Erzähler: Wenn ich in meiner Kindheit vor dem Weckerklingeln erwache, ist da auf der Straße ein vereinzeltes Wort gewesen.
Dann Fußgetrappel.
An solchen Tagen stehe ich auf und trete ans Fenster.
Unten, auf dem Bürgersteig, eine dunkle Schlange, grau in der faden Straßenbeleuchtung – Arbeiter, Pendler, unterwegs zum Bahnhof, von wo sie in die Maschinenfabriken nach Leipzig fahren.
Eine Stunde später ertönen in Ermlitz-Wachau die Sirenen, mit denen die Brikettfabriken ihren Arbeitsbeginn verkünden.
In der Kaserne rücken die Mannschaften, Panzersoldaten, mit müdem Gesang aus zum Essen.
In den 1960er Jahren wird der Werktag von der Bevölkerung meiner Heimatstadt in Brikettfabriken verbracht, im Tagebau, in der Kaserne und in den Maschinen- und Textilfabriken von Leipzig.
Schließen die Fabriken, ruhen sich die Menschen einen Tag lang aus. Heruntergelassene Jalousien, vom Kohlestaub dunkle Vorgärten in der Sonne, auf den Straßen kein Lebewesen.
Meine Kindheit, will mir scheinen, besteht aus stillen Straßen und vergessenen Winkeln in Hinterhöfen und auf Dachböden.
Aus Arbeit und Erschöpfung.
Ist ein anderes Leben vorstellbar?
Eines, das nicht schweigend verbracht wird? Nicht in geistiger Abwesenheit und nicht mit der Sehnsucht in ein anderes Dasein?
Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ereignet sich am 5. August 1993.
Aus der Tür ihres Hauses in der Torfstraße in Ermlitz-Wachau, mit einer Plastetüte Möhrenkraut und Kartoffelschalen in der Hand, tritt Frau Niedegk.
Gewohnheitsmäßig blickt sie an der Fassade des Nachbarhauses nach oben.
Frau Niedegk: Steck den Kopf rein, Christine, heut ist Sprengung!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was?
Frau Niedegk: Die Kaserne! Heut wird die Kaserne gesprengt! Sie gehen alle auf den Sanzeberg hinaus, da kann man gut sehen!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer ist auf dem Sanzeberg?
Frau Niedegk: Ganz Ermlitz und ganz Wachau, Christine. Deine Enkelin auch. Sie hat den Stiwi mit!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Um Gottes willen, der Junge!
Frau Niedegk: Ach iwo, da passiert schon nix! – Es gehen viele hinaus, Christine!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Deshalb ist die Straße so leer! Ich wunder mich schon!
Schritte von fern.
Frau Niedegk: Da kommt noch einer … – Hat’s scheinbar eilig.
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Will der auch zu der Explosion .. ?
Frau Niedegk: Nee …. – Neenee, Christine, das ist ..
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer?
Frau Niedegk: Ach, nichts …
Die Alte Christine im Fenster: Was?
Frau Niedegk: Schon gut, Christine.
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer? Ich kann ihn nicht erkennen ..
Frau Niedegk: Dein Fleisch und Blut, Christine, dein Neffe .. Der Frank, der bei den Panzern war ..
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Der Frank .. ?!
Erzähler: Auf dem Bürgersteig gegenüber dem Haus Torfstraße 12 nähert sich ein etwa fünfzigjähriger Mann. Er ist groß, unrasiert und trägt – trotz der 26°C an diesem Sommertag – eine ölige Wattejacke. Über der Jacke einen olivgrünen, randvoll gefüllten Rucksack. – Er läuft schnell und mit gesenktem Kopf. Kräftig setzt sein Birkenknüppel auf auf den Granitplatten des Bürgersteigs.
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Herbst.
Der Gartentisch.
Ich am Birnbaum. Sechzehn Jahre.
Mein Vater kommt vom Brunnen
Geleert und abgedeckt
Die letzten Blätter fallen
Nackte Äste
Violett der Horizont
Die Luft ist rauchig
Stimme Vater [off] : Schlosser wirst du, Sohn. Mit Abitur.
Dann Offizier.
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Nein.
Errzähler: Wolf bleibt stehen, die Rechte auf den Birkenknüppel gestützt. Er schaut vor sich hin auf den Bürgersteig.
Wolf: Mein Vater, Bergmann, hebt die Schultern: … Arbeit ist das halbe Leben, ihm ist sie das ganze. Schweigsam immer … Die Gedanken, was weiß ich wo, haben ja auch Zeit zu wandern, die Gedanken, an der Kohlepresse, wo der Dampf die Arbeit macht, und die Hydraulik, und die Hände nur die Ordnung halten, und der Kopf ist frei, zum Wandern, was weiß ich wohin, in die Vergangenheit, weil, das Leben hier ist Arbeit, daß er, bis er stirbt, was heimbringt …
Stimme Vater [off]: Daß du einmal mehr heimbringst für die Familie, Kind, als ich -: Offizier!
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Nein.
Stimme Vater [off]: Offizier, Punktum.
Errzähler: Wolf schaut auf. Frau Niedegk steht auf der Straße, ohne sich zu rühren. Endlich läuft Wolf, weit ausholend mit dem Knüppel, weiter.
Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Der Gartentisch. Die Stühle angeklappt.
Abgedeckt der Brunnen.
Ich am Birnbaum:
Sechzehn Jahre ..
Erzähler: Wolf zieht die Torfstraße hinab. Frau Niedegk leert ihr Möhrenkraut und die Kartoffelschalen in einen Aschekübel, der vorn an der Straße steht.
Der Birkenknüppel, schwächer werdend. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Sechzehn Jahre!
Unbekannt
Dem Vater
Bald
Fällt Schnee ….
Erzähler: Die alte Christine Wolf in ihrem Fenster im 2. Stock beugt sich zu Frau Niedegk hinunter.
Die alte Christine Wolf im Fenster: Mit dem is was! Man muß bei ihm zu Hause anrufen!
Frau Niedegk: Bei ihm zu Hause? Christine! Kriegst du denn nichts mehr mit in deiner Mansarde? Die Steffi wohnt alleine jetzt, er ist weg von zu Hause! Und die Tochter auch, studiert in Leipzig!
Erzähler: Sagt Frau Niedegk und schließt die Haustür hinter sich. Zurück bleibt die leere Torfstraße, auf die aus ihrem Fenster im 2. Stock die alte Christine Wolf hinunter guckt wie vordem. – Drei Straßen weiter, auf dem Schlackeplatz des BSV 07 Ermlitz-Wachau, Sektion Fußball, lassen zwei Siebzehnjährige die Motoren ihrer Mopeds aufheulen.
Erster Jugendlicher: Cool eh! Was für ’n Klang!
zweiter Jugendlicher: brüllt gegen die auf Hochtouren laufenden Motoren Könnte immer Sprengung sein! Die Straßen menschenleer! Los!
Geräusch der davonjagenden Mopeds. dann wieder näherkommend – Crash. Kichern.
Erzähler: Sie wälzen sich hin und her zwischen den gestürzten Mopeds, rollen herum auf den Bauch. Während zwischen ihnen ein Joint hin und her geht, schauen sie über ihre Mopeds wie über eine Düne auf die Straße. – Dort steht Wolf.
zweiter Jugendlicher: Silo.
Erster Jugendlicher: Silo?
zweiter Jugendlicher: Haben die Landser gesagt zu den Offizieren. Tage zu dienen, soviel wie ein Silo Löcher hat.
Kichern.
zweiter Jugendlicher: Hab ich von meinem Alten. War Silo – wie der.
Pause.
Erster Jugendlicher: Kennst du den?
zweiter Jugendlicher: Vom Sehen. – In den Hallen war der. Ausbildungskompanie. Panzerschlosser. ’N ganz Scharfer … Einmal zu spät aus dem Ausgang hieß dreimal Sturmbahn! Rauf und runter! Und jetzt …. kichert ..
Erzähler: Sie schlagen mit der Stirn auf auf den Tanks ihrer Maschinen. Schließlich legt sich der Junge, dessen Vater Offizier war, auf den Rücken. Sein Freund beobachtet weiter die Straße, von wo Wolf seinen Blick über den Schlackeplatz, die Mopeds und die Jungs wandern läßt.
Erster Jugendlicher: Mann, wie der aussieht! Und stinkt! Ich riech’s bis hierher!
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Quatsch!
Erster Jugendlicher: Quatsch? Weggesperrt gehört der!
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Wieso denn?
Erster Jugendlicher: Wieso denn! Wozu ist der gut?
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Mein Vater, Silo war der wie der … – Kichern. – Und dann – tschingdarassa – Abzug der Armee aus Ermlitz-Wachau! Er bleibt hier, weil er das Haus hat! Aber – kein Geld mehr für den Weiterbau! Zwei Jahre läuft er rum wie mit’m Vorschlaghammer gepudert! Bis er einen neuen Job kriegt. Bei einer Zeitarbeitsfirma. Disponent. Schickt nun arme Schweine in den Westen zum Malochen! Lohn wird gezahlt, weniger als vorher, aber – die Kredite fließen wieder. – Kichern. – Das Haus wird weiter ausgebaut… – Kichern. – Der Hausbau frißt ihn auf – mein Alter Pillen, daß er durchhält! – Kichern. – Wozu ist das gut?
Erster Jugendlicher: Du erbst ein Haus!
Stille.
Erster Jugendlicher: Drehn wir noch ’ne Runde?
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Lieber nich …
Erster Jugendlicher: Hey?!
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: kichert Vielleicht brech ich mir den Hals!
Erzähler: Er hält den Joint hoch.
Erster Jugendlicher: Ach komm!
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Hey hey! Es soll alles dran sein an mir, wenn …
Erster Jugendlicher: .. wenn was .. ?
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: .. wenn ich das Haus erb!
Kichern. – Dann Stille.
Erzähler: Sie stehen auf und gehen, die Mopeds schiebend, ab. – Auch Wolf verläßt seinen Platz am Eingang des Ermlitz-Wachauer Sportplatzes. – Schnell und mit gesenktem Kopf läuft er zurück Richtung Stadt-Zentrum. Sein Birkenknüppel setzt kräftig auf auf den Granitplatten des Bürgersteigs.
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Sommerübung.
Abschuß auf Abschuß.
Schläge wie von Bomben.
Sandfontänen.
Draußen in der aufgewühlten Weite
Eine kleine Birke
Hat unterirdisch sich
Besonnen und gesammelt in der Winterruhe
Hat hervorgeguckt im Frühling
Jetzt ist Sommer
Was ich sehe ist
Folge meiner Hände Arbeit
Die ich gut mach:
Stimme Vater [off]: Daß du was heimbringst, Kind, für die Familie .. !
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Ja …
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Ja! Ja! Ja!
Und Abschuß:
Meine kleine Birke
Dunkler Stamm noch, dunkle Äste
Zersplittert
In der Sandfontäne
Lautlos
: Strebt nun auf gen Himmel
Und ich sehe: .. so kann was zersplittern, ja ..
Dreißig Jahre.
Dreißig Jahre
Heimweg aus dem Krieg.
Straßen
Unterm schwarzen Himmel.
Und am Horizont der Wald
Aus Brikettfabrikschornsteinen.
Längs des Heimwegs
Eisenzäune:
Dunkle Gärten.
Dunkle Fenster
Spiegeln:
Einen großen Mann
Mit Aktentasche und in Uniform
Der ich bin
Wolf, Frank
Leutnant Oberleutnant Hauptmann.
Lücken zwischen grauen
Aus dem
Letzten offnen
Krieg geschädigten
Fassaden.
Dann
Aus einer milden Ferne
Abendlicht:
Durchblick hier
Des Leutnants Oberleutnant Hauptmanns
Auf
Die andere Armee:
Brikettfabrikschornsteine.
Heimweg
Aus dem Krieg
Im Krieg.
Jeder Blick
Macht schweigsam.
Schweigen, das ist
Leben.
All die Jahre auf den Schultern.
Stimme Frau [off]: Frank, wo bist du? Mit den Gedanken immer sonstwo! Sag was!
Der Birkenknüppel.
Wolf: All die Jahre auf den Schultern
All die Jahre.
Erzähler: Wolf geht vorbei an der geschlossenen Gaststätte „Volkshaus“, betritt die langgestreckte Ermlitz-Wachauer Ernst-Thälmann-Straße. Auf halbem Weg, hinter einem der Fenster der Förderschule „Janusz Korzcack“, das junge Gesicht eines Zivildienstleistenden. Eine Sekretärin in seinem Rücken verschiebt Magnetelemente auf einem Stundenplan.
Sekretärin: … kriegt doch die Zähne nicht auseinander! Ein guter Schlosser, in Ordnung, aber ein Verkäufer, Autohausbesitzer! Davon hat er geredet! Der und ein Autohaus! Da mußt du umgehen können mit den Leuten! Reden! Und der, maulfaul wie er ist …! Neeneenee, eingebrochen wär der! Der wär nie der Mann gewesen dafür! Froh sein soll der, daß mein Mann diesen Škoda-Menschen noch abgefangen hat, als er rauskam bei ihm! Er wollte ja nicht! Zögert und zögert! Und der Vertrag von Škoda mit den Bastigkeits fast schon unterschrieben!. – Wir, sag ich, wir haben das Grundstück! Und näher an der Stadt! Am Vergnügungspark, wenn es soweit ist! Und du bist Schlosser! – Nee, sagt er, neeneenee. Und zögert und zögert. – Aber nu, sag ich, nu is Fünf vor Zwölf! ! Nu geh mal raus auf die Straße! Daß du dastehst, wenn der Škoda-Mensch bei Bastigkeits die Tür hinter sich zu macht! Daß er dich sieht! Das ist wie mit deinen Zahnrädern, sag ich! Die liegen bei dir im Kasten, haben immer da gelegen, aber jetzt, wo’s eine andere Materialversorgung gibt, werden sie nicht mehr gebraucht. Oder nur ab und zu mal. Und da wird genommen, was vorne dran liegt! Was gesehen wird! Was rot angepinselt ist, so wie du es immer gemacht hast, wenn eins wichtig war von deinen Rädern! „Autohaus Kabitzke“ sag ich, „direkt am Freizeitpark Balstenaue“! Klingt dir das nicht in den Ohren? Ist das nichts? – Da ist er rausgegangen, mein Herr Kabitzke! Hat dem Škoda-Menschen unser Grundstück gezeigt an der Balstenaue! Nur, wie wir den Vertrag hatten, hat er wieder angefangen, der Gutmensch!. Daß es nicht recht war, mit dem Bastigkeit ..
Erzähler: Die Sekretärin unterbricht die Arbeit an der Stundenplangraphik und tritt neben den Zivildienstleistenden.
Sekretärin: Nee, sag ich zu ihm, nee! Nu is gut! Wir haben jetzt den Vertrag und auf unserem Grundstück wird gebaut. Wir müssen auch sehen, wo wir bleiben in diesen Zeiten!
Erzähler: In diesem Moment läuft unten – schnell und mit gesenktem Kopf; lange Schritte begleitet von einem weitausholenden Aufsetzen des Knüppels – Wolf vorbei.
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Dreißig Jahre Heimweg aus dem Krieg
Im Krieg!
Leben
Das ist Schweigen.
All die Jahre!
All die Jahre!
Sekretärin: Mein Gott .. ! Daß der wieder draußen ist! Der Wolf! Und in der Wattejacke bei dieser Wärme!
Erzähler: Sie geht zurück an die Wandgraphik.
Sekretärin von der Wandgraphik: Schauen Sie sich ihn ruhig an! Der war mal ’n ordentlicher Mensch! Ausbilder bei den Panzern!
Erzähler: Der Zivildienstleistende am Fenster schweigt.
Sekretärin: Wer sich nicht anpaßt, geht unter! So oder so. So ist das.
Der zivildienstleistende vom Fenster: In einer gerechten Welt ist Platz für jeden.
Erzähler: Die Sekretärin, eine Frau um die vierzig, schaut aufmerksam auf den jungen Zivildienstleistenden am Fenster.
Sekretärin: Gerechte Welt .. ?!
Erzähler: Der Zivildienstleistende nickt. Er geht zu einem Wischeimer, der in der Mitte des Sekretariats steht.
Sekretärin: aufgebracht Das sagen Sie! Weil Sie es sich leisten können! Weil sie ..
Erzähler: Der Zivildienstleistende senkt den Kopf und wischt den Boden. Die Sekretärin behält, was ihr auf der Zunge liegt und arbeitet weiter an ihrem Stundenplan. Ab und zu schaut sie auf den wischenden jungen Mann.
Sekretärin: Eines müssen Sie mir erklären, Josef: Warum leisten Sie Ihren Dienst im Osten?
Erzähler: Der Zivildienstleistende überhört die Frage.
Sekretärin: Warum sind Sie hier, Josef?
Erzähler: Der Zivildienstleistende Josef nimmt den Eimer und geht mit ihm auf den Flur hinaus. Er murmelt etwas, das die Sekretärin nicht versteht. – Inzwischen läuft Wolf die Ernst-Thälmann-Straße hinab. In den Ruß auf den Marmortreppen des Kulturhauses „Tatkraft“ haben Regentropfen aus kaputten Dachrinnen konzentrische Muster geschlagen. Unverändert über der Bergarbeiter- und Garnisonsstadt Ermlitz-Wachau steht der blasse Himmel des 5. August 1993. – Wolf biegt ab nach rechts. Links, weiß er, führt der Weg auf den Sanzeberg, von wo man den Blick hat auf die Kaserne, in der er gedient hat. Sein Birkenknüppel setzt auf auf Sand und Kohlestaub in trockenen Mulden am Straßenrand.
