche gleich mitgekriegt. Ich hab nicht geschrieen, ich hab das ertragen. Aber der Heinrich hat geschrien wie am Spieß. Ich hab mich geschämt für ihn, so ein Geschrei. Das hat den Vater noch mehr in Wut versetzt, daß man das gehört hat draußen. Da hat er noch mehr zugeschlagen. Da hat er sich nicht leiden können. Die anderen Kinder wurden auch geschlagen. Schlimm war, ins Haus oder auf die Straße zu gehen, wenn es Dresche gegeben hatte. Mit dem Gesicht, das ich der Mutter abgeguckt hab, hat sich aber keiner getraut mich anzusprechen. Auch nicht die Fränzi. Aber die hat einen so angeguckt. Bloß, die hatte ja keine Kinder. Die hat das ja nicht gekannt, die Angst um das eigen Fleisch und Blut, daß es auf die falsche Bahn kommt. Als ich größer wurde, hat der Vater mich nicht mehr gestraft, und nicht mehr angeguckt. Da ging er in den Schuppen, wenn Badetag war. Und der Heinrich mußte mit und der Hermann. Wenn ich im Bett lag, kamen sie wieder herein. Dann wurden die Brüder geschrubbt. Später mußten sie es alleine tun. Da hab ich sie gehört in der Küche. Da war ich in meinem Bett in der Abgeschiedenheit und draußen war der Hang. Da ist der Wind den Berg runtergefahren. Das war mir das liebste. Da hab ich an Gott gedacht. Der war wie Wind und Stille, ein strenger Vater. Und das man einmal sterben muß, hab ich gedacht. Da hab ich an unsere Wohnstube gedacht und keine Angst davor gehabt. – Schritte im Treppenhaus. Beschleunigter Atem im Vordergrund. Wer draußen die Treppe hochsteigt, bleibt stehen. Angehaltener Atem. Die Schritte entfernen sich. – Wieder einsetzender Atem, der sich allmählich beruhigt. – Angst hab ich gehabt, als der Krieg ausbrach. Da zogen die Männer mit Musik die Dorfstraße hinunter zum Bahnhof. Zuerst spielte sich das für uns vor dem Fenster ab. Die anderen Kinder standen am Straßenrand und warfen Blumen zwischen die Soldaten. Die Mutter hatte keine Lust zu dem Trara, aber als sie sah, daß das ganze Dorf draußen war, holte sie die guten Sachen raus. Der Vater war auch da, also war Sonntag. Es war eine Begeisterung, aber er war froh, daß er nicht mit mußte. Er war u.k. geschrieben, weil er bei der Bahn war. Da mußte er sich kein schlechtes Gewissen machen, denn daß er nicht mitging, geschah nach dem Willen der Obrigkeit. Die Schuhknechts waren nie für Abwechslung. Nie. Alle nicht. Darüber, daß der Vater nicht mit mußte, hätte auch die Mutter froh sein müssen. Die hatte noch die Zeit in den Knochen, als sie den Heinrich klein hatte, und der Vater in Metz war beim Militär und keinen Urlaub kriegte. Da haben sie sich im Dorf das Maul zerrissen. Aber sie war nicht froh. Sie war im Leben nie froh. Die Arbeit immer, das Auskommen und daß man sich nichts zuschulden kommen läßt. Und dann hat sie die Männer gesehen, in ihrem Staat, in den Uniformen auf der Dorfstraße, und hat die Musik gehört. Das war ein Fest für sie, ein Ereignis in ihrem Leben. Da weiß ich noch, wie sie gestrahlt hat. So kannte ich sie gar nicht. Da war ich vier. Da war sie froh, daß sie sich hat überreden lassen. Aber der Oskar, dein Opa, hat Futter gehauen hinter dem Haus. Und sie hat an der Straße gestanden mit uns in unserem Sonntagsstaat und hat an die Päckchen denken müssen, die die anderen kriegen würden aus Frankreich und aus Rußland. Jedenfalls hat sie davon gesprochen, später, wie die anderen das gekriegt haben. Aber von den Päckchen hat bald keiner mehr geredet, sondern von den Gefallenen. Aus der Ungerschen Verwandtschaft sind einige umgekommen, ich weiß nicht mehr alle, aber der Fritz war dabei, der Bruder von der Mutter. Seinen Namen kannst du lesen an der Kirche, wenn du nach St. Jakob kommst. Aber du wirst nicht hin kommen, denn du bleibst hier und führst dein Stundenbuch. Trägst deinen Blutdruck ein, das Gewicht und die Blutzuckerwerte. Und hast recht damit, denn die Gesundheit, das wollen die Leute. Die Gesundheit, das ist die Voraussetzung, um seine Pflicht zu erfüllen. Dazu muß man bereit sein, auch wenn sie nicht ruft. An einen kann ich mich erinnern, Baldur, den Weißbach-Georg. So ein Langer, der einen nicht angeguckt hat. Der ist spazieren gegangen, um die Kirche herum und über den Friedhof, die Hände auf dem Rücken, und hat vor sich hingebrabbelt. Von dem haben sie erzählt, daß er nichts essen kann. Den hat eine Granate weggeschleudert bei Sedan, und er ist gelandet in einem, dem hatte es den Bauch aufgerissen. Und da hat er immer den Geruch gehabt von dem seinen Eingeweiden und hat nichts mehr essen können. Da hat der Seidel seine Witze gemacht. Da hat er gesagt, daß es das beste ist für einen, wenn er nichts essen kann, wo es sowieso nichts zu beißen gibt. Denn daß man was beißen muß, ist es, was einen zum Vieh macht und die Welt zu einem Schlachthaus. Der Seidel ist auch nicht im Krieg gewesen. Wie der Vater. Da haben sie gesagt im Dorf im Seidelschen Haus sitzt die Etappe. Das ist der Mutter nicht recht gewesen, daß sie das gesagt haben. Das hat sie nicht hören wollen. Nach dem Krieg ist der Vater Rottenmeister geworden beim Gleisbau. Auch weil er sich ordentlich verhalten hat über die Revolution. Da hat ihm der Vorsteher gesagt, daß Verlaß ist auf ihn. Und er hat es der Mutter gesagt am Küchentisch, als sie ihm in den Ohren gelegen hat, daß es hinten und vorne nicht reicht. Da haben wir wochenlang Hering gegessen und gekochte Kartoffeln dazu. Da hat er gesagt, daß, wenn es besser wird draußen, es auch bei uns besser geht. Wenn er nur bleibt in der Bahnmeisterei. Da hatte er schlimme Zeiten durch. Die Knochenarbeit als Handlanger auf der Strecke, und drei Kinder zu Hause. Das war am Anfang und danach war es lange auch nicht besser. Das hat ihm die Mutter zum Vorwurf gemacht, als sie gesehen hat, daß der Seidel, ihr Schwager, immer höher hinaufgestiegen ist im Grünheinersdorfer Speicher. Der hat ja als Arbeiter angefangen und ist dann Vorarbeiter geworden und dann Verwalter. Beim Vater haben sie erst später gesehen, was sie haben an ihm. In St. Jakob war mit der Revolution nichts, aber in Chemnitz. Mit dem Gleisbau sind sie ja rumgekommen. Da haben sie alles mitgekriegt, in Chemnitz, wo sie auf dem Theaterplatz einen Aufruhr gemacht haben und die rote Flagge gehißt. Das hat der Seidel erzählt, der bei den Sozialdemokraten war, der Vater nicht. Da haben sich welche heiß machen lassen. Es gab auch Kriegsgefangene, die beim Gleisbau arbeiteten. Franzosen meist, und Polen, oder Ukrainer, von denen er einen, einen Aufwiegler, an die Feldjäger übergeben hat, als die Revolution kam. Der Mann hat bei ihm gearbeitet, und ist dabeigewesen als sie die Reichswehr entwaffnet haben auf dem Hauptbahnhof drinne. Aber hier bei uns und in Flöha hat die Ordnung noch funktioniert. Da haben sie ihm zugesetzt. Und dann sind sie gekommen und da hat er ihn vortreten lassen müssen. Da war er in einer Zwangslage, wie auch mit dem Lederschild der Oswald später. Aber vielleicht hätte der Vater, dein Großvater im Bahnhof, die Mutter nie geheiratet, wenn sie nicht diese Zeit, 1901 bis 1903, hätte durchmachen müssen wegen ihm. Das ist seine Sünde gewesen damals, denn er hat ja gewußt, daß er zum Militär muß, als er nach dem Tanz über den Eppendorfer Hang gegangen ist mit der Mutter. Da war er achtzehn. Seinen Kindern hat er das nicht gesagt, daß er ein Sünder ist, der Mutter auch nicht in unserem Beisein. Aber die hat es gesagt zu ihm. Daß er es selbst gesagt hat. Daß er der Sünder gewesen ist. Sie hat ja nicht gewußt, wie ihr geschieht. Also hat er das abdienen müssen. Das ist aber nach seinem Willen gewesen. Immer, so wie ich ihn kenne, hat er sich an Gott gehalten und an die Bibel. Er hatte ja die Kriegsgefangenen unter sich beim Gleisbau. Franzosen meist, und diesen Ukrainer. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu einem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Also, dein Großvater hat nichts dafür gekonnt mit dem Ukrainer. Der kleine Mann muß seine Arbeit machen und sehn, daß er rechtschaffen bleibt. Der Oswald, was mein Mann war später und dein Vater, hat da anders gedacht. Eine Zeitlang. Ich hab dazu geschwiegen. Er hat ja dann auch Schwierigkeiten gehabt. Da war er drin in der Politik und hat, um das wieder gutzumachen, weiter mitmachen müssen. Nun aber andersrum. Der Vater, nach dem Krieg, ist deutschnational gewesen. Später hat ihn der Hermann oft gefragt, wo der Kaiser nun ist. In Holland, hat er geantwortet, weil er hier kein Zuhause mehr hat. Ich war noch klein damals, da hat mich der König interessiert. Der hat gesagt macht euern Dreck alleene. Und hat dann für die Familie gelebt. Nichts mehr mit Politik. Hat sein Geld verwaltet, das war sein Beruf. Einen Beruf muß der Mann haben. Wenn es nicht so ist, leidet man. Als Mutter. Der Heinrich, der das ja schon miterlebt hat, hat den Vater nie gefragt. Der saß bei seiner Mama in der Küche, wenn er zurück war von Arbeit, und hat zugeguckt, wie sie den Aufwasch gemacht hat. Da haben sie geredet, welche Frau er nehmen kann. Aber sie haben nur geredet. Es ist nichts geworden, denn er ist aus der Küche nicht rausgegangen. Dem Vater ist das nicht recht gewesen, aber er hat nichts sagen können. Da hätte ihm die Mutter gleich seine Sünde vor Augen gehalten. Aber in der Küche hat nichts passieren können. Das war nach dem Krieg. Da hatten wir nichts als die Sauberkeit. Zu essen fast nichts. In der Schule gab es Quäkerspeise, Brötchen und Kakao. Das wurde mit einem Auto gebracht, das kam aus Amerika. Der Hermann kam jeden Tag heulend nach Hause, weil er nichts abkriegte von der Quäkerspeise. Er sah zu kräftig aus. Das war aber nur die Konstitution. Später ist er ja Athlet geworden. Handballer, bevor er zur Wehrmacht ging. Damals aber hat er die Kartoffelschalen aus den Hasennäpfen gefressen. Ich hab schon fast die Konfirmation gehabt, als es die Quäkerspeise gab. Die gab es nur für die Kleinen. Der Heinrich war nicht mehr in der Schule, der war schon mit beim Gleisbau. Der ist zuhause verpflegt worden wie der Vater. Weil er ein Ernährer war. Daß der Vater mit der Sünde zum Schweigen gebracht wurde, fand ich gerecht. Ich hab nie rumlaufen müssen zum Gespött der Leute. Als der Heinrich zum Gleisbau kam, bin ich noch in die Schule gegangen. In den ersten Jahren, bis zur sechsten Klasse, waren wir nur Mädchen. Die Jungen hatten ihren Raum im Erdgeschoß, erstes bis viertes Jahr. Nachdem der Krieg vorbei war, wurden die Klassen gemischt. In der Pause, wenn wir rumgegangen sind, ist immer die Tochter von dem Lehrer neben mir gelaufen. Ihr Vater war der Kantor und meiner war bei der Bahn. Die Eltern der meisten anderen Kinder haben Spielzeug gemacht. Das war Verlegerarbeit. Die haben das zu Hause gemacht und in das Kontor geschafft zu Albert & Veit. Die hatten alle weniger als wir. Einmal hat mich das Mädchen, die Lehrerstochter, zu sich nach Hause eingeladen. Ich wollte nicht hingehen, aber die Mutter hat mir zugeredet. Da habe ich mein Sonntagskleid angezogen und habe unten an der Kantorei geschellt, und mir hat das Herz geklopft. Oben dann mußten wir uns um den Wohnstubentisch setzen, und es wurde über Erdkunde gesprochen und Geschichte, und ich habe gemerkt, wie der Kantor Seyfert aufgepaßt hat, daß sie mehr weiß als ich. Das war keine Freundschaft. Das war nur, weil sie neben mich gesetzt worden ist und da hat sie eben auch mit mir laufen müssen in der Hofpause. Und da hat sie gesagt, daß uns ein Geheimnis verbindet. Die Geschichte, die sie mir erzählt hat, hab ich nie vorher und auch nachher nie wieder gehört. In unserer Verwandtschaft wurde das nicht berührt. Aber im Dorf – ich will gar nicht wissen, wie oft sie sich das zugetýschelt haben. – Schritte im Treppenhaus. Beschleunigter Atem im Vordergrund. Wer draußen die Treppe hochsteigt, bleibt stehen. Angehaltener Atem. Die Schritte entfernen sich. – Wieder einsetzender Atem, der sich allmählich beruhigt. – Ob ich Dienstmädchen war, hast du mal gefragt, als du klein warst. Nein, ich war auf der Hauswirtschaftsschule. Ich war Hauswirtschafterin. Habe den Fabrikanten die Wirtschaft geführt. Nach einem Dienstmädchen hätte der Oswald sich nicht umgeguckt. Nicht wegen dem Heiraten. Sonst vielleicht schon. Aber davon hab ich nie wissen dürfen. Wie von der Geschichte, die mir die Lehrerstochter erzählt hat. Die Großmutter von der ist mit dem Großvater gegangen. Mit Opa Louis in Braunsdorf. Der war, vor dem Deutsch-Französischen Krieg, Tagelöhner auf dem Gut in Steinfeld-Marienthal. Später ist er Vorarbeiter geworden und dann Verwalter und von da zur Bahn. Damals aber Tagelöhner. Da hat er das vergessen, daß eine Lehrertochter nichts für ihn ist. Die sollte einen heiraten in Langenfels. Sohn von dem Verleger dort. Hat aber den Großvater im Sinn gehabt und nicht aufgehört an ihn zu denken. Vielleicht war er auch schon Vorarbeiter. Währenddessen betrieb ihre Verwandtschaft das mit dem in Langenfels. Und sie hat nicht gewußt, was sie machen soll. Hat sich bis zum Altar nicht entscheiden können. Dort hat sie sich dann entschieden. Als sie vor dem Pfarrer stand mit dem von Langenfels, ihrem Bräutigam. Da hat sie nein gesagt. Ich möcht nicht wissen, wie die vom Altar gekommen ist. Und das Gerede nachher – nicht nur in St. Jakob. Und der Großvater mußte zum Gutsbesitzer. Der hat ihm ins Gewissen geredet und da hat der Großvater endlich eingesehen, daß das nicht der Weg ist. Die Lehrerstochter, die Großmutter meiner Mitschülerin, hat später den Lehrer geheiratet, der nach St. Jakob kam. Da war Gras über die Sache gewachsen. Aber die haben es alle gewußt. Und haben daran gedacht, wenn sie sie auf der Straße gesehen haben. Und die hat die Augen niedergeschlagen müssen. Mit der Tochter von dem Lehrer hab ich dann nicht mehr gesprochen. Wenn sie in der Hofpause neben mir gegangen ist, hab ich geradeaus geblickt. Ich hab mir vorgestellt, ihre Großmutter wäre meine geworden. Da hätt ich was von der ihrem Charakter gekriegt. Da hätte ich die Augen niederschlagen müssen auf der Straße mit so einer Familie. Nein, nie. Nicht einmal in Gedanken habe ich eine Ungehörigkeit begangen. Doch, ich hab auch meine Gedanken gehabt. Den Gashahn aufdrehn, wenn Oswald seinen Sonntagnachmittagsschlaf macht. Und spazierengehen und von nichts wissen. Im Februar oder im März, wenn der Schnee weg ist und der Acker aufbricht. Über den Oswald haben sie zum erstenmal geredet, wie er die Frauenschaftsführerin besucht hat im Mädchenlager. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu einem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Da ist er in offizieller Mission hingefahren, weil er im Landkreis war bei der Partei. Ich hab hier gesessen bei geschlossenen Fenstern, ich hab wochenlang kein Fenster mehr aufmachen können. Aber ich hab sie reden hören. Die ganze Stadt. Ins Gesicht gesagt hat mir keiner was. Auch ihm nicht. Konnte auch niemand. Der hat sich immer getarnt. Auch vor mir. Wenn der wüßte, wie das jetzt herauskommt aus mir. Gestorben ist er ohne ein Wort, in voller Tarnung. Da war ich nur Luft für ihn, weil er mich nicht mehr schurigeln konnte. In der Schule in St. Jakob sind nach dem Krieg die gemischten Klassen gekommen, da war einer, der hat mir Augen gemacht. Das war im letzten Jahr. Er hat rübergeguckt von der Bank, in der er gesessen hat, und ist mir nachgekommen, wenn ich nach Hause gegangen bin. Obwohl er in die andere Richtung gemußt hat, weil er oben gewohnt hat im Winklerschen Haus. An der Straße, wo es nach Braunsdorf geht. Daß er mich die Dorfstraße hinunter begleitet hat, hat mir gefallen. Geredet hab ich nicht mit ihm. Ich hab nicht gewußt, was ich hätte sagen sollen. Überhaupt ist mir das Reden mit fremden Leuten schwergefallen. Entweder waren sie aus dem Dorf, da mußte ich still sein, weil ich ja für was anderes bestimmt war. Weil ich ja auf die Schule sollte nach Chemnitz. Dafür sparten sie. Und daß ich die Aussteuer krieg für einen, der Beamter ist. Oder sie waren von der Obrigkeit, die Fabrikanten und besseren Leute, da hat einen das Haus schon stumm gemacht. Da hat man gewußt, wofür es einen Dienstboteneingang gibt. Daß man nicht im Treppenaufgang, im Vestibül schon, erschlagen wird von dem Marmor und dem Gips, der da war. Und vom Reden der Gnädigen Frauen – wie in Adelsberg die, wo ich mein Pflichtjahr gemacht hab. Die wollte für jeden immer ein gutes Wort haben. Und da mußte man eine Antwort wissen, sonst war man eine plumpe Trine, eckig und hölzern. Das hat sie gesagt über mich zu der Frau Wittgenstein, die Frau Wittgenstein von hier, die Strumpffabrik auf der Gildenhausstraße. Die hatte die Frau Schuster besucht, da gab es Verbindung untereinander. Da haben sie dann in der Diele gestanden, und der Chauffeur dabei, und das Dienstmädchen hat der Frau Wittgenstein den Mantel abgenommen. Und ich in der Bügelkammer, die Tür nur angelehnt. Da hab ich das hören müssen. Nicht lange, da hat die Frau Schuster gemerkt, was sie an mir hat. Da hat sie mich nicht mehr weglassen wollen. Das war, als der Vater Oberrottenmeister geworden ist, und ich schon in Oberstein gewohnt hab und die Stelle in Aussicht hatte im Reformhaus. Ein halbes Jahr, Baldur, in dem der Rudi mit mir mitgelaufen ist, bis sie das mitbekommen haben zu Hause. Solange hat es gedauert, weil er am Erzbächlbogen immer schon umgekehrt ist. Da haben sie es nicht gesehen, nur gehört von Ungers, deren Haus in der Kurve stand, so daß sie den Blick hatten über das Erzbächl. Und da hat mich der Vater zur Rede gestellt. Abends als er am Ausguß stand und es ihm peinlich gewesen ist. Was das für einer ist, der Rudi, hat er gefragt, und ob