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: 1972:
Leutnant.
Rückkehr
Nach Ermlitz-Wachau.
Rückzug!
Tor abschließen!
Front begradigen!
Das Leben draußen:
Dienst.
Was?
Stimme: [off) Genosse Leutnant! Vierte Panzerwartungs kompanie zum Waffenreinigungsappell angetreten!
Stimme Wolf [off]: Danke. Rühren.
Marschtritt; Gesang marschierender Kolonnen in der
ferne[off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘
Und die alten Lieder singen
Fühlen wir, es muß gelingen …
Mit uns zieht …
Die neue Zeit …
Mit uns zieht …
Die neue Zeit …
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Mit uns
Die neue Zeit!
Ich
Ziehe aus:
Zur Sommerübung.
Jahr für Jahr:
Sandfontänen
Schläge wie von Bomben
Marschtritt; Gesang
marschierender
Kolonnen in der
Ferne [off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘
Und die alten Lieder singen
Fühlen wir, es muß gelingen …
Der Birkenknüppel.
Wolf: Das ist draußen.
Drin, das ist:
Der Druck am Hals, der Preßstock
Kompaniechefzimmer.
4. Panzerwartungskompanie.
Ich der lange Leutnant Oberleutnant Hauptmann
Laufe hin und her
Sitze
Hinterm Schreibtisch:
Wandern der Gedanken, Kreisen wie Gestirne:
Kinderstimmen [off off]:
Kinderferienlager Anhalt.
Vier Gefährten, Freunde
Wir
Türmen
Ziehen unter einem großen Himmel
Übers Land
Wohnen in versteckten Scheunen
Über denen
– ist es Morgen?
ist es Abend? –
Jetzt
Und weiter
Von einem Jetzt
Zum anderen
Der Augenblick steht, der
– Gewalt aus Blau –
Kopf um Kopf
Uns in die Nacken reißt
Und unsre Pfeile
Abnimmt
Aufnimmt
Die nun
Steigen
Steigen
Wenden
Fallen
Wir
Mit erhobnen Armen
Bloßen Händen
Unten
Fangen und Empfangen
Die Wellen von der Welten
Hintergrund!
Marschtritt; Gesang
Marschierender
Kolonnen in der
Ferne [off]:
Mit uns zieht …
Die neue Zeit …
Der Birkenknüppel.
Wolf: murmelt.. Hundert Meter weiter
Auf der Straße ..
… wartet
Lange schon
Die Polizei.
Birkenknüppel.
Wolf: Dann Herbst
Birkenknüppel.
Wolf: Und Herbst
Birkenknüppel.
Wolf: Und wieder Herbst.
Stimme vater [off]: Schlosser wirst du, Sohn. Mit Abitur.
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Ja.
Stimme vater [off]: Dann Offizier.
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Ja.
Stimme vater [off]: Daß du was heimbringst, Kind, für die Familie!
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Ja.
Birkenknüppel.
Marschtritt.
In der ferne scharfes Kommando [off]: Ein Lied!
Gesang marschierender Kolonnen in der ferne [off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘ …
Kinderstimmen [off off]:
Und unsre Pfeile
Weiter
Steigen
Steigen
Immer weiter
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Das ist draußen.
Drin, das ist:
Der Druck am Hals, der Preßstock
Kompaniechefzimmer.
4. Panzerwartungskompanie.
Was hin und her läuft
Sitzt und seine Bücher führt
Und wieder sitzt und
Wartet
Ist Leutnant
Und wird Oberleutnant
Hauptmann.
Birkenknüppel.
Lachsfarben
Jeder Horizont
Seitdem
Unter jedem Himmel
Kriech ich
Birkenknüppel.
Unter Stacheldraht.
Stimme Frau [off]: Frank, wo bist du? Mit den Gedanken immer sonstwo! Sag was! Mein Gott, das steht und steht und rührt sich nicht! Was ist da am Fenster?
Birkenknüppel.
Wolf: Aufwärts jeder Blick
Seitdem
Ist ..
Kinderstimmen [off off]: Steigen
Steigen
Wenden
Fallen
Stimme Frau [off]: Frank!
Erzähler: Wolf läuft auf der Leipziger Straße auf löchrigem Fahrdamm, biegt ein auf einen Seitenweg. Rechts und links Zäune, letzte Gärten. Dann weites, flaches Land. Quer auf einem Feldweg ein Polizeiwagen. Wolf kehrt um, tritt den Rückweg an über Feldweg und Leipziger Straße. Einmal – vielleicht, weil er Kinderstimmen hört – bleibt er stehen. Der Blick – aufwärts gerichtet in eine farblose Wolkendecke.
Er läuft weiter. Rechts, in der Ferne, die Silhouette der Stadt Leipzig. Ein Gefühl, Angst wie vor einem heraufziehenden Gewitter, beschleunigt seine Schritte, läßt ihn den Knüppel kräftig und schnell in den Sand stoßen. – Auf der Kreuzung Leipziger – Espenhainer Straße bleibt er erneut stehen. Die Ausfahrten nach Norden und Westen gesperrt durch Polizeiwagen. Zwei Beamte, ausgestiegen, steif und mißtrauisch vor dem Wohnhaus Espenhainer Straße. – Hier steht er. Auf der Ernst-Thälmann-Straße, von der Stadt her, nähert sich ein BMW; aus dem Eingang zur Kleingartenanlage „Balstenaue“ treten drei angetrunkene Männer. Zwei von ihnen tragen Nylonanzüge. – Als sie Wolfs ansichtig werden, dreht der eine sich um. Bleibt, den Rücken Wolf zugekehrt, stehen.
Erster Mann: Was’ los?
Zweiter: Wolf!
Erster: Was?!
Zweiter: Der Wolf!
Erzähler: Der Mann – weiße Nylonkacke unter einem vom Alkohol verzeichneten Gesicht – blickt krampfhaft in die Obstbäume hinter den Zäunen der Kleingartenkolonie.
Zweiter: Er hat mich nach Schwedt geschickt! Eingeknastet!
Erster: Fünfzehn Jahre her! Vergiß es!
Zweiter: Vergessen? Die Hölle glatt vergessen?!
Dritter mischt sich ein Was für eine Hölle?
Erster: Er hat im Militärgefängnis gesessen..
pfiff durch die Zähne.
Dritter: Und warum?
Erster: Nach Freiheit zumute war ihm. Heiseres Lachen. Nach frischer Luft und Wind und Sonne, nicht wahr!
Zweiter: Kein Stacheldraht und keine Mannschaftsunterkünfte!
Erster: Abgehaun von Wache … – Als Unteroffizier!
Dritter: Und der?
Erster: Der da .. Der jetzt abhaut, ja .. War sein Vorgesetzter und hat ihn verknackt.
Zweiter: Er hätte mich nicht vors Militärgericht bringen müssen!
Erster: Das ist es, worüber er nicht hinwegkommt! Niemand hat von seinem Ausflug etwas gewußt außer dem da! – Wie hat er gesagt zu dir?
Zweiter: Denkst du mir ist nicht nach Freiheit zumute?! Aber Freiheit nimmt man sich nicht! Man erarbeitet sie! Durch Disziplin! Durch Arbeit! Durch lebenslange Arbeit!
Erzähler: Sie stehen, ratlos, stumm. Kehren zurück dann in die Kolonie, in ein eben verlassenes Gartenlokal. – Auf der Espenhainer Straße hat der BMW die Absperrung erreicht und einen Mann im weißen Sommermantel entlassen. Dieser, ein Handy am Ohr, steht vor den Polizisten, die ihn aufmerksam anschauen.
der Mann im Mantel: … Nein, noch nicht …. Was ich mache? – Was machst du grade? Was .. ? – Oh, ich würd dir gern .. – Nein, du arbeitest! Ja, du hast am Wochenende Ausstellung. Jawohl, auch gestern hast du gearbei .. – Hast du nicht! Im Cicadilly! Mit Max! Mein Gott, Max! Ausgerechnet Max! Es ist nicht, wie ich denke? Wie denk ich denn? – Eifersüchtig? Ich? Aber Lödilein .. ! – Ja, Freitag .. – Nein, gestern bin ich durch die Stadt gefahren .. Leipzig, ja … Ghetto .. Plattenbau .. mit Zigaretten an den Fenstern diese Weiber .. wie im Kontakthof, ja, hahaha … arbeitslos … Nein, die hatten keine Arbeit mehr, bevor wir kamen .. Nein, keine Geliebte … Nein, hab ich nicht! .. Nein! … Eifersüchtig ich? Kennst du die Szene aus .. mir fällt der Film nicht ein …, wo die beiden unten poppen, und der andere guckt über die Klowand, und die kleine Fotze unten, während sie hoch und runter hopst auf ihrem Lover, lächelt rauf zu ihrem Freund .. Es ist nicht wie du denkst, haha .. – Ja, hat sie gesagt …
Frauenstimme: Hey, ich bin auch noch ..
Erzähler: Aus dem Wagenfenster schaut eine Frau.
der Mann im Mantel: Wie ..? .. Eine Kollegin .. Du es geht los .. . Bis morgen … Ich dich auch ….
Erzähler: Der Mann im Mantel steckt das Handy weg und spricht die Polizisten an.
der Mann im Mantel: Führt diese Straße auf den Sanzeberg?
der grosse wachtmeister: Sie führt vor den Sanzeberg, und dann müssen Sie dort die Treppen hinaufsteigen.
der kleine wachtmeister: Aber die Straße ist gesperrt.
der Mann im Mantel: Und einen anderen Weg gibt es nicht?
der grosse wachtmeister: Zu Fuß durch die Kleingartenanlage „Balstenaue“. Dort drüben.
der kleine wachtmeister: 10 Minuten und Sie sind da.
Erzähler: Der Herr im weißen Sommermantel nickt und lächelt seiner Begleiterin hinter der Frontscheibe des BMW zu. – Wendet sich wieder an die Polizisten.
der Mann im Mantel: Ich komme von dem Unternehmen, das Ihnen in Ermlitz-Wachau den Freizeitpark bauen wird!
Erzähler: Die beiden Polizisten schauen sich an.
der kleine wachtmeister: Dann kommen Sie sozusagen zu Ihrer Sprengung!
der Mann im Mantel: Um alles zu dokumentieren, meine Herren. Das heutige Ereignis wird aufgenommen und festgehalten für die Zukunft! Da, die Kameras!
der kleine wachtmeister: Sie dokumentieren das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Epoche! Verstehe!
der Mann im Mantel: In Epochen zu denken haben Sie gelernt im Osten, ich weiß, ich hatte ….
Erzähler: Er lächelt seine Begleiterin an.
der Mann im Mantel: … Gelegenheit, mich kundig zu machen betreffs der Mentalität dieses Landstrichs. – Aber wissen Sie auch, was die neue Epoche Ihnen bringen wird?
der kleine wachtmeister: Sie werden’s uns sagen!
der Mann im Mantel: Sie wird Ihnen Ihre geheimsten Träume erfüllen, meine Herren, Träume, die Sie noch nie zu träumen wagten!
der kleine wachtmeister: So!
der Mann im Mantel: Nennen Sie mir einen Traum, und ich beweise Ihnen, daß dieser Traum nichts ist gegen das, was Sie in unserem Park erwartet!
der kleine wachtmeister: So auf die Schnelle .. ?
der Mann im Mantel: Träume leben! Das ist unser Slogan! Den Alltag unter, hinter, neben sich lassen! Alles wird gelebt! Was nicht gelebt werden kann, wird nicht geträumt!
Erzähler: Der Mann im weißen Sommermantel lächelt und geht in die Kniee.
Die wachtmeister: Stopp!
der grosse wachtmeister: Was soll das?!
Erzähler: Der Mann im weißen Sommermantel läßt sich von seiner Begleiterin eine Kamera reichen..
Die wachtmeister: Stopp stopp stopp!
der Mann im Mantel: Zu spät, meine Herren! – Hier! Ihr Porträt! Es wird prangen auf den Prospekten von „Semiramis“! „Semiramis“ – größter deutscher Freizeitpark! Und darunter die Headline: „Dies sind die Beamten, die am Anfang einer neuen Ära über ihren Schatten sprangen!
der kleine wachtmeister: Über unsere Schatten?
der Mann im Mantel: Ein Gefallen, meine Herren, um den ich Sie bitte! Oder soll ich wirklich mein Equipment 2 km weit schleppen? Es ist doch vollkommen ungefährlich da hinten an diesem .. wie heißt er doch? .. Sanzeberg!
Erzähler: Die Wachtmeister sehen sich betreten an.
der grosse wachtmeister: Wir hätten da doch einen Traum!
der Mann im Mantel: Welchen!
der grosse wachtmeister: Daß jeder sich an Recht und Ordnung hält! Auch wenn es Mühe macht!
der kleine wachtmeister: Das machte – sozusagen – die Polizei überflüssig!
Erzähler: Lächelnd wendet der Herr im weißen Sommermantel sich an seine Begleiterin.
der Mann im Mantel: Siehst du! Das mein ich! Der Osten, wenn er träumt, träumt preußisch! – Nichts für ungut, meine Herren; wir werden uns noch verstehen! Wo, sagten Sie, ging der andere Weg lang?
der grosse wachtmeister: Da drüben.
der kleine wachtmeister: Da, wo drüber steht, „Balstenaue“.
der Grosse wachtmeister: Sie lassen Ihren BMW stehen und gehen zu Fuß durch die Kleingartenkolonie.
der kleine wachtmeister: Zehn Minuten, und Sie sind da!
der Mann im Mantel: Danke auch, die Herren! Danke! Trotzdem danke!
Sich entfernende Schritte.
der kleine wachtmeister: Arschloch!
Erzähler: Die Wachtmeister schaun dem Herrn im Mantel und seiner Begleiterin nach, wie sie beladen mit Kameras im Durchlaß unter einem schmiedeeisernen Rundbogen mit dem Wort „Balstenaue“ verschwinden.
Dann geht ihr Blick wieder geradeaus, die lange Flucht der Ernst-Thälmann-Straße entlang, wo in der Ferne, bevor er ihren Augen entschwindet, Wolf noch einmal einbiegt auf die Torfstraße. – Zögerlicher setzt sein Birkenknüppel auf auf den Pflastersteinen des gewundenen und engen Bürgersteigs. Schließlich bleibt er stehen.
Dünner Gesang weniger Stimmen [off]:
Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach laßt uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland.
Stimme Wolf [off – scharf]: Was?
Stimme [off]: Genosse Hauptmann! Vierte Panzerwartungskompanie zur Ausbildung angetreten!
Stimme Wolf [off – scharf]: Danke. Links um! Ausrücken! – in Lied!
Marschtritt; Gesang marschierender Kolonne und Stimme Wolf[off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘
Und die alten Lieder singen
Fühlen wir, es muß gelingen …
Mit uns zieht …
Die neue Zeit …
Sich entfernender Marschtritt. Grölende menschenmenge off]: Recht und Einigkeit und Freiheit Für das deutsche Vaterland !
Birkenknüppel.
Wolf: Rückzug!
Tor abschließen.
Front begradigen!
Grölende menschenmenge [off]:
Recht und Einigkeit und Freiheit
Für das deutsche Vaterland !
Birkenknüppel.
Wolf: Das ist draußen.
Drin, das ist:
Hinter meiner Glastür.
[leiser] Vor dem Glas:
Balkon.
Beton
Die Häuserzeile gegenüber.
Dann das Land und dann
Die Stadt:
Grölende
menschenmenge [off off]:
Recht und Einigkeit und Freiheit
Für das deutsche Vaterland !]
Birkenknüppel.
Wolf: Draußen, ja
Drinnen
Stille.
Ruhig
An der Wand
Die Uhr:
Stimme Wolf [off off – sehr fern] : Sandfontänen.
Schläge wie von Bomben.
In der aufgewühlten Weite
Eine kleine Birke
Hat unterirdisch sich
Besonnen und gesammelt in der
Winterruhe
Hat hervorgeguckt im Frühling
Jetzt ist Sommer
Was ich sehe ist
Folge meiner Hände Arbeit
Die ich gut mach:
Daß du was heimbringst, Kind, für die Familie
Abschuß! Meine kleine Birke
Dunkler Stamm noch, dunkle Äste
Zersplittert
In der Sandfontäne
Lautlos
: Strebt nun auf gen Himmel
Und ich sehe: .. so kann was zersplittern, ja ..
Dreißig Jahre.
Dreißig Jahre
Heimweg aus dem Krieg.
Straßen
Unterm schwarzen Himmel.
Und am Horizont der Wald
Aus Brikettfabrikschornsteinen.
Heimweg aus dem Krieg
Im Krieg.
Jeder Blick
Macht schweigsam.
Schweigen, das ist
Leben.
All die Jahre auf den Schultern
All die Jahre.
Weiter!
Weiter!
Weiter!
. Dunkle Gärten.
Dunkle Fenster.
Lücken zwischen
Sinkenden
Fassaden.
Dann
Aus einer milden Ferne
Abendlicht
All die Jahre
All die Jahre
Stimme Frau [off]: Frank! Mein Gott, Frank! Das steht und steht am Fenster und rührt sich nicht! Frank! Was soll nun werden?
Birkenknüppel.
Wolf: Was werden soll?
Gehen
Übers Land.
Über mein Land.
Panzerübungsland und Kohlegruben.
Gehen
Immer Gehen
Über’s Land
Das ich jetzt genau wie früher
Sehe:
Wüste!
Birkenknüppel.
Marschtritt.
Marschierende Alte Kameraden [off]:
Was Grübelst du Genosse!
S’war die Zeit!
Kaserne und Fabrik
Und die Wunden in der Landschaft
Tagebau und Panzerübungsplatz
Was wollten wir denn machen!
Das war die Bedingung
Kinder, daß
Wir der Familie was
Nach Hause bringen!
Marschtritt, sich entferndend
Birkenknüppel.
Wolf: Die alten Kameraden!
Die
– als sie es waren
Auch Genossen hießen! –
Marschiern
Aus der Kaserne!
Marschieren in ein Land, das wieder
Groß ist!
Marschieren in die Welt
Und grüßen
– Augen rechts! –
Und sagen:
Marschtritt.
Marschierende Alte Kameraden [off]:
Mit uns zieht
Die neue Zeit
Ein jeder muß
Sehen wo er bleibt!
Marschtritt, sich entfernend. – Aufkommender Wind.
Birkenknüppel.
Wolf: Gehen.
Gehen.
Wind.
Wolf: Stehen.
Platz vor der Kaserne, vor
Der neuen Obrigkeit:
Redner [vom Wind hinweggetragene Worte]: Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Ich spreche hier für das Neue Forum zu euch. Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Ihr habt euch versammelt, um dem Auszug beizuwohnen der Soldaten, die das Bild unserer Stadt für zwei Jahrhunderte geprägt haben! Für viele von Euch nicht leicht, denn die Schließung des Standortes Ermlitz-Wachau bedeutet Arbeitsplatzverluste!
Schon durch die Schließung der Brikettkraftwerke Tatkraft und Sonne – ebenfalls angesiedelt in unserer Region seit zweihundert Jahren – sind Arbeitsplätze vernichtet worden!
Damals Vollbeschäftigung und heute Arbeitslosigkeit?
Waren die Zeiten früher besser?
Früher – als Königlich Sächsische Armee, Reichswehr, Wehrmacht und Nationale Volksarmee hier ihre Rekruten drillten?
Früher – als unter einem fahlem Himmel und in der Morgenkälte unsere Väter, Großväter und Urgroßväter Tag für Tag hinauszogen in die Brikettfabriken nach Borna, Wachau, Zeithain?
„Leben!“ hörte ich einen Ermlitz-Wachauer sagen im Dezember 1989: „Jetzt will ich leben!“
Aber – könnt ihr das?!
Können wir das?!
Mit unsrem Hintergrund?
Leben?
Von einem Tag auf den andren leben?
Wie war es denn?
Wo haben wir unser Dasein gefristet?
Unter schwarzen Himmeln!
An den Ufern verseuchter Flüsse!
Im Angesicht von Schauder und Leere, die uns anwehten, wenn wir einen Spaziergang einmal weiter ausdehnten als bis Wachau hinaus!
Dann nämlich standen wir – und stehen wir noch heute! – am Rand einer Wüste!
Einer Wüste, die jene Zeit uns hinterlassen hat, in der wir Anhängsel von Waffen und Maschinen waren!
Und diese Wüste, Ermlitz-Wachauer, ist noch immer in uns!
Wind und fahnenklirren.
redner [off]:
Wie war es!
Wir sind aneinander vorbeigegangen!
Wir haben nebeneinander hergelebt!
Das war – von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr – unsere Gegenwart!
Wir haben die Augen verschlossen!
Tief in uns drin haben wir in einer Wüste gehockt!
Wind und fahnenklirren.
Stimme Wolf [off]: So ist es!
fahnenklirren – dann Stille
redner [off] :
Kommen wir da raus!
Kommen wir an jetzt in der Gegenwart!
Kommen wir miteinander an bei uns!
Wagen wir – daß es anders wird mit uns! – Demokratie!
Stimme Frau [off]: Mein Gott! Das steht und steht am Fenster und rührt sich nicht!
Was siehst du da?!
Marschtritt.
Marschierende Alte Kameraden [off]:
Genau!
Was
Siehst du da
Genosse!
Wir
– Augen rechts und Stechschritt –
Ziehen weiter
In Irgendsoein Asien!
Besetzen irgendeinen
Balkan!
Mit uns zieht
Die neue Zeit
Ein jeder sieht da
Wo er bleibt!
Marschtritt, sich entfernend. – Fahnenklirren.
Dünner Gesang weniger Stimmen [off]: Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach laßt uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Erzähler: Wolf steht auf der Torfstraße, gesenkter Blick, mit der rechten Hand auf den Knüppel gestützt. Im Aufschauen sieht er vier Häuser weiter seine Tante Christine in ihrem Fenster im 2. Stock. Er wendet den Blick, geht los, biegt ein in die Mittelstraße, von wo es über das Kino „Weltecho“ zurückgeht auf die Ernst-Thälmann-Straße. Er überquert den Fahrdamm und erreicht über ein Brachland mit ausrangierten Maschinenteilen die Grubenbahn aus dem Tagebau Weißenhain. – Auf der Torfstraße schaut die alte Frau Wolf weiter aus dem Fenster. Schließlich – es ist zehn nach halb elf – tritt Frau Niedegk aus der Haustür. Sie geht zu einem Audi, der am Straßenrand parkt.
Frau Niedegk: Na, Christine, Zeit Mittag zu machen!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Der Frank war hier.
Frau Niedegk: Noch einmal!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Er hätt mich sehen müssen.
Frau Niedegk: Er hat sich geschämt vor dir!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was hat er?
Frau Niedegk: Schon gut, Christine.
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Mir tät das nicht gefallen, wenn ich seine Frau wär! Den ganzen Tag durch die Stadt laufen!
Erzähler: Frau Niedegk wendet sich ab und verstaut mehrere Klappboxen im Kofferraum. Dann dreht sie sich um.
Frau Niedegk: Ich hab’s dir schon mal gesagt, Christine: Er wohnt nicht mehr zu Hause!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Den ganzen Tag durch die Stadt laufen! Herregott!
Frau Niedegk: Sie haben ihn in die Psychiatrie eingewiesen nach der Sache in Baden-Baden!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Ich versteh so schlecht, Frau Niedegk!
Frau Niedegk: Wieso er jetzt draußen ist – frag lieber nicht!
Pause.
Frau Niedegk: Christine? Alles in Ordnung?
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Jaja.
Pause.
Frau Niedegk: Ich muß. Nachmittagsschicht im Allkauf! Und der Mann kommt! Aus Stuttgart! Und will es aufgeräumt haben! Alles am Platz und eingekauft! Na, Hauptsache Arbeit! Sei froh daß du alt bist, Christine, und dein Dach überm Kopf hast! Man kommt nicht mehr zum Luftholen!
Zuklappende Hecktür, Schritte ums auto.
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Es ist nicht schön, wenn man zu nichts mehr nutze ist!
Frau Niedegk: Du hast dein Leben lang genug gearbeitet, Christine!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was?
Frau Niedegk: Weißt du, was ich mir wünsche, Christine? Im Lotto gewinnen und das Geld einfach ausgeben! Muß man denn immer zu etwas nutze sein!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Unredlich Geld macht nicht glücklich!
Frau Niedegk: Ach, Christine!
Autotür, startendes auto.
Erzähler: Es ist der 5. August 1993, und auch ich fahre nach Ermlitz-Wachau. Im Bus versuche ich mich an die Panzergrenadierkaserne 13 des ehemaligen Panzerregimentes „Wilhelm Pieck“ zu erinnern: An den Bohnerwachs- und Waffenölgeruch auf ihren Fluren und in den Stuben, an die vielen stillen Sonntagvormittage, an Detonationen und Tagesablaufpläne. Und ich erinnere mich an durchzechte und erschöpfte Nächte, in denen wir gegen das Leben, das wir führen mußten, aufbegehrt hatten. – Es ist gegen elf, als ich in Ermlitz-Wachau aus dem Bus steige. Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn von Schwelle zu Schwelle. Zögernd sticht sein Birkenknüppel ein in den Schotter zwischen den Schienen.
Stimme Frau [off]:
Hier!
Extraverdienst durch ..
Nein, hier!
Wach- und Sicherheitspersonal.
Voraussetzung: Flexibilität
Auftragsvermittlung § 34 a
Was bedeutet das?
Frank?!
Frank, hörst du mir zu?
Du mußt was machen!
Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Arbeit ..
Arbeit, ja.
Arbeit ist das halbe Leben.
Stimme Vater [off off]:
Schlosser
Wirst du, Sohn!
Birkenknüppel.
Wolf: Als Schlosser
In der Grube Zeithain
Abgelehnt.
Stimme Frau [off]:
Hier! Arbeitsvermittlung Teutec
Sucht
Erfahrene
Bauschlosser und Schweißer
Gelsenkirchen
Bewerbung unter …
Birkenknüppel.
Wolf: Schlosser ..
In einem Gelsenkirchen ..
Marschtritt.
Die Alten Kameraden [off]:
Was zögerst du
Genosse!
Wir
– der Balkan
hat nicht Brot für alle! –
Ziehn jetzt weiter
In irgendeine
Zeitarbeit.
Andere Alte kameraden [off]:
Wir
– Kapital
vermehrt den Volkswohlstand! –
In irgendein
Finanzgeschäft!
Alle [off]:
Mit uns zieht
Die neue Zeit
Ein jeder sieht da
Wo er bleibt!
Marschtritt, sich entferndend. – Das Innere eines wagens auf stark befahrener Autobahn.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Redner [ off off]:
Tief in uns drin haben wir in einer Wüste gehockt!
Kommen wir da raus!
Kommen wir an jetzt in der Gegenwart!
Birkenknüppel.
Wolf: Jawohl!
Kommen wir jetzt an, haha!
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Birkenknüppel.
Wolf: Jawohl!
Jawohl!
Autobahnkreuz Frankfurt.
Bis in den Ruhrpott
Dreihundert Kilometer.
Kommen wir jetzt an, haha!
Stimme [off]: Kerl, die Fuge!
Stimme Wolf [off]: Ich bin kein Maurer.
Stimme [off]: Hier wird gemacht, was angewiesen wird!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Stimme [off]: Also!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Stimme [off]: Siehst du!
Und Montag Düsseldorf!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Birkenknüppel.
Wolf: Rückzug.
Front begradigen und
Sitzen!
Hinter einem Lenkrad:
Sicherheit der Armaturen!
Das Innere eines wagens auf stark befahrener Autobahn.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Redner [off off]:
Wo wolltet ihr leben!
Unter diesem schwarzen Himmel?! An den Ufern verseuchter Flüsse, im Angesicht von Schauder und Leere, die euch anwehten, wenn ihr einen Spaziergang weiter ausdehntet als bis Wachau hinaus …. ?
Dann nämlich standet ihr – und stehen wir noch heute! – am Rand einer Wüste!
Einer Wüste, die jene Zeit uns hinterlassen hat, in der wir Anhängsel von Waffen und Maschinen waren!
Und diese Wüste, Ermlitz-Wachauer, ist noch immer in uns!
Birkenknüppel.
Wolf: Jawohl!
Jawohl!
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Birkenknüppel.
Wolf: Rückzug!
Sitzen
Ausruhn!
Draußen
Fahrtwind!
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]:
He, Kommunist!
Wo guckst du hin?!
Ich hab dich nicht geordert
Daß du in die Landschaft guckst!
Denn wer bezahlt mir
Deine Arbeitszeit?!
Ich auch muß
Überleben!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Stimme: [off] Also! Kelle in die Hand!
Und Mörtel! Den Buckel krumm gemacht!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Stimme[off]:
Und Montag Augsburg!
Bewehrungsstahl
Schweißen im Akkord!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme Wolf [off – murmelt]: Ja und ja und ja!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Daj mi mlotek!
Stimme wolf [off]: Was?
Stimme [off]: Das Chammer, Kumpel!
Stimme wolf[off]: Hier!
Stimme[off]: Mensch, schnell!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme Wolf [off – murmelt] Ja und ja!
Stimme [off]: Was du immer sprechen!?
Stimme Wolf [off]:
Dich geht das nichts an.
Du kennst das nicht:
Aufstehn
Pflichterfüllung
Niederlegen.
Und wieder Aufstehn.
Und sich selber
Hören …
Stimme [off]: Sich selber .. ?
Stimme Wolf [off]:
.. hören.
Ja.
Die Gedanken:
Stimmen!
In einer Zelle
Einer
Uniform.
Stimme [off]: Ein Witz, wie?
Stimme wolf [off]: Kein Witz.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Birkenknüppel.
Wolf: Rückzug:
Sitzen.
Ausruhn.
Draußen
Fahrtwind.
Schweigen jetzt.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Redner [off off]:
Waren die Zeiten früher besser? – Früher – als Königlich Sächsische Armee, Reichswehr, Wehrmacht und Nationale ^ Volksarmee hier ihre Rekruten drillten?
Marschtritt.
Die Alten Kameraden [off]:
Was
Beschwert Ihr Euch
Genossen!
Wir
– geglückte Transaktionen
hinter uns! –
Ziehn inzwischen
In ein anderes Finanzgeschäft!
Andere Alte kameraden [off]:
Wir
– Zeitarbeit liegt hinter uns! –
In einen fernen
Landstrich
In irgendwas
Was wir nicht waren!
Alle [off]:
Mit uns zieht
Die Zeit
Ein jeder sieht da
Wo er bleibt!
Marschtritt, sich entfernend. – Das Innere eines wagens auf stark befahrener Autobahn.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off – näherkommend]: He, Wolf!
Was stehst du
Guckst über Dächer?!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Und was ist das für eine Naht?
Stimme wolf [off]: Was?
Stimme [off]: Was das für eine Naht ist?
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Mensch, was ist mit dir!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme wolf [off]:
Ich denke nach:
Es ist das Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Was ..?!
Es ist .. was?!
Dafür, Kerl
Hat man dich nicht bezahlt
Daß du mir
Im Zeitdruck
Spinnst!
Wissen willst
Was es ist!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Montag München
Hörst du?!
Wolf?!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau. – dann Stille. – Autotür.
Birkenknüppel.
Wolf: Sitzen!
Sitzen!
Ausruhn!
Sitzen
Ausruhn
Denken.
Ja.
Das Ja.
Und der es spricht
In einem Herbst
An einem Birnbaum
Sechzehn Jahre ..
Und es spricht
– mit einer
Aktentasche
und dem
Frühstücksbrot
In einem Parka
unterwegs
in einem Auto
auf die
Building-Sites
Europas –
Ist …..
Birkenknüppel.
Startendes Auto.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Marschtritt.
Die Alten Kameraden [off]:
Was grübelt ihr
Genossen!
Wir
– in fernen Ländern
die Geschäfte
glücken! –
Ziehn jetzt ein
In große Häuser!
Stehn im Knast
Im Grab
Mit einem Bein
Wie alle!
Andere Alte kameraden [off]:
Wir
– lang hinter uns
die Zeit! –
Ziehen
Alt und angstvoll
Durch die eignen Wüsten
Gehn
Allein durch
Ferne Horizonte!
Alle [off]: Nur wer sich ändert
Bleibt sich treu!
Jaja!
Jaja!
Jaja!
Marschtritt, sich entfernend.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme wolf [off – murmelt]:
Das Ja.
Und der es spricht
In einer Angst
Vor fernen Himmeln
Geht
– ein Tier –
In einer Uniform
Von Aufstehn
Pflichterfüllung
Niederlegen!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off – näherkommend]:
Mensch, was redest du!
Stehst
Guckst über Dächer wieder!
Hinter eurer Mauer
Ging das:
Spinnen!
Hier nicht!
Hier ist kein Reservat
Für Über-Dächer-Gucker!
Du bist jetzt in der Welt
Und die will Taten sehn!
Für Spinner
Gibt’s das Reservat
Das Ghetto
Das bezahlt der Staat:
Sechshundert Stütze!
Stimme wolf [off]: Jawohl.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Montag Baden-Baden!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme (sehr fern): Ja und wieder Ja – und Nein? Sehen Sie, Herr Doktor, manchmal hat einer ’en Charakter, so’ne Struktur ..
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme wolf [off murmelt]:
Ja, manchmal hat einer
So’n Sklavencharakter!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Du quatschtst so, Wolf.
Du krank
Ich gesehen immer.
Und jetzt
wieder über Dächer guckst!
Stimme (sehr fern): Ja und wieder Ja ..
Stimme wolf [off]:
Die Gedanken, Pole ..
Nur das Tier sagt
Immer
Ja …
Erzähler: Es ist der 5. August 1993. Bis zur Sprengung der Kaserne des Panzerregimentes „Wilhelm Pieck“ verbleiben dreißig Minuten. – Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn, nimmt zwei Schwellen mit einem Schritt. Hart schlägt sein Birkenknüppel auf auf den Schotter zwischen den Schienen.