er versucht hat, was zu machen. Und er hat sich nicht umgedreht dabei und hat auch nicht versucht, mich durch den Spiegel zu sehen. Die Mutter hat am Tisch gesessen und hat gerechnet und hat die Konsummarken eingeklebt. Ich hab über einer Handarbeit gesessen und hab dran denken müssen, daß der Vater von dem Rudi in Ostpreußen gestorben ist in einem Lazarett, da war der Krieg schon eine Weile aus. Da hatte der Rudi noch Fotografien. Da war das Land ganz anders als bei uns. Flach und weit und ein tiefer Himmel. Da hab ich hingewollt. Weil es anders war. Mein Schweigen hat der Vater für ein schlechtes Gewissen genommen. Und hat sich umgedreht mit einem Gesicht, die eine Hälfte weiß, die andere geschabt, und in der Hand hat er den Rasierapparat gehabt, und die Hälfte, die schon geschabt war, ist rot gewesen vor Zorn. Und hat nach draußen gewiesen mit dem Rasierapparat und gesagt, daß da die Tür wär. Wenn ich eine Herumtreiberin sein wollte – dort ginge es hinaus. Ins Lotterleben. Und die Mutter am Tisch über ihren Marken hat gebrabbelt, daß wir ins Gerede kommen. Daß der Rudi einer wär, wie der Vater war, bevor er nach Metz ist. Da ist der Vater vorm Spiegel noch mehr zornig geworden. Da haben sie weiter geredet. Das hat schon nichts mehr mit mir zu tun gehabt. Am nächsten Tag bin ich dem Rudi entwischt. Bin oben rum gegangen, über das Winklersche Haus, wo er eigentlich lang gemußt hätte. Und er ist meinen Weg gegangen wie immer. Bis zum Erzbächlbogen. Ich weiß dann nicht mehr, wie sich das geregelt hat. Ich bin dann ja bald nach Chemnitz auf die Hauswirtschaftsschule. Gegangen bin ich jedenfalls nicht mehr mit ihm. Dreiunddreißig, da ist der Rudi zum Militär wie der Hermann. Der Hermann ist nach Pirna gekommen, zur Grundausbildung. Da haben sie die Männer gestriezt. Da mußten sie im Schlamm über die Sturmbahn und wer die Zeit nicht geschafft hat, ist in den Arsch getreten worden. Das hat mir nicht gefallen, als das in dem Brief stand. Da hab ich noch an den Rudi denken müssen. Eigentlich hätte der Hermann ja das Abitur machen sollen in Chemnitz. Aber die Schule war von der SPD. Da mußte der Vater kein Schulgeld bezahlen. Aber dreiunddreißig, als sie sie zugemacht haben, da war es noch ein Jahr hin bis zum Abitur. Was sollte er machen ohne alles. Die Arbeitslosigkeit war ja noch. Dreiunddreißig, da hat auch der Oswald sich entschieden. Da ist er in die Partei eingetreten. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu einem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Da hat er genau gewußt, was er vorgehabt hat. Das hat er auch gewußt, als er auf mich zugekommen ist beim Nachmittagstanz in der Waldparkschänke. Da hatte er sich Erkundigungen eingeholt bei Fabrikanten Griesbauers, wo ich die Wirtschaftsleiterin war, seit ich weg war aus dem Reformhaus. Da haben sie ihm gesagt, daß ich verschlossen wäre, aber darunter wäre ich Gold. Das hätten sie gemerkt mit der Zeit. Und von den Eltern wär auch was da. Und wenn eine Frau nicht so flink wär mit der Zunge, das wäre doch gut für den Mann. Das hat sie gesagt, die Frau Griesbauer. Und hat ihn angeschaut dabei. Das ist manchmal eine gewesen, die gnädige Frau. Der Oswald ist da nicht aus der Rolle gefallen. Das hat er sich nicht getraut. Da hat er seinen Diener gemacht am Anfang und am Ende und seinen Spruch aufgesagt: Entschuldigen Sie gnädige Frau, wenn ich sie, zu nicht unangemessener Stunde wie ich hoffe, so dennoch belästige .. – So hat er geredet – in den Villen und bei der Obrigkeit. Zu Hause ist er hergezogen über den Vorsteher von der Raiffeisenbank und die Prokuristen, die ihn unten gehalten haben. Da ist er in die Partei eingetreten, weil er sich daraus was erhofft hat. Und es hat dann ja auch geklappt. Er ist der Vorsteher geworden. Vorstellung bei den Eltern im Bahnhof, und Verlobung und Hochzeit – lief alles nach Plan. Dem deines Vaters, den er aufgestellt hat zwei Wochen nachdem wir uns kannten. Wohnung war auch drin. Hier auf der Courths-Maler-Straße, da wurde gebaut von der Stadt, gehörte zum nationalsozialistischen Aufbauprogramm. Die Einrichtung haben meine Eltern bezahlt, alles. Und sind arm geworden dabei. Wie auch von der Hochzeit. Die hat im Gildenhaus gefeiert werden müssen, das das teuerste Lokal gewesen ist. Das kam von Lenzens, meinen Schwiegereltern, die wollten hoch hinaus. Ich hab mich während des ganzen Tages gewundert, daß ich jetzt verheiratet sein soll. Das ging schon in der Kirche los. Der Oswald hat auf einem Kraftwagen bestanden, und so sind wir vom Bahnhof hinauf zur Kirche gefahren in einem Wagen vom Fuhrunternehmer Schubert. Der hat ein Taxi betrieben, das stand auf der Straße oberhalb von der Mitropa. Und nun sind wir darin gefahren. Der ganze Rummel ist mir unangenehm gewesen. Ich wußte ja nicht, wie alles wird. Ich hab auf die Zeit nur gewartet, wo alles klar war, wo ich meine Ordnung haben würde. Wo ich für Lenzens die Helene war und nichts weiter. Wo ich nicht mehr erzählen mußte, wie die Stellung ist bei Griesbauers und keine Blicke mehr auszuhalten hatte, was für eine ich bin. Die Helene, die Frau vom Oswald. Punktum. Über die kann er sich nicht beschweren. Haben sie gesagt. Und so hat es sein müssen. Daß er sich über mich nicht hat beschweren können, haben sie auch gesagt, als doch was durchgesickert war von dem, was der Oswald für einer war bei der Frauenschaft. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu einem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Aber da hat es einen anderen Unterton gehabt. Da hat es einem Vorfall gegolten – Vorfällen mit der Zeit. Da war es mir nicht recht. Nachdem er beim Vater gewesen ist damals, hat er versucht, sich mir zu nähern. Wo wir doch sowieso heiraten würden. Es war auf dem Lutherberg beim Spazierengehen und dunkel. Da hat er versucht, mich in einen Heuschober zu kriegen. Da hab ich es mir auch gewünscht, daß er es versucht. Aber ich bin nicht mitgegangen. Ich hab dran denken müssen, daß er vielleicht zum Militär muß nachher. An dem Abend war der Oswald dann so, wie er später immer war. Hat nicht mehr mit mir geredet. Da war ich Luft für ihn. Da hat er sich zurückgezogen in seine Tarnung, wo er sich vornimmt, daß er dann andere nimmt dafür. Überhaupt sein Schweigen. Er hat geschwiegen bei allem. Auch wenn er geredet hat. Geredet hat er ja nur zu anderen. Wir möchten unserer besonderen Freude darüber Ausdruck verleihen, daß durch Dich und die Deinen unsere Verwandtschaft so überaus angenehm und glücklich erweitert wurde. Das hat er gesagt – nicht zu mir. Zu der Frau von Hermann, als der geheiratet hatte. Das war nach dem Krieg. Der Hermann hat ja den ganzen Krieg mitmachen müssen. Rußland, von wo sie dann alle erzählt haben. Und vier Jahre Lager in der Ukraine. Der Oswald war nicht im Krieg. Der war hier unentbehrlich. Hier war er mit dem Kreisleiter auf du und du. Ich hab mir manchmal gewünscht, daß er weg wäre. Daß er was tut für Deutschland, wie es geheißen hat damals, anstatt hier hinter der BDM-Führerin her zu sein. Ja, das mit der BDM-Führerin, das war im Krieg. Damals, nach dem Abend mit dem Heuschober, zu dem er mich hingelotst hatte, hat er mir Rosen geschickt zu Griesbauers. Hat einen Zettel drangemacht in seiner Ausdrucksweise. Daß er sich überzeugen konnte von mir als einer deutschen Frau. Und wie er sich glücklich schätzt, daß ich ihm angehören will. Ich bin rot geworden, als mir die Frau Griesbauer die Blumen gegeben hat. Ich hab dran denken müssen, was ich dem Oswald nun sagen soll, nachdem ich ihn enttäuscht hab, weil ich nicht mit in den Heuschober gegangen bin. Ich hab nichts sagen müssen. Er hat die Blumen am nächsten Tag nicht mehr erwähnt. Und ich hab mir den Kopf nicht zerbrechen müssen, was ich ihm sagen soll. Nach der Hochzeit sind wir auf die Courths-Maler-Straße gezogen. Das haben nicht viele gehabt, daß sie gleich eine Wohnung hatten. Für den Hermann, als der geheiratet hat, haben sie zwei Zimmer freigemacht im Bahnhof. Das Wohnzimmer haben sie zusammen genutzt. Die Eltern und der Hermann mit seiner Frau und dann den Kindern. Der Heinrich war auch schon verheiratet. Über eine Anzeige in der Zeitung, die die Mutter aufgegeben hat. Eine Kellnerin, das ist dann schiefgegangen. Das war das Milieu. Sie war im Brauhauscafé. Da sollen sie auf den Tischen getanzt haben nach der Polizeistunde. Die Kellnerinnen und ein paar Männer, die noch ihre Geschäfte hatten. Lederwaren-Zetzsche und Schuh-Saul von der Brauhausstraße, die sollen dabei gewesen sein. Und auch Lederschild, nachdem er zurück war. Aber das hab ich nicht geglaubt. Der hat doch kein Geschäft mehr gehabt. Der saß immer auf einer Bank gegenüber dem Bahnhof und hielt einen Stock zwischen den Händen. Und wartete auf die Straßenbahn, die ja damals noch auf