Birkenknüppel.
Wolf: Seht Ihr
Das Tier
Den Domestik
Der ich bin
Wie er
Durch Sand und Eisen
Durch die befohlne
Wüste
Läuft
Über
Von Panzerketten aufgeschobne
Hügel?
Da!
Da oben steht er!
Unten
Sie!
Seine
Kaserne!
Mit einem Ausguck
Auf den Himmel
Auf die fernen
Horizonte
Seine alte
Buchte:
Heimat!
Birkenknüppel.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme (sehr fern): Sehen Sie, Herr Doktor, .. Sehn Sie, mit der Natur … das is, wie soll ich doch sagen ..
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme wolf [off murmelt]:
Natur!
Das is Struktur .. !
Sklavenstruktur!
Da kann man gar nichts machen!
Gar nichts!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau. Schweißbrenner im Vordergrund.
Stimme wolf [off murmelt]:
Da läßt sich
Nichts mehr machen!
Schweißbrenner aus. – Stille im Vordergrund. Hinten Hämmern und Schweißen.
Stimme [off schreit]:
He, verrückt, was!
Weg von der Kante!
Du vom Haus fällt!
Stimme wolf [off murmelt]:
Da läßt sich
Nichts mehr machen!
Gar nichts mehr!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme: [off- ruft von fern) Ist der verrück??
Laufschritt – näher kommend.
Stimme: ([off]: Was ist mit dem?
Stimme des Polen[off]:
Steht an der Kante.
Guckt ..
Hämmern und Schweißen auf dem Bau. – Stille.
Stimme [off]: Geh langsam hin!
Atmen eines mannes.
Stimme des Polen [off – von ferne]:
Okay.
Hier er ist.
Stille.
Stimme [off]:
Gut.
Führ ihn runter.
Soll dann
Aufhörn hier.
Erzähler: 5. August 1993. Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn von Schwelle zu Schwelle. Bleibt stehen, schaut in den Kohlendreck und auf das Gras zwischen den Schienen.
Stimme [off off – sehr fern]:
Soll aufhörn hier.
Soll gehen.
Hier sind die Papiere.
Stimme Frau [off]:
Was sitzt du am Tisch den ganzen Tag und redest kein Wort!
Stimme [off off – sehr fern]:
Führ ihn langsam
Die Leiter
Runter.
Stimme Frau [off]:
Hier die Tabletten. Der Tee.
Stimme [off off – sehr fern]:
Steht an der Kante.
Guckt ..
Stimme Frau [off]:
Frank ..?! Die Tabletten?
Wieso nimmst du die Tabletten nicht? – Frank .. ?!
Stimme [off off – sehr fern]:
Steht und
Guckt ..
Stimme Frau [off]: Frank ..!
Erzähler: Wolf steht still im Gleisbett der stillgelegten Weißenhainer Grubenbahn.
Wolf: Ja, so’n Charakter!
So’ne Struktur!
Und so ein
Widerspruchsgeist auch:
Will springen!
Guckt in den Abgrund ..
Und nun?
Was nun?
Erzähler: Er läuft los; läuft mit kleinen, schnellen Schritte von Schwelle zu Schwelle.
Der Birkenknüppel.
Wolf: Irgendwer
– wer ist es? –
Sagt:
Was nicht arbeit’
Soll nicht essen!
Also:
Durchs Haus die Treppe runter!
Auf die Straße!
Zwischen Häuserwänden
Betonierten Winkeln
Auf die Ausfallstraße!
Freies Feld
In Aussicht!
Noch aber
Giebel rechts
Und Giebel links
Erkaltete ..
Erzähler: Der Birkenknüppel vor ihm in der Luft wie eine eine Lanze.
Wolf: Brikettfabrikschornsteine!
Erzähler: Kreisend nun der Birkenknüppel in seiner Hand …
Wolf: Keine Arbeit mehr!
Erzähler: .. kreisend der Knüppel vor ihm, über ihm .. – Er tanzt.
Wolf: Keine Arbeit!
Keine Arbeit!
Erzähler: So läuft er, tanzt er, läßt den Knüppel kreisen. – Auf Höhe der Kleingartenkolonie, „Balstenaue“ verläßt er das Gleisbett um über die Ermlitzer Äcker den östlichen Teil der Leipziger Straße zu erreichen. Hier bleibt er stehen, dreht sich um und schaut zurück zum Sanzeberg.
Ich erreiche den Sanzeberg gegen 11:45 Uhr. Wolf steht in diesem Augenblick unten auf freiem Land, steht wie ein Wanderer und schaut herauf zu uns. Dann läuft er weiter und verschwindet auf unsichtbaren Wegen zwischen den Einfamilienhäusern an der Leipziger Straße. – Auch ich schaue mich um: Das Plateau auf dem Sanzeberg abgesperrt mit Birkenknüppeln, hinter denen sich etliche Ermlitz-Wachauer und Leute aus der Umgebung versammelt haben. Unter einer Birke ein großer Mann im weißen Sommermantel. Geht hin und her zwischen Stativen mit Kameras, die er auf verschiedenen Punkte im Gelände ausrichtet. Eine Frau, auffällig geschminkt, macht ein paar Schritte in Schuhen mit hohen Absätzen, was schwierig ist auf dem lockeren Boden. Zündet sich eine Zigarette an. Vorn an der Absperrung die Enkeltochter der alten Christine Wolf mit dem kleinen Stiwi. Weitere Neugierige kommen. Einen von ihnen kenne ich: Herr Mundt, früher Ingenieur im Kraftwerk Trachau. Er begrüßt zwei Siebzehnjährige, die mit Ferngläsern hinaus in die Landschaft schauen – auf Kaserne und Panzerübungsgelände jenseits der Leipziger Straße.
Erster Jugendlicher: Gucks dir an, lange siehst du das nicht mehr!
Zweiter Jugendlicher: Noch zehn Minuten.
Erster Jugendlicher: Hallo, Onkel Eberhard. Im schwarzen Anzug zur Feier des Tages?
Herr Mundt: Ich bin auf Tour und grad vorbeigekommen. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Erster Jugendlicher: Auf Tour?
Herr Mundt: Das, was Arbeit heute ist, Jungs: Unterwegs sein. Leuten klar machen, was gut für sie ist.
Erster Jugendlicher: Handlungsreisender!
Herr Mundt: Erfaßt, Schlauberger!
Zweiter Jugendlicher: Und womit handeln Sie, Herr Mundt?
Herr Mundt: lacht Bedürfnis nach Sicherheit, Jungs. Das hat Konjunktur. Lebensversicherungen. Und ihr? Schule läuft?
Erster Jugendlicher: Ich bin raus. Mein Kumpel hier hält durch.
Herr Mundt: Soso.
Erster Jugendlicher: Ich bin in einem Geschäft, Onkel Eberhardt. Mit einem Freund.
Herr Mundt: Geschäft? Doch nicht mit dem, was du da rauchst?
Erster Jugendlicher: lacht Neenee, was Reelles.
Herr Mundt: Soso. – Was denn?
Erster Jugendlicher: Wir haben einen Radioladen. – Guck nicht so, Onkel Eberhardt. Das bleibt kein Radioladen. Das wird was anderes.
Herr Mundt: Und was?
Zweiter Jugendlicher: Computer, Laptops. Es wird was mit Laptops.
Zweiter Jugendlicher: Sein Freund und er sind die ersten im Osten!
Herr Mundt: Nana! Wenn ihr die hundertsten wärt, wär das auch schon toll!
Erster Jugendlicher: Wieviel verdienst du, Onkel Eberhardt?
Herr Mundt: Mein lieber Herr Gesangsverein! Hör dir das an!
Erster Jugendlicher: Hey! In zwei Jahren steck ich dich in die Tasche! Meine Branche boomt!
Herr Mundt: Aber nicht du, wenn du das Zeug weiter rauchst!
Erster Jugendlicher: Wegsein ist das Leben!
Herr Mundt: Arbeit ist das Leben, das wirst du bald schon merken!
Erster Jugendlicher: Distanz, verstehst du – da geht alles leicht! Da seh ich, wie ich gehe – während ich doch in dem Augenblick eigentlich nur gehe! Multitasking, Onkel Eberhardt!
Herr Mundt: Multitasking? Haha, vielleicht kann ich von Euch noch was lernen, wie?!
Zweiter Jugendlicher: Neenee, dazu muß man jung sein.
Herr Mundt: Na hör dir das an!
Erzähler: Herr Mundt wendet sich überraschend an mich.
Herr Mundt: Hören Sie das? Diese Jungs!? Das ist die neue Zeit!
Der Erzähler auf dem sanzeberg: Bitte? – Achja. – Sie scheinen ganz gut klarzukommen ..
Herr Mundt: Wir kennen uns irgendwoher?
Der Erzähler auf dem sanzeberg: Ich kenn Sie noch als Ingenieur in Trachau.
Herr Mundt: Trachau? – Ach, der Ingenieur – den kenn ich gar nicht me …
Erster Jugendlicher: ruft Hehehehe! Guckt mal!
Erzähler: Jenseits der Leipziger Straße, zwischen von Panzern zerfahrenen Wegen, im abgesperrten Gelände, Wolf.
Herr Mundt: Ist der verrückt .. ?!
Erster Jugendlicher: Noch acht Minuten bis die Landschaft hier zum Himmel steigt!
Erzähler: Ich wende mich an die Jungs ..
Der Erzähler auf dem sanzeberg: Das Fernglas!
Herr Mundt: Lieber Gott! Man muß was machen!
Der herr im Mantel (schreit von der anderen Seite): Sieht den denn keiner!
Seine begleiterin: Wie schrecklich! Mein Gott!
Zweiter Jugendlicher: Die Bullen! Wo sind die Bullen?
Erster jugendlicher: Da drüben!
Zweiter jugendlicher: Die sehn den nicht!
Der Erzähler auf dem sanzeberg: Hier! Hier! Seht Ihr denn nicht!
Erzähler: Ich springe und rudere mit beiden Armen. Vergeblich. Die Polizeiposten, vor den Gärten an der Leipziger Straße, lehnen, soweit man das erkennen kann, unverändert an ihrem Wagen.
Und da sehe ich mich laufen. Rudernd mit beiden Armen den Sanzeberg hinunter, von Regengüssen ausgewaschene Rinnsale überspringend, stolpernd im Sand, verfolgt von Grasbüscheln, die ich lostrete mit meinen Landungen.
Ich laufe nicht wirklich.
In meiner Geschichte aber – weil das Eingebundensein in den Augenblick, weil der Wunsch nach Aufhebung der Überlegenheit über Wolf: Weil beides mich laufen sehen will – soll es so ein: Ich laufe, im Finale dieser wahren Begebenheit, den Sanzeberg hinab:
Der den sanzeberg hinunterlaufende Erzähler: Herr Wolf! Herr Wolf!
der Erzähler: Ich laufe, überspringe – während Wolf im Dunst dieses Sommertages für Augenblicke verschwindet – den Graben vor der Leipziger Straße; haste über den löchrigen Asphalt, laufe, an den letzten Gärten vorbei, hinaus auf das Übungsgelände, tauche – und erinnere mich an meine Dienstzeit – ab in die Panzerspuren, vor Augen dabei das abschätzige Lächeln eines Gefreiten, als die Rede wieder einmal auf Hauptmann Wolf kam.
Stimme des gefreiten [off]:
Der Wolf? Ein Wiedergänger! Und auf dem Friedhof geboren! – Wieviel, Freunde? Zwanzig? Weg!
Stimme Soldat [off]: Null ouvert! – Nur daß du dienst auf seinem Friedhof, Herr EK!
Stimme des gefreiten [off]: Noch drei Monate, mein Freund! Noch drei Monate! – Was haben wir denn da? Die grüne Neun? Da gehen wir doch drunter, was Sprilli? – Und du, Dichter, was sagst du? Was sagt sein Spezi? Sein Verteidiger?! Du verstehst ihn! Siehst in ihn hinein, wie?
stimme Erzähler [off]: Ich seh hinein, und er sieht heraus. Nur wird es uns nichts nützen.
Stimme Soldat [off]: Was?! Was wird euch nichts nützen? Versteh ich nicht!
Stimme des gefreiten [off]: Laß mal gut sein, Sprilli.
Erzähler: Ich bin hinabgesprungen in eine weitere Panzerfahrrinne, und wenn ich herauskrieche, sehe ich ihn. Wolf geht durchs KdP. Ich stehe, schau mich um. Drüben, bei den Polizeiposten, Bewegung. Vorn Wolf. Hinter ihm die zerbrochene Schranke des Kontrollpunktes, Glasplitter, einsamer Fahnenmast.
Langsam gehe ich weiter. Erreiche den Kontrollpunkt. Wolf, den Rucksack in Händen, steht, mit dem Rücken zu mir, auf der Regimentsstraße.
Ich – in seinem Rücken – bewegungslos:
Wolf und Der erzähler auf dem Kasernen-
gelände:
Wer nicht arbeit’
Soll nicht essen.
Wo
Hin?
Hierher ja.
Hinter alte Zäune
Wo die Zeit
Sich sammelte.
Hierher, ja
Wo Zeit
Sich weiter
Sammelt.
Stillsteht.
Heimat, ja.
Ihr Areal
– aufgebrochen
ausgeweidet:
Alte Hallen! –
Riesig.
Ort, der reglos
Alles löst
Und steht.
Pause.
Der erzähler auf dem Kasernengelände, Allein:
Die Panzerwartungshalle.
Pause.
Der erzähler auf dem Kasernengelände, Allein:
Wir treten ein.
Ein Dach
Gestützt durch letzte Träger
Letzte Winkel
Gibt den Blick frei
Auf die Sonne.
Wir
In ihrem Licht
Unten
Treten an die Wand.
Die Zeit für uns
Steht nicht:
Vergeht!
Und auf dem Boden
Gras.
Wir
Müssen sehen:
Was man auf es warf:
Beton
Sprengt es hinweg
Und lebt.
So
Treten vor wir.
Stehen jetzt
Im Raum.
Bemalt
Um uns
Die Wände
Sprechen:
Stimmen von Jugendlichen.
Stimme: Du auch bist ein Faschist!
Stimme: Bist eine rote Sau!
Stimme: Tötet Nazis, wo ihr sie trefft!
Stimme: Tötet alle Zecken!
Stimme: Mit dem Abschied kommt Erinnerung.
Stimme: Und nicht gelernt das Leben.
Stimme: So lebet wohl.
Stimme: Ficken wäre geil!
Stimme: I did my time!
Stimme: Ich tat es nicht.
Stimme: Wer ist denn ich?
Stimme: Ich bin ich.
Stimme: Ich nicht.
Stimme: Na und! Auf dieser Welt ist Platz für jede andre Welt.
Stimme: Ist Platz für jedes Universum!
Stimme: Haus steht neben Hütte, Villa über Regenwurm.
Stimme: Was kümmert das den Regenwurm?
Stimme: Was kümmert es den Regenwurm, daß Estrich in der Welt ist, ha!
Stimme: Mann, seid ihr blöd!
Stimme: Hauptsache glücklich!
Stimme: Genau! Ich bin als Stino glücklich!
Stimme: Fuck you.
Stimme: Krüppel!
Stimme: Und Rainer liebt Susanne.
Stimme: Der schwule Rainer?!
Stimme: Wer denn ist Susanne?
Stimme: Susanne gibt es nicht.
Stimme: Doch. Ich bin’s! Susanne! Hier, das bin ich!
Stimme: Hier das bin ich! Ich nur will die
Stimme: Fotze Fotze Fotze!
Stimme: Du hast sie immer nur gemalt.
Stimme: An eine Wand!
Stimme: Ha, an Kasernenwände!
Stimme: Es gibt mehr Dinge zwischen Bild und
Bild, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt!
Stimme: This way I did my time.
Stimme: So fick dich.
Stimme: Fickt euch alle!
Stimme: This way only, I did my time, it’s true.
Stimme: Ich auch.
Stimme: Ihr seid mir Helden!
Stimme: Friede unsrer Asche!
Stimme: Sowieso auf dieser Welt ist Platz nur für die Asche!
Stimme: Wie lange noch!
Stimme: Solange Kapital regiert.
Stimme: Und keiner liebt mich!
Stimme: Doch, ich liebe dich: Jeannette aus Ermlitz-Wachau!
Stimme: Wo, Jeanette, liegt denn Ermlitz- Wachau!
Stimme: Ermlitz-Wachau, das ist hier!
Stimme: Wo ist den hier?
Stimme: Hier!
Stimme: Hier bin ich nicht ich.
Stimme: I still did my time.
Stimme: Ich tat es eben nicht!
Stimme: Wer ist denn ich?
Stimme: Ich.
Stimme: Ich nicht.
Stimme: Trotzdem: Mit dem Abschied kommt Erinnerung.
Stimme: Erinnerung.
Stimme: This way I did my time.
Stille.
Martinshorn in der Ferne. Kommt näher. dann sehr nah. – Stille
Finis
Erzähler: Wenn ich in meiner Kindheit vor dem Weckerklingeln erwache, ist da auf der Straße ein vereinzeltes Wort gewesen.
Dann Fußgetrappel.
An solchen Tagen stehe ich auf und trete ans Fenster.