die Dörfer fuhr. Bis hinauf nach Oberlug, wo die Kohlehalden sind. Ist schon lange vorbei, der Bergbau. Wie auch die Arbeit in den Strumpffabriken und im Trikotagenwerk, was Lange & Brauner war früher. Kein Tuten mehr der Sirene zu Arbeitsbeginn, kein Webgeräusch, wenn du das Fenster aufmachst donnerstagvormittags, um den Staublappen auszuschütteln. Ganz still die Stadt. Und auch der Lederschild hat still auf seiner Bank gesessen, nachdem er zurück war. Das war nach dem Krieg. Und der Heinrich hat in der Küche gesessen bei der Mutter, und hat ihr sein Leid geklagt über die Ella. Sie hat mir Fotos gezeigt, die Ella, als wir mal bei ihnen waren, Fotografien aus Kreuzburg, wo sie herkam. Da war der Wolfgang geboren, ihr Großer. Bilder von einem Dorf da, Oberschlesien. Alles Süden und am Horizont ein Gebirge. Und vollgestellt der Hof mit Gerümpel und alten Maschinen. Und die Wäsche auf dem Gartenzaun! Als die Ella den Heinrich geheiratet hat, hat sie noch nicht auf den Tischen getanzt. Da haben sie sich gefreut im Bahnhof, daß sie den Heinrich soweit hatten. Da war er schon über vierzig. Vierzig war auch der Hermann, als er geheiratet hat. Aber bei dem lag das am Krieg. Wo hat der jemand kennenlernen sollen, unterwegs auf seinem Meldermotorrad und dann in der Gefangenschaft. Er hat dann ja seine Frau gefunden. Dienstag, haben wir Dienstag heute? Da laß das Fenster ruhig auf. Da wart ich auf die Borowski’n. Da fährt sie nach Chemnitz. Da macht sie ihren Ladenbummel. Das hab ich gehört, wie sie das zu der Hausschild gesagt hat oben. Nur Oberstein, hat sie gesagt, das ist ihr zu trist. In der Wohnung von Borowskis haben früher die Friedrichs gewohnt. Aber nach dem Krieg ist der Herr Friedrich nicht mehr nach Hause gekommen, sondern direkt aus der Gefangenschaft nach dem Westen, und die Frau ihm nach. Und da sind die Borowskis eingezogen, und der Herr Borowski kam auch aus einem Lager. Da hat er uns gefragt, seit wann wir hier wohnen, und hat so komisch geguckt. Und hat nach dem Vormieter gefragt. – Das Fenster wird geschlossen. Schritte, die plötzlich innehalten, da Schritte im Treppenhaus zu hören sind. Angehaltener Atem. Es klingelt. Eine lange Zeit ohne jedes Geräusch. Danach sich entfernende Schritte. Bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden, geht jemand zu einem Stuhl und setzt sich. Wieder einsetzender Atem, der sich allmählich beruhigt. – Also, da haben wir gesagt, wir wissen nicht genau, was er gemacht hat. Denn bei dem Borowski mußten wir vorsichtig sein. Der hatte schon so was .. Gerades, Steifes. Und klein war er. Der Herr Friedrich aber war eine eindrucksvolle Erscheinung. Deine Lenz-Großmutter ist ganz überrascht stehengeblieben damals auf der Treppe, als sie ihn zum erstenmal gesehen hat. Und drinne hat sie gesagt, daß das wie ein Bild wär von Deutschland in der Zukunft, so ein Mann. Das war vierunddreißig. Da bin ich in die Entbindungsklinik gekommen, da hat sich der Oswald drum gekümmert, das war ja noch nicht üblich. Daß wir mit der Zeit gehen, darauf hat er geachtet. Im Entbindungssaal war ich mit einer, die hatten sie zwangseingewiesen. Von den Baracken unten. Die hat geschrien und auf ihren Mann geschimpft mit den unflätigsten Worten, daß er seinen Spaß gehabt hat beim Kindermachen und ihr zerreiße es die Gedärme. Die Hebamme hat sie zurechtgewiesen, daß sie sich was schämen soll und ob sie keine Frau sei. Die Gedärme hätte es den Männern zerrissen, und zwar vor Verdun. Da sei nämlich ihrer geblieben. Und wenn sie einen Jungen hätte, solle der schnell groß werden, damit sie das rächen könnten, was die Franzmänner gemacht hätten mit ihrem Mann. Richtig böse ist sie geworden, und dann hat sie gesagt, daß es sie nicht wundere. Die aus den Baracken seien ja wie die Pollacken und Zigeuner, das wisse die ganze Stadt. Bei mir war es dann auch so weit, und in dem Moment hab ich gedacht, daß mein Kind nicht mit helfen soll, sich zu rächen. Und ich hab gedacht, wenn es ein Mädchen wird, dann bleibt es mir ein ganzes Leben zu Hause und wartet ab, bis der Krieg, von dem die Hebamme gesprochen hat, vorüber ist. Aber es ist kein Mädchen geworden, sondern du bist es geworden. Und der Krieg ist Gottseidank so zeitig gekommen, daß du noch nicht hast mitkönnen. Nur dein Vater, der hätte mitkönnen, und wär vielleicht erstickt in irgendeinem Bunker, in den sie was reingeschmissen hätten. Aber er hat eben nicht mit müssen, und das ist für dich nicht gut gewesen. Denn als du klein warst, bist du für den Oswald noch nicht ein Mensch gewesen. Da hat er dich nicht wahrgenommen, wenn er heimgekommen ist von der Raiffeisenbank zum Mittagessen. Da hat er dich immer nur angeguckt, wenn du angefangen hast zu plappern. Da hat er uns erziehen wollen, dich und mich. Daß es Zeiten gibt, zu reden, und welche, wo man still sein muß. Da hat er sich Bedienstete gewünscht und eine größere Wohnung – daß ihn das Kind nicht stört in seiner Ruhe. Obwohl er auch stolz war. Da hat er angefangen den Familienvater zu spielen. Da sollte ich die Dame sein aus gutem Haus, wie er sie gesehen hat in den Filmen im Kino auf der Adolf-Hitler-Straße. Da hat er sich wohl gedacht, daß es der Kreisleiter ist, der mir die Komplimente macht, oder einer vom Landesvorstand von der Kasse, so wie der Oswald sie gemacht hat an die Frauen von denen. Aber ich war eher die Frau für daheim. Nicht die Dame, die es ihm erleichtern sollte in der Raiffeisenbank und bei den Parteigenossen. Daß er was vorweisen konnte. Daß er mehr war als hier zu sitzen und seine Ordnung zu haben, oder in der Raiffeisenbank und die Bücher in Schuß zu haben, oder im Stadtrat. Da war er enttäuscht von mir. Da hat er dann draußen gesucht, was ihm gefehlt hat bei mir. Im Stadtrat haben sie damals den Juden enteignet vom Kaufhaus Lederschild, was HO war später, und nach Theresienstadt geschickt. Er hat Angst gehabt, wenn es um so was ging, ich hab es gemerkt an seinen durchgeschwitzten Sachen. Und dann hat er sich gewaschen und Frühsport gemacht am offenen Fenster, aber die Gardinen zugezogen. Daß die von gegenüber, die Konetzkys, die auch in der Partei waren, nicht gesehen haben, daß er sich hat fit machen müssen. Und hat sich eingerieben unter den Achseln mit einem Deodorantstift. Daß er nicht geschwitzt hat. Da hat er dann mal mit mir reden wollen. Aber wozu hätte ich ihm schon raten können. Ihm den Rücken freihalten, ihm sein Zuhause sichern, ja, das hab ich gekonnt. Aber reden. Er hat das ja doch tun müssen. Schnell groß werden sollen hattest du für die Hebamme, damit du die Franzosen umbringen kannst. Der Oswald hat so was nicht im Kopf gehabt, das kann ich nicht sagen. Der wollte sich nicht rächen, nicht von sich aus. Der hat keine Rachegefühle gehabt. Der saß hier am Fenster mit seiner Zeitung und hat gelesen, was die vorhatten in der Politik. Und die schrieben, daß die Rache sein muß an den Juden. Nach dem Krieg erst haben wir ja erfahren, wie das aussah. Das Wetter auf den Bildern von dem Lager, daß sie dann in der Zeitung gebracht haben, war immer trüb. Der Rauch aus dem Krematorium zog hoch in einen verhangnen Himmel. Warum, frag ich mich, stieg er nicht auf vor dem Hintergrund von Sonne. Ich meine, da war doch kein anderes Wetter als hier während des Krieges. Da muß doch auch Sonne gewesen sein. Und dann die Luftaufnahme von dem Lager. Alles ordentlich. Und dann keine Sonne. Der Oswald hat gesagt damals, da wird Ordnung gemacht in Deutschland. Da bist du, wo du auch bist, wie in dei’m Wohnzimmer. Alles sauber. Das Bild hat mir gefallen. – Das Ticken der Wanduhr. – Wenn der Oswald sonst seine Kommentare abgegeben hat beim Zeitungslesen, hab ich geschwiegen. Nur einmal, da hab ich was gesagt. Da ging es auf den Krieg zu. Da hab ich gesagt, was ich gedacht hab in meinen Schmerzen damals, als ich dich gekriegt hab. Daß es mir lieber gewesen wär, du wärest ein Mädchen geworden. Und ob das richtig ist mit dem Lederschild, wo ich doch bei ihm meine Tassen für die Woche so billig gekriegt hab. Da hat er mich angeguckt am Abendbrottisch. Nichts gesagt, nur angeguckt. Ich hatte ja keine Ahnung von der Politik. Von dem, was die Stunde verlangte. Und daß er das für die Familie gemacht hat, die Leute aufs Rathaus bestellt, die noch eingekauft haben beim Lederschild. Da ist er aufgestanden vom Tisch und hat das Fenster geschlossen. Und hat gesagt, ich solle am besten überhaupt nichts mehr sagen. Und ich hab am Tisch gesessen und hab an St. Jakob denken müssen, wie da das Fenster geschlossen wurde, wenn wir Dresche kriegten. – Das Ticken der Wanduhr. – Zu dem Zeitpunkt war der Oswald schon nicht mehr bei der Raiffeisenbank, sondern bei der Partei, und wenig zu Hause. Da bin ich mit dir alleine gewesen. Ja, ein artiges Kind, das warst du. Ich hatte mit dir keine Plackerei. Hast immer bei mir in der Küche gesessen und zum Fenster hinausgeguckt. Bist aber nicht hinausgegangen. Gegenüber, in einem der Reichsbahnhäuser, in dem, in das der Heinrich eingezogen ist später, hat ein Rangierer gewohnt, Konetzky, das heißt er war im Krieg. Die Frau alleine, zwei Kinder. Wenig älter als du. Die sind herübergekommen über den Zaun und über den Wäscheplan und haben sich aufgestellt unten, wo es zum Waschhaus geht. Da bist du weg vom Fenster und hast dich nicht mehr sehen lassen. Aber wenn sie nicht unten standen, wenn du sie drüben hast spielen sehen, da hast du am Fenster gesessen und hast hinübergeblickt. Stundenlang. Mir war es recht, daß du da nicht Kontakt hattest mit denen. Die Konetzky’n hat geraucht, obwohl sie in der Partei war. Wenn ich aufgewaschen hab, hab ich in ihr Schlafzimmer sehen können. Da hat sie gestanden, mit der Zigarette. Die hat in der Firma von Dr. Rau unten gearbeitet. Die haben Rüstung gemacht. Später waren die Russen in der Firma und haben demontiert. Da war die immer noch da. Dann ist sie angezeigt worden. Irgendetwas mit den Fremdarbeitern dort, vor dem Kriegsende. Da hat sie einen gemeldet, der was hat mitgehen lassen. Da ist sie weggekommen nach dem Krieg, und der Heinrich ist in die Wohnung gekommen mit seiner Familie. Was aus den Kindern geworden ist, wer weiß. Der Oswald war immer ängstlich, was dich angeht. Daß du was ausplauderst draußen, wo du doch den ganzen Tag bei mir bist und solche Sachen hörst vielleicht wie das mit dem Lederschild. Ich hab aber nichts mehr gesagt. – Schritte im Treppenhaus. Beschleunigter Atem im Vordergrund. Wer draußen die Treppe hochsteigt, bleibt stehen. Angehaltener Atem. Es klingelt, und dann noch einmal. Eine Frauenstimme fragt: „Herr Olbrich ..?“ Die Schritte entfernen sich. – Wieder einsetzender Atem, der sich allmählich beruhigt. – In die Schule gekommen bist du vierzig. Da hat sich keiner beschwert über dich. Immer ordentlich und fleißig, gute Mitarbeit. Nur auf dem Heimweg, da haben sie dir aufgelauert. Solche wie die von der Konetzky’n drüben. Gassenjungen, die hoch angesehen waren in der Hitlerjugend, was ich nicht verstanden hab. Die haben da ein Element reingebracht, mit dem der Vater schon zu tun hatte beim Gleisbau damals, als der erste Krieg zu Ende ging. Heruntergekommene waren das, wie sie dann später vor der Mitropa gestanden haben mit Schnapsflaschen und Kofferradios, das war nach dem Krieg. Der Oswald hat immer über mich gelacht. Es gehe eben rauh zu draußen, hat er gesagt. Daß ich dich täglich zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt hab, dagegen hat er nichts gehabt. Dieses Betragen, daß er weiß, wie es zugeht in der Welt, und daß er der Mann ist dafür, war gespielt. Am liebsten hat er hier in seinem Sessel am Fenster gesessen und seine Kommentare gegeben. Und ich hab den Tisch gedeckt, Teller und Besteck und ein Glas für das Bier. Nur halbvoll das Glas, hat er gesagt, sonst redet man zu viel. Ich rede ja nicht. Es fließt heraus aus mir, es ist das Leben. Nichts mehr wirklich, alles schon weiß, ein Gebet. Elf Jahre, auf den Monat genau, Baldur, war ich verheiratet mit deinem Vater, als der Krieg zu Ende war. Damals sind wir nach der Kirche mit dem Kraftwagen oben rum, über den Friedhof und den Lutherberg. Und bis zum Gildenhaus hinunter haben Fahnen gehangen, denn es war der Geburtstag vom Führer. Dann sind, fast über den gleichen Weg, die Amerikaner eingerückt. Der Oswald war die ganze Woche zu Hause. Hat im Sessel gesessen und Zigaretten raucht. Sonst hat er ja nicht geraucht im Wohnzimmer, das hat er sich selbst auferlegt. Hier aber hat er geraucht, daß ich das Fenster hab aufmachen müssen. Und das Fenster nebenan ging auch auf und zu, da hat die Frau Friedrich gewohnt. Der Mann war in Bad Graustein, wo der Kreis war, in einer Ausbildungsstätte von der NAPOLA. Das war vor dem Krieg. Danach in Rußland, Offizier. In der Zeit hat die Frau Friedrich nicht geredet mit mir, weil mein Mann zuhause war und ihrer im Feld. An dem Vormittag aber, wo die Amerikaner eingerückt sind, hat sie mir erzählt von dem Kreisleiter. Der hat sich mit seiner Familie nach Annaberg fahren lassen, auf das Gut, das er da hatte, und hat die Familie erschossen. Und dann sich. Ich bin da schnell weg und die Treppe runter und hab mich gewundert über die Frau Friedrich, und mich gefragt, ob sie uns irgendwie meint. Jahrelang kein Wort zu mir außer Heil Hitler, und nun bringt sie uns vielleicht in Verbindung mit dem Kreisleiter. Und ich hab mich gewundert über den Oswald. Der hat mir das nicht erzählt, obwohl er mit dem Kreisleiter so dicke gewesen war. Auf dem Markt oben und am Bahnhof und auf der Wiesenthalstraße haben sie gestanden, die Amerikaner, und Schokolade verteilt und Zigaretten. Wir haben davon nichts mitgekriegt. Die Courths-Maler-Straße war vollkommen leer, nur um die Litfaßsäule herum ist der Dackel gelaufen von Schönborns drüben. Zwei Tage haben wir hier oben gesessen und gewartet. Der erste Amerikaner, der mir begegnet ist, das war an der Spedition Gerlach. Da bin ich zum Fabrikanten Rapp gegangen, die das Grundstück hatten an der Logenhausstraße, um Kartoffeln zu holen. Und da hat er gesessen auf der Verladerampe und sonst weit und breit niemand. Und hat geraucht und mit den Beinen geschlenkert und hat Hello gerufen. Da bin ich schneller gelaufen und hab mir Sorgen gemacht wegen dem Rückweg, wenn ich die Kartoffeln hab. Da bin ich dann lieber unten rum, über die Gildenhausstraße und hinten über die Kreuzung an der Wiesenthalstraße wieder hoch. Der hat mich verwirrt, dieser Amerikaner. Soldaten, das waren zackige Menschen. Dieser nicht. Da hab ich Oberstein in einem ganz anderen Licht gesehen. Eine Geisterstadt, und wir – als wären wir nicht mehr da. Zurückgerückt – alles vorbei. Nicht nur der Krieg, sondern alles: Das Die-Wohnung-sauberhalten, das Auskommen, und daß man so steif war und nicht geredet hat. Das Leben, das wir gekannt haben. Das war wie eine Befreiung. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu einem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Für den Moment. Solange ich unterwegs war. Zuhause nicht mehr, da ist dann wieder der Oswald gewesen. Der hat gewartet, daß er aufs Rathaus bestellt wird. Aber hier haben die Amerikaner nicht ernst gemacht mit der Entnazifizierung. Die wußten, daß sie wieder abrücken. Das war im Juli. Danach sind die Russen gekommen, und der Oswald hat den Bescheid gekriegt, daß er nur körperliche Arbeit verrichten darf. Das hat ihm einer eingebrockt auf dem Arbeitsamt, ein Evakuierter aus Düsseldorf. Vierundvierzig sind die nach Oberstein gekommen wegen der Luftangriffe im Ruhrgebiet. Und sind dann schnell zurück. Nur der, der dem Oswald den Vermerk gemacht hat, der ist geblieben. Da haben sie gemunkelt, daß er ein Obernazi war. Sonst wär er ja auch zurück, zu den Amerikanern, und wär nicht hiergeblieben, wo die Russen waren. Also, da ist er besonders scharf gewesen, um davon abzulenken. Und hat nicht nur dem Oswald so einen Vermerk ins Arbeitsbuch gemacht, sondern zwei Jahre später auch dem Hermann, als der zurück war aus der Kriegsgefangenschaft, weil er dreiunddreißig schon in die Wehrmacht eingetreten ist und Berufssoldat war. Da hat der Hermann angefangen auf der Strecke zu arbeiten, beim Gleisbau in der Brigade vom Vater. Dem Oswald ist es ähnlich gegangen. Der mußte in die Kernformerei runter, was Gebrüder Leipold war. Da hat er das flüssige Eisen in die Schalen gießen müssen, aber das ist nicht lange gegangen. Denn der Lauritz, was der Vater ist von der Hausschild oben, ist vor dem Krieg schon Prokurist gewesen bei Leipolds und ist es geblieben, solange den Leipolds die Fabrik gehört hat. Der ist aufgekreuzt eines Abends bei uns und hat gesagt, daß der Oswald doch ein tüchtiger Beamter war, korrekt bis zum Scheitel, das wisse er aus den Zeiten der Raiffeisenbank. Und so ist der Oswald Buchhalter geworden bei Leipolds und ist zum Oberbuchhalter aufgestiegen, nachdem die Leipolds nach dem Westen sind, und die Kernformerei zum Kombinat gehörte in Karl-Marx-Stadt. Daß der Lauritz zu uns gekommen ist damals, weil er das mit dem Buchhalter nicht im Betrieb bereden wollte, ist eine Außergewöhnlichkeit gewesen. Denn außer Lenzens und Schuhknechts haben wir nie Besuch gehabt, und so waren wir immer allein. Da sind wir zeitig ins Bett gegangen, und der Oswald war frisch am nächsten Morgen und frisch den ganzen Tag über auf Arbeit. So ging alles nach der Reihe. Der hat sich überhaupt nur wohlgefühlt, wenn alles nach der Reihe ging. Das ist wie am Fließband bei Ford, hat er gesagt, du gehörst zu einer Armee und machst nur, was du genau kennst, und wirst durch nichts gestört. Und das Ergebnis ist – Reichtum an materiellen Gütern. Das ist wie ein Zaubertrick. So hat er das gesagt, hier in seinem Sessel. Da war er schon Schulungsleiter in der Gewerkschaft. Und ich hab am Tisch gestanden und hab die Wäsche gelegt und hab gedacht, daß man zurücktritt dabei. Daß man gar nicht mehr merkt, daß man da ist. Daß die Hände was anderes machen, als in der Zeit der Kopf denkt. Da fließt das Leben und ist bunt am Anfang und wird weißer je mehr man in die Jahre kommt. Aber dann kommt die Vorsorge wieder, das Rechnen und Denken. Das Auf-der-Reihe-Bleiben-Müssen, daß man seine Ruhe hat. Das läßt einen nicht zu sich kommen. Das raubt einem den Schlaf. Da wird man nicht froh, nie. – Das Ticken der Wanduhr.