Unten, auf dem Bürgersteig, eine dunkle Schlange, grau in der faden Straßenbeleuchtung – Arbeiter, Pendler, unterwegs zum Bahnhof, von wo sie in die Maschinenfabriken nach Leipzig fahren.
Eine Stunde später ertönen in Ermlitz-Wachau die Sirenen, mit denen die Brikettfabriken ihren Arbeitsbeginn verkünden.
In der Kaserne rücken die Mannschaften, Panzersoldaten, mit müdem Gesang aus zum Essen.
In den 1960er Jahren wird der Werktag von der Bevölkerung meiner Heimatstadt in Brikettfabriken verbracht, im Tagebau, in der Kaserne und in den Maschinen- und Textilfabriken von Leipzig.
Schließen die Fabriken, ruhen sich die Menschen einen Tag lang aus. Heruntergelassene Jalousien, vom Kohlestaub dunkle Vorgärten in der Sonne, auf den Straßen kein Lebewesen.
Meine Kindheit, will mir scheinen, besteht aus stillen Straßen und vergessenen Winkeln in Hinterhöfen und auf Dachböden.
Aus Arbeit und Erschöpfung.
Ist ein anderes Leben vorstellbar?
Eines, das nicht schweigend verbracht wird? Nicht in geistiger Abwesenheit und nicht mit der Sehnsucht in ein anderes Dasein?
Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ereignet sich am 5. August 1993.
Aus der Tür ihres Hauses in der Torfstraße in Ermlitz-Wachau, mit einer Plastetüte Möhrenkraut und Kartoffelschalen in der Hand, tritt Frau Niedegk.
Gewohnheitsmäßig blickt sie an der Fassade des Nachbarhauses nach oben.
Frau Niedegk: Steck den Kopf rein, Christine, heut ist Sprengung!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was?
Frau Niedegk: Die Kaserne! Heut wird die Kaserne gesprengt! Sie gehen alle auf den Sanzeberg hinaus, da kann man gut sehen!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer ist auf dem Sanzeberg?
Frau Niedegk: Ganz Ermlitz und ganz Wachau, Christine. Deine Enkelin auch. Sie hat den Stiwi mit!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Um Gottes willen, der Junge!
Frau Niedegk: Ach iwo, da passiert schon nix! – Es gehen viele hinaus, Christine!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Deshalb ist die Straße so leer! Ich wunder mich schon!
Schritte von fern.
Frau Niedegk: Da kommt noch einer … – Hat’s scheinbar eilig.
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Will der auch zu der Explosion .. ?
Frau Niedegk: Nee …. – Neenee, Christine, das ist ..
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer?
Frau Niedegk: Ach, nichts …
Die Alte Christine im Fenster: Was?
Frau Niedegk: Schon gut, Christine.
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Wer? Ich kann ihn nicht erkennen ..
Frau Niedegk: Dein Fleisch und Blut, Christine, dein Neffe .. Der Frank, der bei den Panzern war ..
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Der Frank .. ?!
Erzähler: Auf dem Bürgersteig gegenüber dem Haus Torfstraße 12 nähert sich ein etwa fünfzigjähriger Mann. Er ist groß, unrasiert und trägt – trotz der 26°C an diesem Sommertag – eine ölige Wattejacke. Über der Jacke einen olivgrünen, randvoll gefüllten Rucksack. – Er läuft schnell und mit gesenktem Kopf. Kräftig setzt sein Birkenknüppel auf auf den Granitplatten des Bürgersteigs.
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Herbst.
Der Gartentisch.
Ich am Birnbaum. Sechzehn Jahre.
Mein Vater kommt vom Brunnen
Geleert und abgedeckt
Die letzten Blätter fallen
Nackte Äste
Violett der Horizont
Die Luft ist rauchig
Stimme Vater [off] : Schlosser wirst du, Sohn. Mit Abitur.
Dann Offizier.
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Nein.
Errzähler: Wolf bleibt stehen, die Rechte auf den Birkenknüppel gestützt. Er schaut vor sich hin auf den Bürgersteig.
Wolf: Mein Vater, Bergmann, hebt die Schultern: … Arbeit ist das halbe Leben, ihm ist sie das ganze. Schweigsam immer … Die Gedanken, was weiß ich wo, haben ja auch Zeit zu wandern, die Gedanken, an der Kohlepresse, wo der Dampf die Arbeit macht, und die Hydraulik, und die Hände nur die Ordnung halten, und der Kopf ist frei, zum Wandern, was weiß ich wohin, in die Vergangenheit, weil, das Leben hier ist Arbeit, daß er, bis er stirbt, was heimbringt …
Stimme Vater [off]: Daß du einmal mehr heimbringst für die Familie, Kind, als ich -: Offizier!
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Nein.
Stimme Vater [off]: Offizier, Punktum.
Errzähler: Wolf schaut auf. Frau Niedegk steht auf der Straße, ohne sich zu rühren. Endlich läuft Wolf, weit ausholend mit dem Knüppel, weiter.
Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Der Gartentisch. Die Stühle angeklappt.
Abgedeckt der Brunnen.
Ich am Birnbaum:
Sechzehn Jahre ..
Erzähler: Wolf zieht die Torfstraße hinab. Frau Niedegk leert ihr Möhrenkraut und die Kartoffelschalen in einen Aschekübel, der vorn an der Straße steht.
Der Birkenknüppel, schwächer werdend. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Sechzehn Jahre!
Unbekannt
Dem Vater
Bald
Fällt Schnee ….
Erzähler: Die alte Christine Wolf in ihrem Fenster im 2. Stock beugt sich zu Frau Niedegk hinunter.
Die alte Christine Wolf im Fenster: Mit dem is was! Man muß bei ihm zu Hause anrufen!
Frau Niedegk: Bei ihm zu Hause? Christine! Kriegst du denn nichts mehr mit in deiner Mansarde? Die Steffi wohnt alleine jetzt, er ist weg von zu Hause! Und die Tochter auch, studiert in Leipzig!
Erzähler: Sagt Frau Niedegk und schließt die Haustür hinter sich. Zurück bleibt die leere Torfstraße, auf die aus ihrem Fenster im 2. Stock die alte Christine Wolf hinunter guckt wie vordem. – Drei Straßen weiter, auf dem Schlackeplatz des BSV 07 Ermlitz-Wachau, Sektion Fußball, lassen zwei Siebzehnjährige die Motoren ihrer Mopeds aufheulen.
Erster Jugendlicher: Cool eh! Was für ’n Klang!
zweiter Jugendlicher: brüllt gegen die auf Hochtouren laufenden Motoren Könnte immer Sprengung sein! Die Straßen menschenleer! Los!
Geräusch der davonjagenden Mopeds. dann wieder näherkommend – Crash. Kichern.
Erzähler: Sie wälzen sich hin und her zwischen den gestürzten Mopeds, rollen herum auf den Bauch. Während zwischen ihnen ein Joint hin und her geht, schauen sie über ihre Mopeds wie über eine Düne auf die Straße. – Dort steht Wolf.
zweiter Jugendlicher: Silo.
Erster Jugendlicher: Silo?
zweiter Jugendlicher: Haben die Landser gesagt zu den Offizieren. Tage zu dienen, soviel wie ein Silo Löcher hat.
Kichern.
zweiter Jugendlicher: Hab ich von meinem Alten. War Silo – wie der.
Pause.
Erster Jugendlicher: Kennst du den?
zweiter Jugendlicher: Vom Sehen. – In den Hallen war der. Ausbildungskompanie. Panzerschlosser. ’N ganz Scharfer … Einmal zu spät aus dem Ausgang hieß dreimal Sturmbahn! Rauf und runter! Und jetzt …. kichert ..
Erzähler: Sie schlagen mit der Stirn auf auf den Tanks ihrer Maschinen. Schließlich legt sich der Junge, dessen Vater Offizier war, auf den Rücken. Sein Freund beobachtet weiter die Straße, von wo Wolf seinen Blick über den Schlackeplatz, die Mopeds und die Jungs wandern läßt.
Erster Jugendlicher: Mann, wie der aussieht! Und stinkt! Ich riech’s bis hierher!
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Quatsch!
Erster Jugendlicher: Quatsch? Weggesperrt gehört der!
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Wieso denn?
Erster Jugendlicher: Wieso denn! Wozu ist der gut?
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Mein Vater, Silo war der wie der … – Kichern. – Und dann – tschingdarassa – Abzug der Armee aus Ermlitz-Wachau! Er bleibt hier, weil er das Haus hat! Aber – kein Geld mehr für den Weiterbau! Zwei Jahre läuft er rum wie mit’m Vorschlaghammer gepudert! Bis er einen neuen Job kriegt. Bei einer Zeitarbeitsfirma. Disponent. Schickt nun arme Schweine in den Westen zum Malochen! Lohn wird gezahlt, weniger als vorher, aber – die Kredite fließen wieder. – Kichern. – Das Haus wird weiter ausgebaut… – Kichern. – Der Hausbau frißt ihn auf – mein Alter Pillen, daß er durchhält! – Kichern. – Wozu ist das gut?
Erster Jugendlicher: Du erbst ein Haus!
Stille.
Erster Jugendlicher: Drehn wir noch ’ne Runde?
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Lieber nich …
Erster Jugendlicher: Hey?!
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: kichert Vielleicht brech ich mir den Hals!
Erzähler: Er hält den Joint hoch.
Erster Jugendlicher: Ach komm!
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: Hey hey! Es soll alles dran sein an mir, wenn …
Erster Jugendlicher: .. wenn was .. ?
Jugendlicher, dessen Vater offizier war: .. wenn ich das Haus erb!
Kichern. – Dann Stille.
Erzähler: Sie stehen auf und gehen, die Mopeds schiebend, ab. – Auch Wolf verläßt seinen Platz am Eingang des Ermlitz-Wachauer Sportplatzes. – Schnell und mit gesenktem Kopf läuft er zurück Richtung Stadt-Zentrum. Sein Birkenknüppel setzt kräftig auf auf den Granitplatten des Bürgersteigs.
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Sommerübung.
Abschuß auf Abschuß.
Schläge wie von Bomben.
Sandfontänen.
Draußen in der aufgewühlten Weite
Eine kleine Birke
Hat unterirdisch sich
Besonnen und gesammelt in der Winterruhe
Hat hervorgeguckt im Frühling
Jetzt ist Sommer
Was ich sehe ist
Folge meiner Hände Arbeit
Die ich gut mach:
Stimme Vater [off]: Daß du was heimbringst, Kind, für die Familie .. !
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Ja …
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Ja! Ja! Ja!
Und Abschuß:
Meine kleine Birke
Dunkler Stamm noch, dunkle Äste
Zersplittert
In der Sandfontäne
Lautlos
: Strebt nun auf gen Himmel
Und ich sehe: .. so kann was zersplittern, ja ..
Dreißig Jahre.
Dreißig Jahre
Heimweg aus dem Krieg.
Straßen
Unterm schwarzen Himmel.
Und am Horizont der Wald
Aus Brikettfabrikschornsteinen.
Längs des Heimwegs
Eisenzäune:
Dunkle Gärten.
Dunkle Fenster
Spiegeln:
Einen großen Mann
Mit Aktentasche und in Uniform
Der ich bin
Wolf, Frank
Leutnant Oberleutnant Hauptmann.
Lücken zwischen grauen
Aus dem
Letzten offnen
Krieg geschädigten
Fassaden.
Dann
Aus einer milden Ferne
Abendlicht:
Durchblick hier
Des Leutnants Oberleutnant Hauptmanns
Auf
Die andere Armee:
Brikettfabrikschornsteine.
Heimweg
Aus dem Krieg
Im Krieg.
Jeder Blick
Macht schweigsam.
Schweigen, das ist
Leben.
All die Jahre auf den Schultern.
Stimme Frau [off]: Frank, wo bist du? Mit den Gedanken immer sonstwo! Sag was!
Der Birkenknüppel.
Wolf: All die Jahre auf den Schultern
All die Jahre.
Erzähler: Wolf geht vorbei an der geschlossenen Gaststätte „Volkshaus“, betritt die langgestreckte Ermlitz-Wachauer Ernst-Thälmann-Straße. Auf halbem Weg, hinter einem der Fenster der Förderschule „Janusz Korzcack“, das junge Gesicht eines Zivildienstleistenden. Eine Sekretärin in seinem Rücken verschiebt Magnetelemente auf einem Stundenplan.
Sekretärin: … kriegt doch die Zähne nicht auseinander! Ein guter Schlosser, in Ordnung, aber ein Verkäufer, Autohausbesitzer! Davon hat er geredet! Der und ein Autohaus! Da mußt du umgehen können mit den Leuten! Reden! Und der, maulfaul wie er ist …! Neeneenee, eingebrochen wär der! Der wär nie der Mann gewesen dafür! Froh sein soll der, daß mein Mann diesen Škoda-Menschen noch abgefangen hat, als er rauskam bei ihm! Er wollte ja nicht! Zögert und zögert! Und der Vertrag von Škoda mit den Bastigkeits fast schon unterschrieben!. – Wir, sag ich, wir haben das Grundstück! Und näher an der Stadt! Am Vergnügungspark, wenn es soweit ist! Und du bist Schlosser! – Nee, sagt er, neeneenee. Und zögert und zögert. – Aber nu, sag ich, nu is Fünf vor Zwölf! ! Nu geh mal raus auf die Straße! Daß du dastehst, wenn der Škoda-Mensch bei Bastigkeits die Tür hinter sich zu macht! Daß er dich sieht! Das ist wie mit deinen Zahnrädern, sag ich! Die liegen bei dir im Kasten, haben immer da gelegen, aber jetzt, wo’s eine andere Materialversorgung gibt, werden sie nicht mehr gebraucht. Oder nur ab und zu mal. Und da wird genommen, was vorne dran liegt! Was gesehen wird! Was rot angepinselt ist, so wie du es immer gemacht hast, wenn eins wichtig war von deinen Rädern! „Autohaus Kabitzke“ sag ich, „direkt am Freizeitpark Balstenaue“! Klingt dir das nicht in den Ohren? Ist das nichts? – Da ist er rausgegangen, mein Herr Kabitzke! Hat dem Škoda-Menschen unser Grundstück gezeigt an der Balstenaue! Nur, wie wir den Vertrag hatten, hat er wieder angefangen, der Gutmensch!. Daß es nicht recht war, mit dem Bastigkeit ..
Erzähler: Die Sekretärin unterbricht die Arbeit an der Stundenplangraphik und tritt neben den Zivildienstleistenden.
Sekretärin: Nee, sag ich zu ihm, nee! Nu is gut! Wir haben jetzt den Vertrag und auf unserem Grundstück wird gebaut. Wir müssen auch sehen, wo wir bleiben in diesen Zeiten!
Erzähler: In diesem Moment läuft unten – schnell und mit gesenktem Kopf; lange Schritte begleitet von einem weitausholenden Aufsetzen des Knüppels – Wolf vorbei.
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Dreißig Jahre Heimweg aus dem Krieg
Im Krieg!
Leben
Das ist Schweigen.
All die Jahre!
All die Jahre!
Sekretärin: Mein Gott .. ! Daß der wieder draußen ist! Der Wolf! Und in der Wattejacke bei dieser Wärme!
Erzähler: Sie geht zurück an die Wandgraphik.
Sekretärin von der Wandgraphik: Schauen Sie sich ihn ruhig an! Der war mal ’n ordentlicher Mensch! Ausbilder bei den Panzern!
Erzähler: Der Zivildienstleistende am Fenster schweigt.
Sekretärin: Wer sich nicht anpaßt, geht unter! So oder so. So ist das.
Der zivildienstleistende vom Fenster: In einer gerechten Welt ist Platz für jeden.
Erzähler: Die Sekretärin, eine Frau um die vierzig, schaut aufmerksam auf den jungen Zivildienstleistenden am Fenster.
Sekretärin: Gerechte Welt .. ?!
Erzähler: Der Zivildienstleistende nickt. Er geht zu einem Wischeimer, der in der Mitte des Sekretariats steht.
Sekretärin: aufgebracht Das sagen Sie! Weil Sie es sich leisten können! Weil sie ..
Erzähler: Der Zivildienstleistende senkt den Kopf und wischt den Boden. Die Sekretärin behält, was ihr auf der Zunge liegt und arbeitet weiter an ihrem Stundenplan. Ab und zu schaut sie auf den wischenden jungen Mann.
Sekretärin: Eines müssen Sie mir erklären, Josef: Warum leisten Sie Ihren Dienst im Osten?
Erzähler: Der Zivildienstleistende überhört die Frage.
Sekretärin: Warum sind Sie hier, Josef?
Erzähler: Der Zivildienstleistende Josef nimmt den Eimer und geht mit ihm auf den Flur hinaus. Er murmelt etwas, das die Sekretärin nicht versteht. – Inzwischen läuft Wolf die Ernst-Thälmann-Straße hinab. In den Ruß auf den Marmortreppen des Kulturhauses „Tatkraft“ haben Regentropfen aus kaputten Dachrinnen konzentrische Muster geschlagen. Unverändert über der Bergarbeiter- und Garnisonsstadt Ermlitz-Wachau steht der blasse Himmel des 5. August 1993. – Wolf biegt ab nach rechts. Links, weiß er, führt der Weg auf den Sanzeberg, von wo man den Blick hat auf die Kaserne, in der er gedient hat. Sein Birkenknüppel setzt auf auf Sand und Kohlestaub in trockenen Mulden am Straßenrand.