- Das mit dem Lauritz, Baldur, ist nicht das einzige Mal gewesen, daß jemand zu uns gekommen ist, der nicht zur Verwandtschaft gehört hat. Auch der Herr Waldbach hat einmal hier gesessen, fuffzig oder einundfuffzig, das war die Zeit, als sie nicht wollten, daß ihr Heranwachsenden in die Junge Gemeinde geht. Da hat er hier gesessen, in dem braunen Anzug, den er immer trug, und hat sich einen Kognak einschenken lassen vom Oswald, und ist erleichtert gewesen, daß der Oswald ihm so schnell entgegengekommen ist. Aber der Herr Waldbach war uns ja auch entgegengekommen. Der hätte nicht herkommen brauchen, um uns zu sagen, daß du eine Zeit lang nicht mehr in die Junge Gemeinde gehen sollst. Der hätte uns auch in die Schule bestellen können. Aber das ist ihm als unanständig erschienen, weil er ja bis dahin selber in die Kirche gegangen ist und mitgesungen hat im Kirchenchor. Da hat er damals auch eine Pause einlegen müssen. Das ging erst wieder nach dreiundfünfzig, da ließ der Druck nach, und er hat wieder auf der Empore stehen können im Gottesdienst und das Kyrie eleison mitsingen. Einundfünfzig aber hat er hier gesessen und nicht aufgeschaut und hat in seinen Kognak geguckt, und gesagt, daß er das als dein Klassenlehrer machen muß. Und der Oswald hat genickt und Verständnis gehabt für seine Lage. Und gesagt, daß man sich gegenseitig unterstützen muß. Die Junge Gemeinde ist von der Ulrike gehalten worden, dem Fräulein Ernst, Baldur, und da hatte sich was angebahnt zwischen ihr und dem Hermann. Das hab ich zuerst gewußt, daß da was ist, denn ich hab den Hermann getroffen auf dem Hof vom Kirchgemeindehaus, als ich aus dem Frauenkreis gekommen bin. Das war im Januar und bitter kalt, und er ist hin und her gelaufen in dem Schnee, und hat so getan, als käme er aus dem Jungmännerwerk und wollte gerade gehen. Und ich hab keine bösen Gedanken gehabt und ihn gerufen, daß wir ein Stück zusammen gehen, und da hat er gesagt, daß er auf jemand wartet, und ist verlegen gewesen. Also, ich hätte das nicht für möglich gehalten, daß das das Fräulein Ernst ist. Das war für mich undenkbar, daß der Hermann um die Hand der Katechetin anhält. Ihr gegenüber, und gegenüber dem Pfarrer Wiechert und Apotheker Breitenbachs, wo sie gewohnt hat, habe ich mich als etwas anderes gefühlt. Die haben zur Herrschaft gehört, und ich war die Hauswirtschafterin, die Bedienstete. Das war noch so drin. Und dem Oswald ist es genauso gegangen, sonst hätt er sich später nicht so bemüht um die Anerkennung seiner Schwägerin. Die Sache mit der Ulrike, das ist im Gottesdienst passiert, da ist der Hermann jeden Sonntag hingegangen, weil er es als ein Wunder angesehen hat, daß er die Gefangenschaft überlebt hat und heil zurückgekommen ist aus dem Krieg, und da hat er sich nach zwei Jahren, wo er sie immer nur gesehen hat, dann einmal ein Herz gefaßt, und ihr einen Brief geschrieben, in dem er sich erklärt hat. Also, der Lauritz, das ist der Vater gewesen von der Hausschild oben, und deshalb wohnen die da. In der Wohnung sind vorher die Böhms gewesen, der Mann Ingenieur in der Wima in Oberstraßbach, und bald nach dem Westen, und danach ist die Wohnung reserviert worden für einen von der Wismut, einen Parteisekretär, aber der ist nicht gekommen, da ist was gewesen dreiundfünfzig. Was genau, weiß ich nicht, viel später erst, du bist schon nicht mehr arbeiten gegangen, hat der Borowski zum Oswald gesagt, der hätte einen Fehler gemacht damals, und die Partei hätte Konsequenzen ziehen müssen. Die wär ja die Organisatorin der Wirtschaft gewesen, und da hätte sie den Arbeitern, das hieße sich selbst, zuleibe rücken müssen. Und Sekretäre, die sich nicht ins eigene Fleisch hätten schneiden können, wären untauglich gewesen. Denn das wär ja nun mal so: Zur Arbeit müsse der Mensch gezwungen werden. Wo er herkomme, hat der Oswald den Borowski da fragen wollen, wenn er annehme, daß der Mensch von Natur faul sei. Aber er hat es nicht getan, sondern nur Jaja gesagt, denn der Borowski ist ja im Zuchthaus gewesen und war nun angestellt in der Bezirksleitung und hat die Macht gehabt. Also, die Wohnung hat leer gestanden, und da hat sich der Oswald drum gekümmert, daß da die Hausschilds reinkommen, dem Lauritz zuliebe, aber das wär nicht gegangen, wenn der Hausschild nicht bei der Polizei gewesen wär. Dem sein Vater war Steiger im Schacht in Oberlug, und da haben sie welche gesucht für die Polizei, wo die Eltern Arbeiter waren, und die haben sie dann unterstützt in jeder Hinsicht. Aber der hat dann gleich was zu tun gekriegt, der Hausschild, was ihn bekannt gemacht hat in der ganzen Stadt. Der hat den Führer verhaften müssen, den kennst du auch noch, das war einer aus Weißdorf, der hat im Krieg was abgekriegt. Der ist durch die Stadt gelaufen den ganzen Tag, immer am Bordstein lang, einen Fuß oben, einen unten, und der rechte Arm nach oben wie in der Nazizeit, und dazu hat er gebrüllt, Und der Führer hat gesagt, und der Führer hat gesagt, aber was der Führer gesagt hat, hat man nicht erfahren, denn er ist immer bei dem einen Satz geblieben. Das ging die ganze Nachkriegszeit, und es hat sich niemand dran gestört, denn man hat ja gewußt, daß er verrückt ist. Aber dann ist dreiundfünfzig die Sache gewesen in Berlin, und da haben sie alles vermeiden wollen, was hier etwas hätte auslösen können, und deshalb hat die Volkspolizei ihn von der Straße weg verhaftet. Der sei vollkommen erstaunt gewesen, wie ein Kind, hat der Hausschild später erzählt, und habe sich widerstandslos abliefern lassen im Gefängnis auf der Gustav-Freytag-Straße, das es ja damals noch gab. Später hat er sich beruhigt, da hat er sogar wieder arbeiten können. Da ist er in der Ziegelei gewesen an der Presse, und hat in der Bretterbude dort in der Zugluft gestanden, halbnackt, das hat die Ella erzählt, die zu der Zeit schon weg war aus dem Brauhauscafé, weil sie nicht mehr tragbar war als Kellnerin. Da hat sie die Arbeit gefunden in der Ziegelei. Und da haben sie ihn manchmal betrunken gemacht. Und wenn sie ihn haben aufziehen wollen, haben sie gefragt, was der Führer gesagt hat, aber der Adolf, so haben sie ihn nun gerufen, hat sich an nichts mehr erinnern können. Mir hat das leid getan, als ich das gehört hab, aber die Ella ist hart gewesen, die hat gesagt, einer hat ja die Arbeit machen müssen in dem Schlamm und in der Kälte, und besser ein Verrückter, der nichts merkt, als einer, der erst noch kaputtgeht da dran, und ihr werde auch nichts geschenkt. Daß einem nichts geschenkt wird, und daß man sich umtun muß in der Welt, hat dein Vater ins Feld geführt, als deine Schulzeit zu Ende war. Da hatte der Oswald mit dem Hermann geredet, der ja neben dem Gleisbau die Abendschule gemacht hat bei der Bahn, und da haben sie noch Leute gebraucht und da hast du zur Bahn gesollt. Aber du bist krank geworden, als du das erstemal in die Berufsschule hast fahren müssen, das war schrecklich, da will ich nicht mehr dran denken. Da ist das erste Zeichen gewesen, hat später der Herr Böhm gesagt, daß du in einer eigenen Welt lebst und Angst hast, sie zu verlassen. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu einem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Da bin ich dann lieber mit dir mitgefahren, als du wieder gesund warst, und hab dich abgeliefert in Kappel, und wieder abgeholt nachmittags, und auf dich gewartet zwei Straßen weiter den ganzen ersten Winter, damit deine Mitschüler mich nicht sehen. Danach ist es besser geworden, und das letzte Jahr, bevor du aufs Stellwerk bist, hast du es alleine geschafft. Wohlgefühlt aber hast du dich nur zu Hause. Da hast du mir wie früher geholfen beim Saubermachen und Einkaufen und bist für mich mit dem Handwagen und der Rollwäsche hinuntergefahren in die Mangel zu Krapps. Ich hab mir da Vorwürfe gemacht, daß ich bei deiner Geburt gewünscht hab, daß du ein Mädchen wirst. Vielleicht ist das deshalb gekommen. – Das Ticken der Wanduhr. – Aber das ist ja ein Irrtum gewesen, daß man es als Frau leichter hat. Das ist ja kein wirklicher Rückzug gewesen, denn es holt einen alles ein, wovor man sich gefürchtet hat. Alles. Aber vielleicht ist auch das falsch, und die Leute haben recht mit ihrem Reden, das einmal so geht und einmal so, und man nicht weiß, woran man sich halten soll. Da machst du es vielleicht richtig, alles für dich zu behalten, und dich zu verstecken. Damals als der Oswald mit Breitenbachs angefangen hat, war es mir auch nicht recht. Das war, nachdem die Leipolds nach dem Westen abgehauen sind, und die Kernformerei VEB geworden ist. Da ist es ziemlich drunter und drüber gegangen im Betrieb, und der Oswald ist auf den Gedanken gekommen, daß es nicht allzulange gehen kann im Osten, und hat deshalb angefangen mit in die Kirche zu gehen, und so sind wir einmal zusammen gegangen, über die Lutherkurve, Baldur, und dann das Spitzweg-Gäßchen hoch, und du bist zu Hause gewesen, wenn du nicht Schicht hattest, und hast auf das Mittagessen aufgepaßt. Daß hatte ich aufgesetzt, bevor wir losgegangen sind. Das war schön damals, wenn wir zurück waren zum Essen. Da kam man von draußen und hatte geredet. Vor der Brauthalle oder vor der Sakristei mit dem Hermann und dem Fräulein Rosenstecher, die sich um die Kinder gekümmert hat, denn die Ulrike hat ja immer zu tun gehabt im Gottesdienst und um den Gottesdienst herum, und mit Heilpraktiker Böhms und Apotheker Breitenbachs. Die haben sich auch abends manchmal getroffen, die Frauen im Zimmer von der Frau Apotheker, und die Männer im Herrenzimmer, und manchmal die Ehepaare zusammen, und dann in der Wohnstube, die Salon geheißen hat. Und weil der Herr Apotheker und der Pfarrer Wiechert sich interessiert haben für einen, der was von der anderen Seite berichten kann, aus den volkseigenen Betrieben und von der Gewerkschaft, denn der Oswald ist ja schon in der BGL gewesen, haben sie uns einmal eingeladen. Das ist aber nicht bei Breitenbachs gewesen, sondern auf dem Grundstück von der Frau Wittgenstein, ganz oben an der Lutherstraße, die hatte da ein Sommerhäuschen. Die war ziemlich einsam, denn der Mann war im Krieg gefallen, die Fabrik hatte sie auch schon nicht mehr, die Töchter alle im Westen, und da ist sie dann auch noch rüber, kurz vor dem Mauerbau. Bis dahin aber hat sie ganz allein gelebt mit dem Dienstmädchen in ihrer Stadtwohnung auf der Gildenhausstraße. Da war sie froh, daß sie den Gesprächskreis hatte bei Breitenbachs. Das war im Sommer, als wir dort eingeladen waren, ein schöner Abend, und auf einmal ich mitten drin unter solch vornehmen Leuten. Nein, wir haben da nicht hingehört, der Oswald und ich, da war etwas durcheinander gekommen über den Krieg. Über Schriftstellerei haben sie geredet, über einen, der Rilke hieß, das weiß ich noch, weil ich bei dem Namen die Vorstellung hatte von den Pflanzen, die sich hochrankten an dem Sommerhaus von der Frau Wittgenstein, und ich hab gedacht, daß der Rilke über so was schreibt. Daß überhaupt ein solches Thema aufgekommen ist, lag an dem Bruder von der Ulrike, der war gerade zu Besuch. Das war ein Bauer aus der Torgauer Gegend, und ich hab mich gewundert, daß der Zeit hat, das zu lesen. Und überhaupt – ein Landwirt. Im Kuhstall hab ich mir den nicht vorstellen können. Später haben sie uns auch ins Gespräch ziehen wollen, und haben den Oswald etwas gefragt über den Betrieb, doch er hat Angst gehabt, daß er was Falsches sagt, und nur drumrumgeredet. Da haben sie dagesessen und auf ihre Fußspitzen geguckt. – Ein Fenster wird geschlossen, ein Vorhang vorgezogen. Schritte. Jemand geht zu einem Stuhl und setzt sich. Ticken einer Wanduhr, das im Verlauf der Zeit schwächer wird. – Danach sind wir nicht mehr eingeladen worden, doch der Oswald hat Anspielungen gemacht nach der Kirche, und gesagt, wie schön es war, aber niemand ist drauf eingegangen. Ja, und dann ist plötzlich die Ulrike an Krebs gestorben. Im Februar entdeckt und im August war sie tot. Da hab ich ihren Bruder, den Bauer, noch einmal gesehen zur Beerdigung, und da hatte er das Parteiabzeichen dran. Da war er LPG-Vorsitzender, und der Oswald ist auch nicht mehr in die Kirche gegangen. Das war einundsechzig, und zweiundsechzig hat der Hermann wieder geheiratet. Einundsechzig, da sind wir in Ahlbeck gewesen in Urlaub. Da hat der Hermann ein Telegramm geschickt, daß nun auch die Mutter noch gestorben ist. Die hatte ihr Leben lang Zucker und nichts davon gewußt, weil sie zu keinem Arzt gegangen ist. Die pfuschen mir nur in die Natur. Das hatte sie aus dem Gebirge, da haben das alle geglaubt. Den Tag, nachdem das Telegramm gekommen ist, hat der Oswald rumgeknurrt in unserem Zimmer im FDGB-Heim und ist unausstehlich gewesen. Und dann ist er auf den Bahnhof gegangen und hat eine Umwegkarte gelöst über Leipzig, weil er über Berlin nicht mehr hat fahren wollen. Da hatten sie was gebracht im Radio über Berlin, und die Mauer gebaut, und im FDGB-Heim, das war beim Frühstück, ist es still gewesen. Dann hat einer was gesagt. Die Schweine, hat er gesagt, und ist abgereist. Im Zimmer oben hat der Oswald gemeint, daß sie die Wohnungstür jetzt abgeschlossen haben, und wir unter uns sind und Ordnung machen in der Republik. Ich hab dabei gestanden und hab die Koffer gepackt wegen der Beerdigung, und hab an den Hermann denken müssen, wie der im Westen hat bleiben sollen, als er nach dem Tod von der Ulrike seine Kriegskameraden besucht hat, und bin froh gewesen, daß er noch hier war. Zu der Zeit hat die Bettina schon die Kinder versorgt. Und da war sie schon mit auf der Beerdigung von der Mutter, und ist, als die Rede auf die Mauer kam, abwechselnd rot und blaß geworden. Das haben alle gemerkt, und der Oswald hat es übertrieben gefunden. Es wär ihr ja nichts persönlich verloren gegangen dadurch. Kein Besitz, der Arbeitsplatz eher noch gesichert. Ich hab aber gewußt, daß sie oft im Westen war mit einem Schwager von ihrer Schwester und gern im Schwarzwald gewesen ist. Aber ich hab geschwiegen und ab dem nächsten Tag den Vater versorgt, und dann die ganzen Jahre. Da hatte der Hermann wieder geheiratet und die Bettina hat gesagt, daß sie dem Opa das Essen kochen und auch die Einkäufe erledigen kann, aber ich hab das nicht zugegeben. Ich war froh, daß ich das hatte. Daß ich mal raus konnte bei uns, nachdem wir nicht mehr in die Kirche gingen. Und später hatten die unten im Bahnhof den Kleinen, der Bettina ihr Kind. Das hat mir gefallen, wenn er bei mir am Tisch gesessen und gefragt hat, warum ich aufschreibe, was ich einkauf und das Geld dahinter setze und nachrechne, was ich bezahlt hab. Das hatte ich intus von der Mutter und von der Hauswirtschaftsschule. Das wurde auf Heller und Pfennig verrechnet, was der Vater mir gegeben hat zum Einkaufen. Aber ich hab das nicht gemacht, wenn die Bettina hinten war. Die war noch zu jung, die hat das nicht begriffen, daß man auf den Augenblick hin bereit sein muß. Der Vater war ja schon weit über die Siebzig damals. – Das Ticken der Wanduhr. – Ich bin dann doch wieder in die Kirche gegangen. Das war, nachdem die Kernformerei eingegliedert worden ist nach Karl-Marx-Stadt, und der Oswald oft dort gebraucht wurde. Da hatte er wieder ein Verhältnis, da will ich nicht drüber reden. Eine von der Gewerkschaft. Da hat er gedacht, daß mich das tröstet, wenn er mich in die Kirche gehen läßt. Da bin ich dann also allein gegangen und das war im März. Das Schmelzwasser ist das Spitzweg-Gäßchen heruntergelaufen und im Garten von der Braune-Villa haben die Tropfen an den Ästen gehangen. Da ist das gewesen, daß ich gedacht hab, daß ich den Gashahn aufdreh. Und dann hab ich in der Kirche gesessen auf der letzten Reihe, und hab den Kopf gesenkt bei der Beichte und hab mich geschämt. Und wenn ich wieder aufgeblickt hab nach dem Segen, hab ich vorn den Vater sitzen sehen und auf der anderen Seite den Hermann und die Bettina, und das Fräulein Rosenstecher, und da hab ich gewußt, daß ich nur so weiter machen kann. Das ich das aushalten muß mit dem Oswald und keine schlechten Gedanken haben darf. – Das Ticken der Wanduhr. – Und da ist dann mal einer gewesen. Der kam aus der Niederlausitz und war geschieden. Deshalb hat er sich hierher versetzen lassen in die Möbelstoffweberei auf der Gildenhausstraße, und da war er allein hier, und hat Trost gesucht im Gottesdienst. Und so sind wir manchmal nebeneinander hergegangen nach der Kirche. Er rechts am Zaun an der Braune-Villa, und ich links, wo die Gärten sind, die sich heraufziehen von den Häusern an der Jeremiasstraße. Und da hat er mich angesprochen und gesagt, daß die Sonntage nicht einfach wären für ihn. Ich hab da aber nur genickt und mein Gesangbuch fester gepackt. Und hab gerade ausgeblickt, und so ist es zu keinem Gespräch gekommen. Und danach hab ich hier in der Wohnung gesessen. Da ist mir Ahlbeck in den Sinn gekommen, das Heimatmuseum, wo wir mal durchgegangen sind, der Oswald und ich, und gesehen haben wie alles, das ganze Leben, die Zeit von vor dreihundert, vierhundert Jahren, nur noch Ausstellung war. Da war das vorbei, das Sich-Bücken und Schwitzen und Sich-Strecken, und das Auf-die-Ordnung-sehen immer – das hat man sich nun dazudenken müssen. Und das ist leicht gewesen, das ist eine Freiheit gewesen im Vergleich zu dem wirklichen Leben. Das war es, Baldur, was die Mutter gewollt hat in St. Jakob, wenn sie alleine in der Stube gesessen hat auf ihrem Stuhl. Da war ihr ihre Einrichtung ein Museum. Da haben ihre Gedanken wandern können. Ich hab daran denken müssen an ihrem Grab, als sie gestorben war, und ich in der Trauergemeinde gestanden hab neben dem Heinrich und dem Oswald und der Ella. Die Ella hat da noch zur Familie gehört, und war noch nicht in Verruf in der Stadt und weg aus dem Brauhauscafé, und wir hatten noch Kontakt mit ihr. Daß wir dann nicht mehr mit ihr gesprochen haben, da hat sich der Oswald drum gekümmert. Aber ich hab sie ja sehen können, hier aus unserem Küchenfenster, so wie ich damals die Konetzky’n gesehen hab in ihrem Schlafzimmer. Da hat sie einmal mit der Nachttischlampe geworfen nach ihm, die Zigarette im Mund. Und der Wolfgang und der Gerd sind hereingekommen, und der Heinrich hat hilflos dagestanden vor seinen Kindern. Da haben sie mir leid getan. Vor allem der Gerd, der war damals zehn. Der hat ja dann sein Schicksal gehabt in der Görlitzer Gegend. Das hat da angefangen. Den hat die Frau betrogen, wie die Ella den Heinrich. Lebensgierig war die, die Ella, bis zuletzt. Als sie das hatte in der Ziegelei mit dem aus Erlau, einem jungen Kerl, da war sie schon alt, dürr vom Rauchen und hatte ein scharfes, faltiges Gesicht. Da hat ihr der Heinrich in den Ohren gelegen, wegen dem Gerede in der Stadt, und da hat sie ihn kurzerhand rausgeschmissen. Und das ist ihr dann auch noch gelohnt worden. Sie hat einen Orden gekriegt in der Ziegelei, Banner der Arbeit, da hat viel Geld dran gehangen. Wir haben da später oft dran denken müssen, als du weg bist vom Stellwerk und keine Rente gekriegt hast, weil du nicht zum Arzt gegangen bist. Und der Herr Böhm hat dich ja auch nicht invalid schreiben dürfen als Heilpraktiker. Da haben wir hier gesessen und gerechnet, und ab da hast du von unseren Ersparnissen gelebt. Da haben wir das oft gedacht und uns auch gesagt, daß sie den Falschen das Geld nachwerfen. Denn das hat ja mit der Ella nichts zu tun gehabt dieser Orden. Der war einmal da und mußte verteilt werden. Und weil sie in der Ziegelei die Trocknung auf Dampfheizung umgestellt hatten, und die Ella das erste Lattengerüst hat hineinfahren dürfen in den neuen Trocknungskanal, hat sie ihn gekriegt. Von rechts wegen hätte der Ingenieur ihn kriegen müssen, der die Anlage entworfen hat, aber die Instruktionen sind so gewesen, daß ein Arbeiter hat ausgezeichnet werden müssen. Und da haben sie gedacht, daß die Ella ja nun alleine ist mit zwei Kindern und das Geld brauchen kann. Und haben danach, Baldur, alle Ziegelwerke der Gegend zusammengefaßt in einem Betrieb und die Ziegelei auf der Wiesenthalstraße zugemacht! Die Dampfkanaltrocknung und der Orden – alles für nichts! Da hat der Oswald, als er Schulungsleiter geworden ist bei der Gewerkschaft, gemeint, das müßte man den Leuten mal erzählen. Also das Geld, Baldur, das hat die Ella verjubelt. Ist nach Karl-Marx-Stadt gefahren in den Chemnitzer Hof zum Tanz und hat die große Dame gespielt. Das war aber ihr Schwanengesang. Zu schnell alt geworden ist sie und hat die Männer nicht mehr bezirpsen können. Da hat sie nichts mehr gehabt, was ihr hätte Halt geben können, denn was sie gehabt hat bis dahin, das ist vergänglich gewesen. Ob sie mal aufgeschaut hat aus ihrer Ziegelei? Da hätte sie am Berg die Kirche über Oberstein-Willerthal sehen können, den Turm mit dem Grünspan auf dem Dach und der Kugel darunter. Jetzt hat sie sie ja täglich vor Augen, wohnt im Stollengäßchen, und ist für die Leute in der Stadt nur noch die Liebe. Liebe, Liebe, das rufen ihr die Kinder nach aus der Hilfsschule im Riedelstift, weil sie sich so furchtbar aufregt darüber. Und da fuchtelt sie mit dem Stock und schimpft in ihrem schlesischen Dialekt und stinkt nach Tabak und abgestandener Wäsche. Und die ganze Stadt nennt sie die Liebe und sie .. ist mit uns verwandt. – Das Ticken der Wanduhr. – Ja, Donnerstag für Donnerstag sind wir hin damals zu dem Herrn Böhm, als du aus dem Stellwerk weg bist, Baldur. – Das Ticken der Wanduhr. – Und da lag das zehn Jahre zurück, daß die Frau Borowski mich angesprochen hat im Haus, wie mir die Bluse gefällt aus dem Exquisit. Zehn Jahre, Baldur, daß ich blaß geworden und schnell die Treppe runter bin, und am Abend was gesagt hab zum Oswald. Aber er hat alles abgestritten und gesagt, wer weiß, wen die Borowski’n gesehn hat auf der Brückenstraße in Karl-Marx-Stadt, ihn nicht. So ist es immer gewesen, Baldur, kein Herankommen, und da haben wir gelebt, jeder in seiner Tarnung und haben geschwiegen. – Das Fenster wird geschlossen. Schritte, die plötzlich innehalten. Angehaltener Atem. Es klingelt, und nach einer Pause noch einmal. Von draußen eine Frauenstimme: „Herr Olbrich ..? Ich bin Frau Schönborn, ihre Nachbarin. Frau Schönborn, Baldur! Ich darf Sie doch Baldur nennen? Ich kenne Sie ja noch als kleinen Jungen, da habe ich Sie Baldur genannt, wenn Sie an meinem Garten vorbeigegangen sind, einkaufen für Ihre Mutter, erinnern Sie sich?“ – Pause. – „Herr Olbrich, ich mach mir Sorgen um Sie! So .. so ohne jede Bewegung .. Sie sitzen auf Ihrem Stuhl neben der Tür .. So sehe ich Sie nämlich, von meinem Fenster aus .. Stunde um Stunde .. Vier Jahre, Herr Olbrich, die das nun schon geht .. – Nein, wenn ich Sie nicht manchmal mit dem Staubsauger gesehen hätte .. würde ich .. annehmen müssen .. würde ich die Polizei rufen, Herr Olbrich!“ – Pause. – „Wollen Sie, daß ich jemand rufe?“ – Lange Pause ohne Geräusch. Dann das Ticken der Wanduhr, das schwächer wird, bis es verschwindet. – Oja, Baldur, ein manches Mal hab ich mir ein Ende gewünscht, hab gewünscht daß ich sterb, aber ich bin nicht gestorben, keiner ist gestorben, auch der Oswald nicht, und da bin ich wie über mir gewesen, und hab mich gesehen, wie ich meine Wirtschaft mach, so wie ich sie gemacht hab seit sechzig Jahren. Das ist wie auf deinem Stellwerk gewesen, Baldur, wenn ich dir das Essen gebracht hab sonntags und dann noch auf dem Stuhl gesessen hab zwischen dem Fenster und deinem Schreibtisch mit den Telefonen und dem Stempelkarussel und der Schale mit den Kopierstiften. Ich hab da über das Land gucken können, über die Kohlehalden von Oberlug bis hinauf ins Gebirge. Das ist mal ein Ruhepunkt gewesen. Aber dann haben sie im Bahnhof die Umstellung vorgenommen, und haben die Fahrdienstleiter aufs Stellwerk gesetzt, und da ist das zu einem Ende gekommen mit dir. Da ist es wie ein Einbruch gewesen für dich in deine Welt, denn das hast du nicht gekonnt, einfach so reden. Und da bist du in der Wahrheit gewesen. Und bist in der Stille gewesen und im Schweigen. So wie ich tagaus tagein ein halbes Jahrhundert im Lärm von Braune & Langer drüben. Und so wie der Oswald unter den vielen Worten, die er gemacht hat. Aber das hast du nicht mehr gehabt. Du hast keine Tarnung mehr gehabt, daß man dich hat angucken können. Und das ist keiner für die Leute, den man nicht angucken kann. Und da haben die Fahrdienstleiter den Dienst getauscht, so oft sie konnten, um nicht mit dir zusammenzusein. Und so waren wir hier, die ganzen Jahre, Baldur, in unserer Wohnung auf der Courths-Maler-Straße, und es ist mir vorgekommen wie auf deinem Stellwerk, wie auf einer Kanzel, wie über dem Leben. Und die Geräusche aus der Stadt sind ganz fern gewesen, und da haben wir manchmal das Wohnstubenfenster aufmachen müssen, um noch was zu hören. Und da ist einmal das Fenster aufgegangen neben uns, wie damals, als der Krieg zu Ende war, und die Frau Friedrich und der Oswald den Rauch haben rauslassen müssen von den vielen Zigaretten. Aber diesmal war das nicht die Frau Friedrich drüben, sondern der Herr Borowski, jedoch auf unserer Seite ist es noch immer der Oswald gewesen. Und Fenster an Fenster, so haben sie da gestanden, der Buchhalter Oswald und der Parteisekretär Borowski, und hinuntergelauscht zum Kreisrat, wo die Demonstration war. Und ich bin zu der Zeit vom Fleischer gekommen und hab bei der Hausschild oben die DDR-Fahne hängen sehen mit einem kreisrunden Loch in der Mitte. Und dann bin ich die Treppen hoch mit der Einkaufstasche und stand hier und hab mich umgeschaut in unserem Wohnzimmer, und es war alles, wie ich es immer wollte, wie es immer war: An seinem Platz. Wie ich es in St. Jakob im Seidelschen Haus gelernt und ein Leben lang gehalten habe, Stunde um Stunde, bis es Zeit war.