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: 1972:
Leutnant.
Rückkehr
Nach Ermlitz-Wachau.
Rückzug!
Tor abschließen!
Front begradigen!
Das Leben draußen:
Dienst.
Was?
Stimme: [off) Genosse Leutnant! Vierte Panzerwartungs kompanie zum Waffenreinigungsappell angetreten!
Stimme Wolf [off]: Danke. Rühren.
Marschtritt; Gesang marschierender Kolonnen in der
ferne[off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘
Und die alten Lieder singen
Fühlen wir, es muß gelingen …
Mit uns zieht …
Die neue Zeit …
Mit uns zieht …
Die neue Zeit …
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Mit uns
Die neue Zeit!
Ich
Ziehe aus:
Zur Sommerübung.
Jahr für Jahr:
Sandfontänen
Schläge wie von Bomben
Marschtritt; Gesang
marschierender
Kolonnen in der
Ferne [off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘
Und die alten Lieder singen
Fühlen wir, es muß gelingen …
Der Birkenknüppel.
Wolf: Das ist draußen.
Drin, das ist:
Der Druck am Hals, der Preßstock
Kompaniechefzimmer.
4. Panzerwartungskompanie.
Ich der lange Leutnant Oberleutnant Hauptmann
Laufe hin und her
Sitze
Hinterm Schreibtisch:
Wandern der Gedanken, Kreisen wie Gestirne:
Kinderstimmen [off off]:
Kinderferienlager Anhalt.
Vier Gefährten, Freunde
Wir
Türmen
Ziehen unter einem großen Himmel
Übers Land
Wohnen in versteckten Scheunen
Über denen
– ist es Morgen?
ist es Abend? –
Jetzt
Und weiter
Von einem Jetzt
Zum anderen
Der Augenblick steht, der
– Gewalt aus Blau –
Kopf um Kopf
Uns in die Nacken reißt
Und unsre Pfeile
Abnimmt
Aufnimmt
Die nun
Steigen
Steigen
Wenden
Fallen
Wir
Mit erhobnen Armen
Bloßen Händen
Unten
Fangen und Empfangen
Die Wellen von der Welten
Hintergrund!
Marschtritt; Gesang
Marschierender
Kolonnen in der
Ferne [off]:
Mit uns zieht …
Die neue Zeit …
Der Birkenknüppel.
Wolf: murmelt.. Hundert Meter weiter
Auf der Straße ..
… wartet
Lange schon
Die Polizei.
Birkenknüppel.
Wolf: Dann Herbst
Birkenknüppel.
Wolf: Und Herbst
Birkenknüppel.
Wolf: Und wieder Herbst.
Stimme vater [off]: Schlosser wirst du, Sohn. Mit Abitur.
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Ja.
Stimme Vater [off]: Dann Offizier.
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Ja.
Stimme Vater [off]: Daß du was heimbringst, Kind, für die Familie!
Stimme Jugendlicher Wolf [off]: Ja.
Birkenknüppel.
Marschtritt.
In der ferne scharfes Kommando [off]: Ein Lied!
Gesang marschierender Kolonnen in der ferne [off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘ …
Kinderstimmen [off off]:
Und unsre Pfeile
Weiter
Steigen
Steigen
Immer weiter
Der Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Das ist draußen.
Drin, das ist:
Der Druck am Hals, der Preßstock
Kompaniechefzimmer.
4. Panzerwartungskompanie.
Was hin und her läuft
Sitzt und seine Bücher führt
Und wieder sitzt und
Wartet
Ist Leutnant
Und wird Oberleutnant
Hauptmann.
Birkenknüppel.
Lachsfarben
Jeder Horizont
Seitdem
Unter jedem Himmel
Kriech ich
Birkenknüppel.
Unter Stacheldraht.
Stimme Frau [off]: Frank, wo bist du? Mit den Gedanken immer sonstwo! Sag was! Mein Gott, das steht und steht und rührt sich nicht! Was ist da am Fenster?
Birkenknüppel.
Wolf: Aufwärts jeder Blick
Seitdem
Ist ..
Kinderstimmen [off off]: Steigen
Steigen
Wenden
Fallen
Stimme Frau [off]: Frank!
Erzähler: Wolf läuft auf der Leipziger Straße auf löchrigem Fahrdamm, biegt ein auf einen Seitenweg. Rechts und links Zäune, letzte Gärten. Dann weites, flaches Land. Quer auf einem Feldweg ein Polizeiwagen. Wolf kehrt um, tritt den Rückweg an über Feldweg und Leipziger Straße. Einmal – vielleicht, weil er Kinderstimmen hört – bleibt er stehen. Der Blick – aufwärts gerichtet in eine farblose Wolkendecke.
Er läuft weiter. Rechts, in der Ferne, die Silhouette der Stadt Leipzig. Ein Gefühl, Angst wie vor einem heraufziehenden Gewitter, beschleunigt seine Schritte, läßt ihn den Knüppel kräftig und schnell in den Sand stoßen. – Auf der Kreuzung Leipziger – Espenhainer Straße bleibt er erneut stehen. Die Ausfahrten nach Norden und Westen gesperrt durch Polizeiwagen. Zwei Beamte, ausgestiegen, steif und mißtrauisch vor dem Wohnhaus Espenhainer Straße. – Hier steht er. Auf der Ernst-Thälmann-Straße, von der Stadt her, nähert sich ein BMW; aus dem Eingang zur Kleingartenanlage „Balstenaue“ treten drei angetrunkene Männer. Zwei von ihnen tragen Nylonanzüge. – Als sie Wolfs ansichtig werden, dreht der eine sich um. Bleibt, den Rücken Wolf zugekehrt, stehen.
Erster Mann: Was’ los?
Zweiter: Wolf!
Erster: Was?!
Zweiter: Der Wolf!
Erzähler: Der Mann – weiße Nylonkacke unter einem vom Alkohol verzeichneten Gesicht – blickt krampfhaft in die Obstbäume hinter den Zäunen der Kleingartenkolonie.
Zweiter: Er hat mich nach Schwedt geschickt! Eingeknastet!
Erster: Fünfzehn Jahre her! Vergiß es!
Zweiter: Vergessen? Die Hölle glatt vergessen?!
Dritter mischt sich ein Was für eine Hölle?
Erster: Er hat im Militärgefängnis gesessen..
pfiff durch die Zähne.
Dritter: Und warum?
Erster: Nach Freiheit zumute war ihm. Heiseres Lachen. Nach frischer Luft und Wind und Sonne, nicht wahr!
Zweiter: Kein Stacheldraht und keine Mannschaftsunterkünfte!
Erster: Abgehaun von Wache … – Als Unteroffizier!
Dritter: Und der?
Erster: Der da .. Der jetzt abhaut, ja .. War sein Vorgesetzter und hat ihn verknackt.
Zweiter: Er hätte mich nicht vors Militärgericht bringen müssen!
Erster: Das ist es, worüber er nicht hinwegkommt! Niemand hat von seinem Ausflug etwas gewußt außer dem da! – Wie hat er gesagt zu dir?
Zweiter: Denkst du mir ist nicht nach Freiheit zumute?! Aber Freiheit nimmt man sich nicht! Man erarbeitet sie! Durch Disziplin! Durch Arbeit! Durch lebenslange Arbeit!
Erzähler: Sie stehen, ratlos, stumm. Kehren zurück dann in die Kolonie, in ein eben verlassenes Gartenlokal. – Auf der Espenhainer Straße hat der BMW die Absperrung erreicht und einen Mann im weißen Sommermantel entlassen. Dieser, ein Handy am Ohr, steht vor den Polizisten, die ihn aufmerksam anschauen.
der Mann im Mantel: … Nein, noch nicht …. Was ich mache? – Was machst du grade? Was .. ? – Oh, ich würd dir gern .. – Nein, du arbeitest! Ja, du hast am Wochenende Ausstellung. Jawohl, auch gestern hast du gearbei .. – Hast du nicht! Im Cicadilly! Mit Max! Mein Gott, Max! Ausgerechnet Max! Es ist nicht, wie ich denke? Wie denk ich denn? – Eifersüchtig? Ich? Aber Lödilein .. ! – Ja, Freitag .. – Nein, gestern bin ich durch die Stadt gefahren .. Leipzig, ja … Ghetto .. Plattenbau .. mit Zigaretten an den Fenstern diese Weiber .. wie im Kontakthof, ja, hahaha … arbeitslos … Nein, die hatten keine Arbeit mehr, bevor wir kamen .. Nein, keine Geliebte … Nein, hab ich nicht! .. Nein! … Eifersüchtig ich? Kennst du die Szene aus .. mir fällt der Film nicht ein …, wo die beiden unten poppen, und der andere guckt über die Klowand, und die kleine Fotze unten, während sie hoch und runter hopst auf ihrem Lover, lächelt rauf zu ihrem Freund .. Es ist nicht wie du denkst, haha .. – Ja, hat sie gesagt …
Frauenstimme: Hey, ich bin auch noch ..
Erzähler: Aus dem Wagenfenster schaut eine Frau.
der Mann im Mantel: Wie ..? .. Eine Kollegin .. Du es geht los .. . Bis morgen … Ich dich auch ….
Erzähler: Der Mann im Mantel steckt das Handy weg und spricht die Polizisten an.
der Mann im Mantel: Führt diese Straße auf den Sanzeberg?
der grosse Wachtmeister: Sie führt vor den Sanzeberg, und dann müssen Sie dort die Treppen hinaufsteigen.
der kleine Wachtmeister: Aber die Straße ist gesperrt.
der Mann im Mantel: Und einen anderen Weg gibt es nicht?
der grosse
Wachtmeister: Zu Fuß durch die Kleingartenanlage „Balstenaue“. Dort drüben.
der kleine Wachtmeister: 10 Minuten und Sie sind da.
Erzähler: Der Herr im weißen Sommermantel nickt und lächelt seiner Begleiterin hinter der Frontscheibe des BMW zu. – Wendet sich wieder an die Polizisten.
der Mann im Mantel: Ich komme von dem Unternehmen, das Ihnen in Ermlitz-Wachau den Freizeitpark bauen wird!
Erzähler: Die beiden Polizisten schauen sich an.
der kleine Wachtmeister: Dann kommen Sie sozusagen zu Ihrer Sprengung!
der Mann im Mantel: Um alles zu dokumentieren, meine Herren. Das heutige Ereignis wird aufgenommen und festgehalten für die Zukunft! Da, die Kameras!
der kleine §Wachtmeister: Sie dokumentieren das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Epoche! Verstehe!
der Mann im Mantel: In Epochen zu denken haben Sie gelernt im Osten, ich weiß, ich hatte ….
Erzähler: Er lächelt seine Begleiterin an.
der Mann im Mantel: … Gelegenheit, mich kundig zu machen betreffs der Mentalität dieses Landstrichs. – Aber wissen Sie auch, was die neue Epoche Ihnen bringen wird?
der kleine Wachtmeister: Sie werden’s uns sagen!
der Mann im Mantel: Sie wird Ihnen Ihre geheimsten Träume erfüllen, meine Herren, Träume, die Sie noch nie zu träumen wagten!
der kleine Wachtmeister: So!
der Mann im Mantel: Nennen Sie mir einen Traum, und ich beweise Ihnen, daß dieser Traum nichts ist gegen das, was Sie in unserem Park erwartet!
der kleine Wachtmeister: So auf die Schnelle .. ?
der Mann im Mantel: Träume leben! Das ist unser Slogan! Den Alltag unter, hinter, neben sich lassen! Alles wird gelebt! Was nicht gelebt werden kann, wird nicht geträumt!
Erzähler: Der Mann im weißen Sommermantel lächelt und geht in die Kniee.
Die Wachtmeister: Stopp!
der grosse Wachtmeister: Was soll das?!
Erzähler: Der Mann im weißen Sommermantel läßt sich von seiner Begleiterin eine Kamera reichen..
Die Wachtmeister: Stopp stopp stopp!
der Mann im Mantel: Zu spät, meine Herren! – Hier! Ihr Porträt! Es wird prangen auf den Prospekten von „Semiramis“! „Semiramis“ – größter deutscher Freizeitpark! Und darunter die Headline: „Dies sind die Beamten, die am Anfang einer neuen Ära über ihren Schatten sprangen!
der kleine Wachtmeister: Über unsere Schatten?
der Mann im Mantel: Ein Gefallen, meine Herren, um den ich Sie bitte! Oder soll ich wirklich mein Equipment 2 km weit schleppen? Es ist doch vollkommen ungefährlich da hinten an diesem .. wie heißt er doch? .. Sanzeberg!
Erzähler: Die Wachtmeister sehen sich betreten an.
der grosse Wachtmeister: Wir hätten da doch einen Traum!
der Mann im Mantel: Welchen!
der grosse Wachtmeister: Daß jeder sich an Recht und Ordnung hält! Auch wenn es Mühe macht!
der kleine Wachtmeister: Das machte – sozusagen – die Polizei überflüssig!
Erzähler: Lächelnd wendet der Herr im weißen Sommermantel sich an seine Begleiterin.
der Mann im Mantel: Siehst du! Das mein ich! Der Osten, wenn er träumt, träumt preußisch! – Nichts für ungut, meine Herren; wir werden uns noch verstehen! Wo, sagten Sie, ging der andere Weg lang?
der grosse Wachtmeister: Da drüben.
der kleine Wachtmeister: Da, wo drüber steht, „Balstenaue“.
der Grosse Wachtmeister: Sie lassen Ihren BMW stehen und gehen zu Fuß durch die Kleingartenkolonie.
der kleine Wachtmeister: Zehn Minuten, und Sie sind da!
der Mann im Mantel: Danke auch, die Herren! Danke! Trotzdem danke!
Sich entfernende Schritte.
der kleine Wachtmeister: Arschloch!
Erzähler: Die Wachtmeister schaun dem Herrn im Mantel und seiner Begleiterin nach, wie sie beladen mit Kameras im Durchlaß unter einem schmiedeeisernen Rundbogen mit dem Wort „Balstenaue“ verschwinden.
Dann geht ihr Blick wieder geradeaus, die lange Flucht der Ernst-Thälmann-Straße entlang, wo in der Ferne, bevor er ihren Augen entschwindet, Wolf noch einmal einbiegt auf die Torfstraße. – Zögerlicher setzt sein Birkenknüppel auf auf den Pflastersteinen des gewundenen und engen Bürgersteigs. Schließlich bleibt er stehen.
Dünner Gesang weniger Stimmen [off]:
Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach laßt uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland.
Stimme Wolf [off – scharf]: Was?
Stimme [off]: Genosse Hauptmann! Vierte Panzerwartungskompanie zur Ausbildung angetreten!
Stimme Wolf [off – scharf]: Danke. Links um! Ausrücken! – in Lied!
Marschtritt; Gesang marschierender Kolonne und Stimme Wolf[off]: Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘
Und die alten Lieder singen
Fühlen wir, es muß gelingen …
Mit uns zieht …
Die neue Zeit …
Sich entfernender Marschtritt. Grölende Menschenmenge off]: Recht und Einigkeit und Freiheit
Fürr das deutsche Vaterland !
Birkenknüppel.
Wolf: Rückzug!
Tor abschließen.
Front begradigen!
Grölende Menschenmenge [off]:
Recht und Einigkeit und Freiheit
Für das deutsche Vaterland !
Birkenknüppel.
Wolf: Das ist draußen.
Drin, das ist:
Hinter meiner Glastür.
[leiser] Vor dem Glas:
Balkon.
Beton
Die Häuserzeile gegenüber.
Dann das Land und dann
Die Stadt:
Grölende
Menschenmenge [off off]:
Recht und Einigkeit und Freiheit
Für das deutsche Vaterland !]
Birkenknüppel.
Wolf: Draußen, ja
Drinnen
Stille.
Ruhig
An der Wand
Die Uhr:
Stimme Wolf [off off – sehr fern] : Sandfontänen.
Schläge wie von Bomben.
In der aufgewühlten Weite
Eine kleine Birke
Hat unterirdisch sich
Besonnen und gesammelt in der
Winterruhe
Hat hervorgeguckt im Frühling
Jetzt ist Sommer
Was ich sehe ist
Folge meiner Hände Arbeit
Die ich gut mach:
Daß du was heimbringst, Kind, für die Familie
Abschuß! Meine kleine Birke
Dunkler Stamm noch, dunkle Äste
Zersplittert
In der Sandfontäne
Lautlos
: Strebt nun auf gen Himmel
Und ich sehe: .. so kann was zersplittern, ja ..
Dreißig Jahre.
Dreißig Jahre
Heimweg aus dem Krieg.
Straßen
Unterm schwarzen Himmel.
Und am Horizont der Wald
Aus Brikettfabrikschornsteinen.
Heimweg aus dem Krieg
Im Krieg.
Jeder Blick
Macht schweigsam.
Schweigen, das ist
Leben.
All die Jahre auf den Schultern
All die Jahre.
Weiter!
Weiter!
Weiter!
. Dunkle Gärten.
Dunkle Fenster.
Lücken zwischen
Sinkenden
Fassaden.
Dann
Aus einer milden Ferne
Abendlicht
All die Jahre
All die Jahre
Stimme Frau [off]: Frank! Mein Gott, Frank! Das steht und steht am Fenster und rührt sich nicht! Frank! Was soll nun werden?
Birkenknüppel.
Wolf: Was werden soll?
Gehen
Übers Land.
Über mein Land.
Panzerübungsland und Kohlegruben.
Gehen
Immer Gehen
Über’s Land
Das ich jetzt genau wie früher
Sehe:
Wüste!
Birkenknüppel.
Marschtritt.
Marschierende Alte Kameraden [off]:
Was Grübelst du Genosse!
S’war die Zeit!
Kaserne und Fabrik
Und die Wunden in der Landschaft
Tagebau und Panzerübungsplatz
Was wollten wir denn machen!
Das war die Bedingung
Kinder, daß
Wir der Familie was
Nach Hause bringen!
Marschtritt, sich entfernend
Birkenknüppel.
Wolf: Die alten Kameraden!
Die
– als sie es waren
Auch Genossen hießen! –
Marschiern
Aus der Kaserne!
Marschieren in ein Land, das wieder
Groß ist!
Marschieren in die Welt
Und grüßen
– Augen rechts! –
Und sagen:
Marschtritt.
Marschierende Alte Kameraden [off]:
Mit uns zieht
Die neue Zeit
Ein jeder muß
Sehen wo er bleibt!
Marschtritt, sich entfernend. – Aufkommender Wind.
Birkenknüppel.
Wolf: Gehen.
Gehen.
Wind.
Wolf: Stehen.
Platz vor der Kaserne, vor
Der neuen Obrigkeit:
Redner [vom Wind hinweggetragene Worte]: Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Ich spreche hier für das Neue Forum zu euch. Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Ihr habt euch versammelt, um dem Auszug beizuwohnen der Soldaten, die das Bild unserer Stadt für zwei Jahrhunderte geprägt haben! Für viele von Euch nicht leicht, denn die Schließung des Standortes Ermlitz-Wachau bedeutet Arbeitsplatzverluste!
Schon durch die Schließung der Brikettkraftwerke Tatkraft und Sonne – ebenfalls angesiedelt in unserer Region seit zweihundert Jahren – sind Arbeitsplätze vernichtet worden!
Damals Vollbeschäftigung und heute Arbeitslosigkeit?
Waren die Zeiten früher besser?
Früher – als Königlich Sächsische Armee, Reichswehr, Wehrmacht und Nationale Volksarmee hier ihre Rekruten drillten?
Früher – als unter einem fahlem Himmel und in der Morgenkälte unsere Väter, Großväter und Urgroßväter Tag für Tag hinauszogen in die Brikettfabriken nach Borna, Wachau, Zeithain?
„Leben!“ hörte ich einen Ermlitz-Wachauer sagen im Dezember 1989: „Jetzt will ich leben!“
Aber – könnt ihr das?!
Können wir das?!
Mit unsrem Hintergrund?
Leben?
Von einem Tag auf den andren leben?
Wie war es denn?
Wo haben wir unser Dasein gefristet?
Unter schwarzen Himmeln!
An den Ufern verseuchter Flüsse!
Im Angesicht von Schauder und Leere, die uns anwehten, wenn wir einen Spaziergang einmal weiter ausdehnten als bis Wachau hinaus!
Dann nämlich standen wir – und stehen wir noch heute! – am Rand einer Wüste!
Einer Wüste, die jene Zeit uns hinterlassen hat, in der wir Anhängsel von Waffen und Maschinen waren!
Und diese Wüste, Ermlitz-Wachauer, ist noch immer in uns!
Wind und fahnenklirren.
redner [off]:
Wie war es!
Wir sind aneinander vorbeigegangen!
Wir haben nebeneinander hergelebt!
Das war – von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr – unsere Gegenwart!
Wir haben die Augen verschlossen!
Tief in uns drin haben wir in einer Wüste gehockt!
Wind und fahnenklirren.
Stimme Wolf [off]: So ist es!
fahnenklirren – dann Stille
Redner [off] :
Kommen wir da raus!
Kommen wir an jetzt in der Gegenwart!
Kommen wir miteinander an bei uns!
Wagen wir – daß es anders wird mit uns! – Demokratie!
Stimme Frau [off]: Mein Gott! Das steht und steht am Fenster und rührt sich nicht!
Was siehst du da?!
Marschtritt.
Marschierende Alte Kameraden [off]:
Genau!
Was
Siehst du da
Genosse!
Wir
– Augen rechts und Stechschritt –
Ziehen weiter
In Irgendsoein Asien!
Besetzen irgendeinen
Balkan!
Mit uns zieht
Die neue Zeit
Ein jeder sieht da
Wo er bleibt!
Marschtritt, sich entfernend. – Fahnenklirren.
Dünner Gesang weniger Stimmen [off]: Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach laßt uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Erzähler: Wolf steht auf der Torfstraße, gesenkter Blick, mit der rechten Hand auf den Knüppel gestützt. Im Aufschauen sieht er vier Häuser weiter seine Tante Christine in ihrem Fenster im 2. Stock. Er wendet den Blick, geht los, biegt ein in die Mittelstraße, von wo es über das Kino „Weltecho“ zurückgeht auf die Ernst-Thälmann-Straße. Er überquert den Fahrdamm und erreicht über ein Brachland mit ausrangierten Maschinenteilen die Grubenbahn aus dem Tagebau Weißenhain. – Auf der Torfstraße schaut die alte Frau Wolf weiter aus dem Fenster. Schließlich – es ist zehn nach halb elf – tritt Frau Niedegk aus der Haustür. Sie geht zu einem Audi, der am Straßenrand parkt.
Frau Niedegk: Na, Christine, Zeit Mittag zu machen!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Der Frank war hier.
Frau Niedegk: Noch einmal!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Er hätt mich sehen müssen.
Frau Niedegk: Er hat sich geschämt vor dir!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was hat er?
Frau Niedegk: Schon gut, Christine.
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Mir tät das nicht gefallen, wenn ich seine Frau wär! Den ganzen Tag durch die Stadt laufen!
Erzähler: Frau Niedegk wendet sich ab und verstaut mehrere Klappboxen im Kofferraum. Dann dreht sie sich um.
Frau Niedegk: Ich hab’s dir schon mal gesagt, Christine: Er wohnt nicht mehr zu Hause!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Den ganzen Tag durch die Stadt laufen! Herregott!
Frau Niedegk: Sie haben ihn in die Psychiatrie eingewiesen nach der Sache in Baden-Baden!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Ich versteh so schlecht, Frau Niedegk!
Frau Niedegk: Wieso er jetzt draußen ist – frag lieber nicht!
Pause.
Frau Niedegk: Christine? Alles in Ordnung?
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Jaja.
Pause.
Frau Niedegk: Ich muß. Nachmittagsschicht im Allkauf! Und der Mann kommt! Aus Stuttgart! Und will es aufgeräumt haben! Alles am Platz und eingekauft! Na, Hauptsache Arbeit! Sei froh daß du alt bist, Christine, und dein Dach überm Kopf hast! Man kommt nicht mehr zum Luftholen!
Zuklappende Hecktür, Schritte ums auto.
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Es ist nicht schön, wenn man zu nichts mehr nutze ist!
Frau Niedegk: Du hast dein Leben lang genug gearbeitet, Christine!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Was?
Frau Niedegk: Weißt du, was ich mir wünsche, Christine? Im Lotto gewinnen und das Geld einfach ausgeben! Muß man denn immer zu etwas nutze sein!
Die Alte Christine Wolf im Fenster: Unredlich Geld macht nicht glücklich!
Frau Niedegk: Ach, Christine!
Autotür, startendes auto.
Erzähler: Es ist der 5. August 1993, und auch ich fahre nach Ermlitz-Wachau. Im Bus versuche ich mich an die Panzergrenadierkaserne 13 des ehemaligen Panzerregimentes „Wilhelm Pieck“ zu erinnern: An den Bohnerwachs- und Waffenölgeruch auf ihren Fluren und in den Stuben, an die vielen stillen Sonntagvormittage, an Detonationen und Tagesablaufpläne. Und ich erinnere mich an durchzechte und erschöpfte Nächte, in denen wir gegen das Leben, das wir führen mußten, aufbegehrt hatten. – Es ist gegen elf, als ich in Ermlitz-Wachau aus dem Bus steige. Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn von Schwelle zu Schwelle. Zögernd sticht sein Birkenknüppel ein in den Schotter zwischen den Schienen.
Stimme Frau [off]:
Hier!
Extraverdienst durch ..
Nein, hier!
Wach- und Sicherheitspersonal.
Voraussetzung: Flexibilität
Auftragsvermittlung § 34 a
Was bedeutet das?
Frank?!
Frank, hörst du mir zu?
Du mußt was machen!
Birkenknüppel. Stimme im Hintergrund.
Wolf: Arbeit ..
Arbeit, ja.
Arbeit ist das halbe Leben.
Stimme Vater [off off]:
Schlosser
Wirst du, Sohn!
Birkenknüppel.
Wolf: Als Schlosser
In der Grube Zeithain
Abgelehnt.
Stimme Frau [off]:
Hier! Arbeitsvermittlung Teutec
Sucht
Erfahrene
Bauschlosser und Schweißer
Gelsenkirchen
Bewerbung unter …
Birkenknüppel.
Wolf: Schlosser ..
In einem Gelsenkirchen ..
Marschtritt.
Die Alten Kameraden [off]:
Was zögerst du
Genosse!
Wir
– der Balkan
hat nicht Brot für alle! –
Ziehn jetzt weiter
In irgendeine
Zeitarbeit.
Andere Alte kameraden [off]:
Wir
– Kapital
vermehrt den Volkswohlstand! –
In irgendein
Finanzgeschäft!
Alle [off]:
Mit uns zieht
Die neue Zeit
Ein jeder sieht da
Wo er bleibt!
Marschtritt, sich entferndend. – Das Innere eines wagens auf stark befahrener Autobahn.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Redner [ off off]:
Tief in uns drin haben wir in einer Wüste gehockt!
Kommen wir da raus!
Kommen wir an jetzt in der Gegenwart!
Birkenknüppel.
Wolf: Jawohl!
Kommen wir jetzt an, haha!
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Birkenknüppel.
Wolf: Jawohl!
Jawohl!
Autobahnkreuz Frankfurt.
Bis in den Ruhrpott
Dreihundert Kilometer.
Kommen wir jetzt an, haha!
Stimme [off]: Kerl, die Fuge!
Stimme Wolf [off]: Ich bin kein Maurer.
Stimme [off]: Hier wird gemacht, was angewiesen wird!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Stimme [off]: Also!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Stimme [off]: Siehst du!
Und Montag Düsseldorf!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Birkenknüppel.
Wolf: Rückzug.
Front begradigen und
Sitzen!
Hinter einem Lenkrad:
Sicherheit der Armaturen!
Das Innere eines wagens auf stark befahrener Autobahn.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Redner [off off]:
Wo wolltet ihr leben!
Unter diesem schwarzen Himmel?! An den Ufern verseuchter Flüsse, im Angesicht von Schauder und Leere, die euch anwehten, wenn ihr einen Spaziergang weiter ausdehntet als bis Wachau hinaus …. ?
Dann nämlich standet ihr – und stehen wir noch heute! – am Rand einer Wüste!
Einer Wüste, die jene Zeit uns hinterlassen hat, in der wir Anhängsel von Waffen und Maschinen waren!
Und diese Wüste, Ermlitz-Wachauer, ist noch immer in uns!
Birkenknüppel.
Wolf: Jawohl!
Jawohl!
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Birkenknüppel.
Wolf: Rückzug!
Sitzen
Ausruhn!
Draußen
Fahrtwind!
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]:
He, Kommunist!
Wo guckst du hin?!
Ich hab dich nicht geordert
Daß du in die Landschaft guckst!
Denn wer bezahlt mir
Deine Arbeitszeit?!
Ich auch muß
Überleben!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Stimme: [off] Also! Kelle in die Hand!
Und Mörtel! Den Buckel krumm gemacht!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Stimme[off]:
Und Montag Augsburg!
Bewehrungsstahl
Schweißen im Akkord!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme Wolf [off – murmelt]: Ja und ja und ja!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Daj mi mlotek!
Stimme wolf [off]: Was?
Stimme [off]: Das Chammer, Kumpel!
Stimme wolf[off]: Hier!
Stimme[off]: Mensch, schnell!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme Wolf [off – murmelt] Ja und ja!
Stimme [off]: Was du immer sprechen!?
Stimme Wolf [off]:
Dich geht das nichts an.
Du kennst das nicht:
Aufstehn
Pflichterfüllung
Niederlegen.
Und wieder Aufstehn.
Und sich selber
Hören …
Stimme [off]: Sich selber .. ?
Stimme Wolf [off]:
.. hören.
Ja.
Die Gedanken:
Stimmen!
In einer Zelle
Einer
Uniform.
Stimme [off]: Ein Witz, wie?
Stimme wolf [off]: Kein Witz.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Birkenknüppel.
Wolf: Rückzug:
Sitzen.
Ausruhn.
Draußen
Fahrtwind.
Schweigen jetzt.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Redner [off off]:
Waren die Zeiten früher besser? – Früher – als Königlich Sächsische Armee, Reichswehr, Wehrmacht und Nationale ^ Volksarmee hier ihre Rekruten drillten?
Marschtritt.
Die Alten Kameraden [off]:
Was
Beschwert Ihr Euch
Genossen!
Wir
– geglückte Transaktionen
hinter uns! –
Ziehn inzwischen
In ein anderes Finanzgeschäft!
Andere Alte kameraden [off]:
Wir
– Zeitarbeit liegt hinter uns! –
In einen fernen
Landstrich
In irgendwas
Was wir nicht waren!
Alle [off]:
Mit uns zieht
Die Zeit
Ein jeder sieht da
Wo er bleibt!
Marschtritt, sich entfernend. – Das Innere eines wagens auf stark befahrener Autobahn.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off – näherkommend]: He, Wolf!
Was stehst du
Guckst über Dächer?!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Und was ist das für eine Naht?
Stimme wolf [off]: Was?
Stimme [off]: Was das für eine Naht ist?
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Mensch, was ist mit dir!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme wolf [off]:
Ich denke nach:
Es ist das Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Was ..?!
Es ist .. was?!
Dafür, Kerl
Hat man dich nicht bezahlt
Daß du mir
Im Zeitdruck
Spinnst!
Wissen willst
Was es ist!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Montag München
Hörst du?!
Wolf?!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau. – dann Stille. – Autotür.
Birkenknüppel.
Wolf: Sitzen!
Sitzen!
Ausruhn!
Sitzen
Ausruhn
Denken.
Ja.
Das Ja.
Und der es spricht
In einem Herbst
An einem Birnbaum
Sechzehn Jahre ..
Und es spricht
– mit einer
Aktentasche
und dem
Frühstücksbrot
In einem Parka
unterwegs
in einem Auto
auf die
Building-Sites
Europas –
Ist …..
Birkenknüppel.
Startendes Auto.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Marschtritt.
Die Alten Kameraden [off]:
Was grübelt ihr
Genossen!
Wir
– in fernen Ländern
die Geschäfte
glücken! –
Ziehn jetzt ein
In große Häuser!
Stehn im Knast
Im Grab
Mit einem Bein
Wie alle!
Andere Alte kameraden [off]:
Wir
– lang hinter uns
die Zeit! –
Ziehen
Alt und angstvoll
Durch die eignen Wüsten
Gehn
Allein durch
Ferne Horizonte!
Alle [off]: Nur wer sich ändert
Bleibt sich treu!
Jaja!
Jaja!
Jaja!
Marschtritt, sich entfernend.
Autoradio [off]:
Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme wolf [off – murmelt]:
Das Ja.
Und der es spricht
In einer Angst
Vor fernen Himmeln
Geht
– ein Tier –
In einer Uniform
Von Aufstehn
Pflichterfüllung
Niederlegen!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off – näherkommend]:
Mensch, was redest du!
Stehst
Guckst über Dächer wieder!
Hinter eurer Mauer
Ging das:
Spinnen!
Hier nicht!
Hier ist kein Reservat
Für Über-Dächer-Gucker!
Du bist jetzt in der Welt
Und die will Taten sehn!
Für Spinner
Gibt’s das Reservat
Das Ghetto
Das bezahlt der Staat:
Sechshundert Stütze!
Stimme wolf [off]: Jawohl.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Montag Baden-Baden!
Stimme Wolf [off]: Ja.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme (sehr fern): Ja und wieder Ja – und Nein? Sehen Sie, Herr Doktor, manchmal hat einer ’en Charakter, so’ne Struktur ..
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme wolf [off murmelt]:
Ja, manchmal hat einer
So’n Sklavencharakter!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme [off]: Du quatschtst so, Wolf.
Du krank
Ich gesehen immer.
Und jetzt
wieder über Dächer guckst!
Stimme (sehr fern): Ja und wieder Ja ..
Stimme wolf [off]:
Die Gedanken, Pole ..
Nur das Tier sagt
Immer
Ja …
Erzähler: Es ist der 5. August 1993. Bis zur Sprengung der Kaserne des Panzerregimentes „Wilhelm Pieck“ verbleiben dreißig Minuten. – Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn, nimmt zwei Schwellen mit einem Schritt. Hart schlägt sein Birkenknüppel auf auf den Schotter zwischen den Schienen.
Birkenknüppel.
Wolf: Seht Ihr
Das Tier
Den Domestik
Der ich bin
Wie er
Durch Sand und Eisen
Durch die befohlne
Wüste
Läuft
Über
Von Panzerketten aufgeschobne
Hügel?
Da!
Da oben steht er!
Unten
Sie!
Seine
Kaserne!
Mit einem Ausguck
Auf den Himmel
Auf die fernen
Horizonte
Seine alte
Buchte:
Heimat!
Birkenknüppel.
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme (sehr fern): Sehen Sie, Herr Doktor, .. Sehn Sie, mit der Natur … das is, wie soll ich doch sagen ..
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme wolf [off murmelt]:
Natur!
Das is Struktur .. !
Sklavenstruktur!
Da kann man gar nichts machen!
Gar nichts!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau. Schweißbrenner im Vordergrund.
Stimme wolf [off murmelt]:
Da läßt sich
Nichts mehr machen!
Schweißbrenner aus. – Stille im Vordergrund. Hinten Hämmern und Schweißen.
Stimme [off schreit]:
He, verrückt, was!
Weg von der Kante!
Du vom Haus fällt!
Stimme wolf [off murmelt]:
Da läßt sich
Nichts mehr machen!
Gar nichts mehr!
Hämmern und Schweißen auf dem Bau.
Stimme: [off- ruft von fern) Ist der verrück??
Laufschritt – näher kommend.
Stimme: ([off]: Was ist mit dem?
Stimme des Polen[off]:
Steht an der Kante.
Guckt ..
Hämmern und Schweißen auf dem Bau. – Stille.
Stimme [off]: Geh langsam hin!
Atmen eines mannes.
Stimme des Polen [off – von ferne]:
Okay.
Hier er ist.
Stille.
Stimme [off]:
Gut.
Führ ihn runter.
Soll dann
Aufhörn hier.
Erzähler: 5. August 1993. Wolf geht auf dem Gleis der Grubenbahn von Schwelle zu Schwelle. Bleibt stehen, schaut in den Kohlendreck und auf das Gras zwischen den Schienen.
Stimme [off off – sehr fern]:
Soll aufhörn hier.
Soll gehen.
Hier sind die Papiere.
Stimme Frau [off]:
Was sitzt du am Tisch den ganzen Tag und redest kein Wort!
Stimme [off off – sehr fern]:
Führ ihn langsam
Die Leiter
Runter.
Stimme Frau [off]:
Hier die Tabletten. Der Tee.
Stimme [off off – sehr fern]:
Steht an der Kante.
Guckt ..
Stimme Frau [off]:
Frank ..?! Die Tabletten?
Wieso nimmst du die Tabletten nicht? – Frank .. ?!
Stimme [off off – sehr fern]:
Steht und
Guckt ..
Stimme Frau [off]: Frank ..!
Erzähler: Wolf steht still im Gleisbett der stillgelegten Weißenhainer Grubenbahn.
Wolf: Ja, so’n Charakter!
So’ne Struktur!
Und so ein
Widerspruchsgeist auch:
Will springen!
Guckt in den Abgrund ..
Und nun?
Was nun?
Erzähler: Er läuft los; läuft mit kleinen, schnellen Schritte von Schwelle zu Schwelle.
Der Birkenknüppel.
Wolf: Irgendwer
– wer ist es? –
Sagt:
Was nicht arbeit’
Soll nicht essen!
Also:
Durchs Haus die Treppe runter!
Auf die Straße!
Zwischen Häuserwänden
Betonierten Winkeln
Auf die Ausfallstraße!
Freies Feld
In Aussicht!
Noch aber
Giebel rechts
Und Giebel links
Erkaltete ..
Erzähler: Der Birkenknüppel vor ihm in der Luft wie eine eine Lanze.
Wolf: Brikettfabrikschornsteine!
Erzähler: Kreisend nun der Birkenknüppel in seiner Hand …
Wolf: Keine Arbeit mehr!
Erzähler: .. kreisend der Knüppel vor ihm, über ihm .. – Er tanzt.
Wolf: Keine Arbeit!
Keine Arbeit!
Erzähler: So läuft er, tanzt er, läßt den Knüppel kreisen. – Auf Höhe der Kleingartenkolonie, „Balstenaue“ verläßt er das Gleisbett um über die Ermlitzer Äcker den östlichen Teil der Leipziger Straße zu erreichen. Hier bleibt er stehen, dreht sich um und schaut zurück zum Sanzeberg.
Ich erreiche den Sanzeberg gegen 11:45 Uhr. Wolf steht in diesem Augenblick unten auf freiem Land, steht wie ein Wanderer und schaut herauf zu uns. Dann läuft er weiter und verschwindet auf unsichtbaren Wegen zwischen den Einfamilienhäusern an der Leipziger Straße. – Auch ich schaue mich um: Das Plateau auf dem Sanzeberg abgesperrt mit Birkenknüppeln, hinter denen sich etliche Ermlitz-Wachauer und Leute aus der Umgebung versammelt haben. Unter einer Birke ein großer Mann im weißen Sommermantel. Geht hin und her zwischen Stativen mit Kameras, die er auf verschiedenen Punkte im Gelände ausrichtet. Eine Frau, auffällig geschminkt, macht ein paar Schritte in Schuhen mit hohen Absätzen, was schwierig ist auf dem lockeren Boden. Zündet sich eine Zigarette an. Vorn an der Absperrung die Enkeltochter der alten Christine Wolf mit dem kleinen Stiwi. Weitere Neugierige kommen. Einen von ihnen kenne ich: Herr Mundt, früher Ingenieur im Kraftwerk Trachau. Er begrüßt zwei Siebzehnjährige, die mit Ferngläsern hinaus in die Landschaft schauen – auf Kaserne und Panzerübungsgelände jenseits der Leipziger Straße.
Erster Jugendlicher: Gucks dir an, lange siehst du das nicht mehr!
Zweiter Jugendlicher: Noch zehn Minuten.
Erster Jugendlicher: Hallo, Onkel Eberhard. Im schwarzen Anzug zur Feier des Tages?
Herr Mundt: Ich bin auf Tour und grad vorbeigekommen. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Erster Jugendlicher: Auf Tour?
Herr Mundt: Das, was Arbeit heute ist, Jungs: Unterwegs sein. Leuten klar machen, was gut für sie ist.
Erster Jugendlicher: Handlungsreisender!
Herr Mundt: Erfaßt, Schlauberger!
Zweiter Jugendlicher: Und womit handeln Sie, Herr Mundt?
Herr Mundt: lacht Bedürfnis nach Sicherheit, Jungs. Das hat Konjunktur. Lebensversicherungen. Und ihr? Schule läuft?
Erster Jugendlicher: Ich bin raus. Mein Kumpel hier hält durch.
Herr Mundt: Soso.
Erster Jugendlicher: Ich bin in einem Geschäft, Onkel Eberhardt. Mit einem Freund.
Herr Mundt: Geschäft? Doch nicht mit dem, was du da rauchst?
Erster Jugendlicher: lacht Neenee, was Reelles.
Herr Mundt: Soso. – Was denn?
Erster Jugendlicher: Wir haben einen Radioladen. – Guck nicht so, Onkel Eberhardt. Das bleibt kein Radioladen. Das wird was anderes.
Herr Mundt: Und was?
Zweiter Jugendlicher: Computer, Laptops. Es wird was mit Laptops.
Zweiter Jugendlicher: Sein Freund und er sind die ersten im Osten!
Herr Mundt: Nana! Wenn ihr die hundertsten wärt, wär das auch schon toll!
Erster Jugendlicher: Wieviel verdienst du, Onkel Eberhardt?
Herr Mundt: Mein lieber Herr Gesangsverein! Hör dir das an!
Erster Jugendlicher: Hey! In zwei Jahren steck ich dich in die Tasche! Meine Branche boomt!
Herr Mundt: Aber nicht du, wenn du das Zeug weiter rauchst!
Erster Jugendlicher: Wegsein ist das Leben!
Herr Mundt: Arbeit ist das Leben, das wirst du bald schon merken!
Erster Jugendlicher: Distanz, verstehst du – da geht alles leicht! Da seh ich, wie ich gehe – während ich doch in dem Augenblick eigentlich nur gehe! Multitasking, Onkel Eberhardt!
Herr Mundt: Multitasking? Haha, vielleicht kann ich von Euch noch was lernen, wie?!
Zweiter Jugendlicher: Neenee, dazu muß man jung sein.
Herr Mundt: Na hör dir das an!
Erzähler: Herr Mundt wendet sich überraschend an mich.
Herr Mundt: Hören Sie das? Diese Jungs!? Das ist die neue Zeit!
Der Erzähler auf dem sanzeberg: Bitte? – Achja. – Sie scheinen ganz gut klarzukommen ..
Herr Mundt: Wir kennen uns irgendwoher?
Der Erzähler auf dem sanzeberg: Ich kenn Sie noch als Ingenieur in Trachau.
Herr Mundt: Trachau? – Ach, der Ingenieur – den kenn ich gar nicht me …
Erster Jugendlicher: ruft Hehehehe! Guckt mal!
Erzähler: Jenseits der Leipziger Straße, zwischen von Panzern zerfahrenen Wegen, im abgesperrten Gelände, Wolf.
Herr Mundt: Ist der verrückt .. ?!
Erster Jugendlicher: Noch acht Minuten bis die Landschaft hier zum Himmel steigt!
Erzähler: Ich wende mich an die Jungs ..
Der Erzähler auf dem sanzeberg: Das Fernglas!
Herr Mundt: Lieber Gott! Man muß was machen!
Der herr im Mantel (schreit von der anderen Seite): Sieht den denn keiner!
Seine begleiterin: Wie schrecklich! Mein Gott!
Zweiter Jugendlicher: Die Bullen! Wo sind die Bullen?
Erster jugendlicher: Da drüben!
Zweiter jugendlicher: Die sehn den nicht!
Der Erzähler auf dem sanzeberg: Hier! Hier! Seht Ihr denn nicht!
Erzähler: Ich springe und rudere mit beiden Armen. Vergeblich. Die Polizeiposten, vor den Gärten an der Leipziger Straße, lehnen, soweit man das erkennen kann, unverändert an ihrem Wagen.
Und da sehe ich mich laufen. Rudernd mit beiden Armen den Sanzeberg hinunter, von Regengüssen ausgewaschene Rinnsale überspringend, stolpernd im Sand, verfolgt von Grasbüscheln, die ich lostrete mit meinen Landungen.
Ich laufe nicht wirklich.
In meiner Geschichte aber – weil das Eingebundensein in den Augenblick, weil der Wunsch nach Aufhebung der Überlegenheit über Wolf: Weil beides mich laufen sehen will – soll es so ein: Ich laufe, im Finale dieser wahren Begebenheit, den Sanzeberg hinab:
Der den sanzeberg hinunterlaufende Erzähler: Herr Wolf! Herr Wolf!
der Erzähler: Ich laufe, überspringe – während Wolf im Dunst dieses Sommertages für Augenblicke verschwindet – den Graben vor der Leipziger Straße; haste über den löchrigen Asphalt, laufe, an den letzten Gärten vorbei, hinaus auf das Übungsgelände, tauche – und erinnere mich an meine Dienstzeit – ab in die Panzerspuren, vor Augen dabei das abschätzige Lächeln eines Gefreiten, als die Rede wieder einmal auf Hauptmann Wolf kam.
Stimme des gefreiten [off]:
Der Wolf? Ein Wiedergänger! Und auf dem Friedhof geboren! – Wieviel, Freunde? Zwanzig? Weg!
Stimme Soldat [off]: Null ouvert! – Nur daß du dienst auf seinem Friedhof, Herr EK!
Stimme des gefreiten [off]: Noch drei Monate, mein Freund! Noch drei Monate! – Was haben wir denn da? Die grüne Neun? Da gehen wir doch drunter, was Sprilli? – Und du, Dichter, was sagst du? Was sagt sein Spezi? Sein Verteidiger?! Du verstehst ihn! Siehst in ihn hinein, wie?
stimme Erzähler [off]: Ich seh hinein, und er sieht heraus. Nur wird es uns nichts nützen.
Stimme Soldat [off]: Was?! Was wird euch nichts nützen? Versteh ich nicht!
Stimme des gefreiten [off]: Laß mal gut sein, Sprilli.
Erzähler: Ich bin hinabgesprungen in eine weitere Panzerfahrrinne, und wenn ich herauskrieche, sehe ich ihn. Wolf geht durchs KdP. Ich stehe, schau mich um. Drüben, bei den Polizeiposten, Bewegung. Vorn Wolf. Hinter ihm die zerbrochene Schranke des Kontrollpunktes, Glasplitter, einsamer Fahnenmast.
Langsam gehe ich weiter. Erreiche den Kontrollpunkt. Wolf, den Rucksack in Händen, steht, mit dem Rücken zu mir, auf der Regimentsstraße.
Ich – in seinem Rücken – bewegungslos:
Wolf und Der erzähler auf dem Kasernen-
gelände:
Wer nicht arbeit’
Soll nicht essen.
Wo
Hin?
Hierher ja.
Hinter alte Zäune
Wo die Zeit
Sich sammelte.
Hierher, ja
Wo Zeit
Sich weiter
Sammelt.
Stillsteht.
Heimat, ja.
Ihr Areal
– aufgebrochen
ausgeweidet:
Alte Hallen! –
Riesig.
Ort, der reglos
Alles löst
Und steht.
Pause.
Der erzähler auf dem Kasernengelände, Allein:
Die Panzerwartungshalle.
Pause.
Der erzähler auf dem Kasernengelände, Allein:
Wir treten ein.
Ein Dach
Gestützt durch letzte Träger
Letzte Winkel
Gibt den Blick frei
Auf die Sonne.
Wir
In ihrem Licht
Unten
Treten an die Wand.
Die Zeit für uns
Steht nicht:
Vergeht!
Und auf dem Boden
Gras.
Wir
Müssen sehen:
Was man auf es warf:
Beton
Sprengt es hinweg
Und lebt.
So
Treten vor wir.
Stehen jetzt
Im Raum.
Bemalt
Um uns
Die Wände
Sprechen:
Stimmen von Jugendlichen.
Stimme: Du auch bist ein Faschist!
Stimme: Bist eine rote Sau!
Stimme: Tötet Nazis, wo ihr sie trefft!
Stimme: Tötet alle Zecken!
Stimme: Mit dem Abschied kommt Erinnerung.
Stimme: Und nicht gelernt das Leben.
Stimme: So lebet wohl.
Stimme: Ficken wäre geil!
Stimme: I did my time!
Stimme: Ich tat es nicht.
Stimme: Wer ist denn ich?
Stimme: Ich bin ich.
Stimme: Ich nicht.
Stimme: Na und! Auf dieser Welt ist Platz für jede andre Welt.
Stimme: Ist Platz für jedes Universum!
Stimme: Haus steht neben Hütte, Villa über Regenwurm.
Stimme: Was kümmert das den Regenwurm?
Stimme: Was kümmert es den Regenwurm, daß Estrich in der Welt ist, ha!
Stimme: Mann, seid ihr blöd!
Stimme: Hauptsache glücklich!
Stimme: Genau! Ich bin als Stino glücklich!
Stimme: Fuck you.
Stimme: Krüppel!
Stimme: Und Rainer liebt Susanne.
Stimme: Der schwule Rainer?!
Stimme: Wer denn ist Susanne?
Stimme: Susanne gibt es nicht.
Stimme: Doch. Ich bin’s! Susanne! Hier, das bin ich!
Stimme: Hier das bin ich! Ich nur will die
Stimme: Fotze Fotze Fotze!
Stimme: Du hast sie immer nur gemalt.
Stimme: An eine Wand!
Stimme: Ha, an Kasernenwände!
Stimme: Es gibt mehr Dinge zwischen Bild und
Bild, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt!
Stimme: This way I did my time.
Stimme: So fick dich.
Stimme: Fickt euch alle!
Stimme: This way only, I did my time, it’s true.
Stimme: Ich auch.
Stimme: Ihr seid mir Helden!
Stimme: Friede unsrer Asche!
Stimme: Sowieso auf dieser Welt ist Platz nur für die Asche!
Stimme: Wie lange noch!
Stimme: Solange Kapital regiert.
Stimme: Und keiner liebt mich!
Stimme: Doch, ich liebe dich: Jeannette aus Ermlitz-Wachau!
Stimme: Wo, Jeanette, liegt denn Ermlitz- Wachau!
Stimme: Ermlitz-Wachau, das ist hier!
Stimme: Wo ist den hier?
Stimme: Hier!
Stimme: Hier bin ich nicht ich.
Stimme: I still did my time.
Stimme: Ich tat es eben nicht!
Stimme: Wer ist denn ich?
Stimme: Ich.
Stimme: Ich nicht.
Stimme: Trotzdem: Mit dem Abschied kommt Erinnerung.
Stimme: Erinnerung.
Stimme: This way I did my time.
Stille.
Martinshorn in der Ferne. Kommt näher. dann sehr nah. – Stille
Finis